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Verstehen lehren - auch im Informatikunterricht!

von Klaus Kohl

Inhaltsübersicht:

Verstehen lehren - auch im Informatikunterricht!

von Klaus Kohl

A. Stand des heutigen Informatikunterrichts

A 1. Situation

Der Computer ist -und sei es "nur" der Taschenrechner - im Besitz der Schule. Die Schule besitzt ihn - oder besitzt er die Schule? Informationstechnische Grundbildung - ITG / NIT - Neue Informationstechnologien - drängen in alle Fächer, der Computer im Schulzimmer soll fächer- und klassenübergreifenden Unterricht fördern, via Internet auf der "Datenautobahn" sogar schul- und länderübergreifenden Unterricht erst richtig möglich machen. Ziel des Informatikunterrichts ist es, so lässt es sich auch aus den verschiedenen Rahmenrichtlinien herauslesen, Einsatzmöglichkeiten der neuen Technik kennenzulernen, auch die Gefahren des Missbrauchs zu erkennen. Kaum aber ist es ein Ziel dieses Unterrichts, etwas über die Funktionsweise dieser Geräte oder die Struktur von auf ihnen laufenden Programmen zu erfahren.

A 2. Wie kam es dazu?

Die Abkehr vom Verständnis der Maschine erscheint notwendig, wenn man sich klar macht, welchen Grad an Komplexität der heutige Personal Computer erreicht hat - und die Entwicklung wird in dieser Richtung weitergehen: Ein moderner Prozessor, also die eigentliche Recheneinheit eines Computers, enthält heutzutage [1] auf seinem Chip so etwa 5 Millionen Transistoren. Ich spreche vom "Pentium"; erinnern Sie sich an das selbstzufriedene, schadenfrohe Mediengetöse über seinen Rechenfehler? Zum Vergleich: ein Monat hat 2,5 Millionen Sekunden. Auch ein genialer Elektroniker braucht länger als eine Sekunde, um die Funktion eines Transistors in einem Schaltplan zu erkennen, doch mag man sich einmal vorstellen, wie dieser Supermann zwei Monate ununterbrochen damit beschäftigt wäre, diesen Schaltplan zu lesen. Ergo: kein einziger Mensch ist mehr in der Lage, einen fertigen Computer in seinen Details zu verstehen. Noch mehr gilt das für die Programme. Hier sind nicht nur Millionen, hier sind -zig Millionen Programmschritte zur Regel geworden. "Auch Bill Gates weiß nicht, wie Windows funktioniert!" Jedenfalls nicht im Detail. Warum also sollen wir uns in der Schule mit den Details des Computers und seiner Programme aufhalten?
Benutzen wir ihn doch lieber! Freuen wir uns, dass es einer menschlichen Gemeinschaft möglich ist, Dinge zu schaffen, zu denen der Einzelne nie in der Lage ist. Das war doch schon bei den Pyramiden so und beim Kölner oder Hildesheimer Dom ist es nicht anders gewesen.

A 3. Was ist daran "falsch"?

Vielleicht ist es ja gar nicht falsch, aber ich finde diese Haltung falsch, vielleicht habe ich da einige Verbündete, ich zitiere einmal zwei Texte, der erste beschäftigt sich ausdrücklich mit dem Computer:
Ernst Schuberth: Erziehung in einer Computergesellschaft, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 1990 S. 294 f.:
"Die Forderung, dass aller Unterricht Lebenskunde geben müsse (Rudolf Steiner), gilt insbesondere auch für ein Gebiet wie die Datentechnik. Dabei darf es nicht zu einer negativen Charakteristik kommen. Negativ ist allenfalls zu bewerten, wenn Menschen die Maschine als Metapher für sich selbst nehmen und dabei etwa das Denken als Prozess maschineller Datenverarbeitung bezeichnen - wie es allerdings weit verbreitet ist. Diese erkenntnistheoretischen Sackgassen haben mit dem, was diese Technik ist und was sie nicht ist, selbst nicht unmittelbar zu tun.
Vielmehr sollte versucht werden, soweit es möglich ist, die technologischen Grundprinzipien der Datentechnik zu durchschauen. Dies bleibt auch für diejenigen Jugendlichen gültig, die in einer Berufsausbildung stehen.
Die bloße Gewöhnung an das Verhalten einer "Black box" muss letztlich als unwürdig empfunden werden und wird sich bis in die Produktion hinein negativ auswirken. ... Bis in kaufmännische und Verwaltungsausbildungen sollte ein Prinzipienverständnis der Computertechnik erfolgen, weil nur so die auftretenden Abläufe wirklich durchschaubar und Fehlerquellen erkennbar werden. So kann der Technik gegenüber eine selbständige Urteilsmöglichkeit entstehen." So weit Ernst Schuberth.
Der andere Autor beschäftigt sich allgemein mit Mathematikunterricht, zu dieser Zeit gab es den Computer noch nicht in der Schule, es ist
Walther Lietzmann: Die Methodik des mathematischen Unterrichts, Quelle & Meyer Heidelberg 1951, S.9:
"Die Entwicklung der Anschauungen über die Ziele des Rechenunterrichtes spiegelt sich in seiner Geschichte wider. Bis ins 17. Jahrhundert hinein betonte der Rechenunterricht fast ausschließlich praktische Zwecke. Dem Schüler wurde beigebracht, wie er rechnen müsste:
"Machs also - und kumpt recht", heißt es im Bamberger Rechenbuch von 1483. Warum so gerechnet wurde, das blieb unbeantwortet. So war das Rechnen damals ein Handwerk, das erlernt wurde wie andere auch, das Unterrichten ein Abrichten, ein Einpauken von Regeln. Eine solche einseitige Betonung des materialen Prinzipes im Rechenunterricht hat vereinzelt bis in das 19. Jahrhundert hinein gedauert.
Man kann wohl sagen - oder doch hoffen -, dass heute diese Art des Rechenunterrichtes ausgestorben ist. Der Umschwung begann im 18. Jahrhundert; entscheidend wurde das Wirken Pestalozzis. Neu war die Absicht, mit dem Rechnen eine Schulung des Geistes zu erzielen. Einsicht in das Gefüge der Rechengesetze erscheint nicht minder wichtig als Kenntnis und Fertigkeit in ihrer Anwendung. Damit wird die Entwicklung der anschaulichen und der logischen Geisteskräfte zu einer Hauptaufgabe des Rechenunterrichts. Man hat nicht selten dieses formalistische Prinzip überspannt, mehr im Klarmachen der Rechengesetze das Ziel des Unterrichts gesehen, als darin, dass der Schüler mit den erlernten Rechenmethoden auch etwas anzufangen versteht. Die Zeit brachte erst allmählich den rechten Ausgleich zwischen formalem und materialem Prinzip; Männer wie Harnisch, Diesterweg und Hentschel sind da zu nennen."
Dieser Text von Walther Lietzmann lässt sich ohne weiteres auf die Situation des Informatikunterrichts übertragen. Bei genauerer Kenntnis kommt man eher zu der Ansicht, dass es hier aber genau umgekehrt gelaufen ist: In der Anfangsphase des Computerunterrichts in den 70er und frühen 80er Jahren, die der Einführung der "modernen" Mathematik in den Schulunterricht folgte, lag das Schwergewicht auf den Themen: "Woraus besteht der Computer" - "Wie wird er programmiert" also einem formalistischen Prinzip. Dann kam der Umschwung - etwa mit dem Einzug der PCs und Macintoshs in die Schulstuben. Nach dem Motto: "Den Kasten versteht sowieso niemand mehr und nen Mac bringt man gar nicht mehr auf!" und mit der verbesserten Alltagstauglichkeit fertiger Programme kam die Sicht, den Computer einfach als "Denkzeug" aufzufassen und sich darauf zu konzentrieren, was man mit ihm machen kann. Bis hin zur Absicht, ihn nur noch als bevorzugtes Unterrichtsmittel einzusetzen, als Unterstützung oder sogar Ersatz für Tafel, Projektor, Versuchsaufbau, 'in hoffentlich nicht allzuferner Zukunft', wie manche fortschrittliche Pädagogen wünschen, auch als Ersatz für Schulbuch und Schreibheft. Speziell der sogenannten Multi-Media-Technik werden da große Möglichkeiten ausgerechnet, ebenso der Nutzung des Internet. Häufiges Argument: "Ein Autofahrer muss heute auch nichts mehr von Automobiltechnik verstehen."
"Machs also - und kumpt recht". Stehen wir also wieder beim Bamberger Rechenbuch? Die Gründe sind klar: Es erscheint derzeit unglaublich schwierig, sich in ein tieferes Verständnis der Computertechnik hineinzuarbeiten. Und das erarbeitete (oberflächliche) Wissen veraltet schneller als die Einarbeitungszeit dauert! Man könnte also resignieren und ich habe den Eindruck, dass die nun propagierte Beschränkung auf die bloße Anwendung eine direkte Folge dieser Resignation ist.

B. Forderungen an einen modernen Technikunterricht

B 1. Das Dilemma der modernen Technik: Leicht zu haben, schwer zu begreifen

Ein uns geläufiges Beispiel aus einem Nachbargebiet: Das Thermometer. Wir kennen es noch, das "richtige" Thermometer, vor 400 Jahren erfunden von Galilei und Torricelli, von vielen verbessert, aber in seiner Funktionsweise unverändert und durchschaubar. Alles dehnt sich beim Erwärmen aus, nach seiner Art verschieden stark. Selbst die Ursache verstehen wir, wenn wir uns das Wärmegewimmel plastisch-drastisch genug vorstellen. Experimente zur Wärmeausdehnung lassen sich leicht im Heimversuch spielend nachholen.
Rätselhaft bleiben dann nur noch das häusliche Fieberthermometer und das Minimum-Maximum-Thermometer, bis man auch das von einem Erwachsenen erklärt bekommt: "Aha".
In meiner Jugend bestaunte ich dann die Bimetallthermometer, die mit dem Zeiger vorne und der Spirale hinter der Skala. Wie geht denn das? Ja, da brauchte ich schon ein Buch, in dem es steht. Denn der Spirale sieht man ihre Struktur nicht an, aber schließlich auch betrachtet, betastet, vorsichtig daran herumgeschoben - aha!
Und heute: Digitalthermometer mit Minimum-Maximum, Innen und Außen, Zehntelgrade anzeigend, mit einem Schiebeschalter wird zwischen Celsius und Fahrenheit hin und hergerechnet: Sowas muss man doch haben, und wenn man Glück hat, gibt's die bei Eduscho für 12 Mark!
Wissen Sie, wie die Dinger funktionieren? Schon mal reingeguckt? Betastet, begriffen, verstanden???
Aber wie funktionieren sie denn, warum? Die Schüler wollen es ja auch wissen, es soll allerdings auch solche geben, die es eigentlich gar nicht wissen wollen, denen es nur eine Bestätigung ihrer Meinung von dem Lehrer und überhaupt ist, dass der es nämlich bestimmt auch nicht weiß. Und wenn der Lehrer es dank seiner speziellen Interessen doch weiß, was sagt er dann?

B 2. Anwendungsorientierter Unterricht als Realität

Er wird wohl besser die Aussage verweigern, weil die richtige Erklärung für den Zuhörer unzumutbar langatmig ausschweifend wäre oder er müsste eine Wischi-waschi-Aussage machen, die außer ein paar neuen Vokabeln nichts zum Verständnis beiträgt. Konstantstromquelle, temperaturabhängiger Widerstand, Analog-Digitalwandler, nematische Flüssigkristalle und elliptisch polarisiertes Licht, das wären ein paar solche Vokabeln. Nein, das nutzt überhaupt nichts.
Also heißt die Antwort: "Lassen wir das beiseite, jetzt benutzen wir dieses Thermometer einfach, um in unserem Experiment die Temperaturen möglichst gut zu bestimmen. Oder wollt Ihr etwa lieber mit dem 'alten' Quecksilberthermometer arbeiten?" Das nennt man eine pragmatische Antwort, so etwas heißt "anwendungsorientiert".
Wie eben die Aussage: "In der Fahrschule lernt man heute ja auch nicht mehr, wie der Vergaser funktioniert." Wozu auch, richtig moderne Autos haben gar keinen Vergaser, sondern eine elektronisch gesteuerte Einspritzpumpe, und wenn die nicht so funktioniert, dass das Auto fährt, dann wird sie eben ausgetauscht, basta. Ist ja billiger als Fehlersuche und Reparatur. Sagt jedenfalls der Mechaniker und schimpft wohl auf die Firma, die solchen Mist geliefert hat. Man bezahlt, nimmt sein Auto in Empfang, fährt wieder weiter und schimpft wohl auf den Mechaniker, der zu blöd war, diese Einspritzautomatik (oder wie hieß das Ding?) einfach zu reparieren.
Überall benutzen wir doch Dinge, bei denen wir glücklich und stolz sind, wenn wir die Bedienungsanleitung verstanden haben und deren Funktionsweise uns rätselhaft bleibt, - was heißt rätselhaft, wir schieben sie als uninteressant beiseite: Hauptsache es funktioniert! Und wenn es nicht mehr funktioniert? Dann kaufen wir ein neues, das alte ist sowieso unmodern geworden.
Müssen wir uns mit dieser Einstellung zur modernen Technik zufriedengeben?
Wollen wir diese Einstellung an unsere Schüler weitergeben?
Mit gutem Gewissen?
Oder resignierend?

B 3. Anwenderorientierter Unterricht als Ziel.

Mein Ziel ist es, bei den Benutzern der Technik Sachkritik und Selbstbewusstsein zu entwickeln, so dass das Wort "Computerbedienung" für die Schüler einen neuen Sinn bekommt: Nicht wir bedienen den Computer - er muss uns bedienen!

Wir sollen die Technik beherrschen, nicht bedienen!


Dieses Bild entstand in einem Informatikkurs.

Aber wie bitteschön, soll das ein Mensch lernen, bei 5 Millionen Transistoren in einem Chip, bei 8000 Seiten Handbuch für ein Programm (Werbespruch: "Nur 49 Mark das Kilo!"). Das alles einzupauken, dafür ist unsere Zeit zu schade. Schon der Versuch ist strafbar.
Bleibt also die Möglichkeit, sich auf das Wesentliche, das Allerwesentlichste zu beschränken. Was aber ist das? Jetzt fangen die Privatmeinungen an, und ich möchte auch die folgenden Ausführungen als meinen Weg verstanden wissen, aber kommen Sie bitte mal ein Stück weit mit!

C. Ein Weg zu einem angemessenen Verständnis des Computers

Eine Antwort gleich vorweg, bevor die Frage gestellt wird: Lehrmittel und Lehrtexte zu dem Weg, den ich skizziere, sind im Handel meines Wissens nicht erhältlich, man ist völlig auf Eigeninitiative angewiesen.

C 1. Mechanische Rechenmaschinen

Am Anfang sollten wir einmal ein Zählwerk aus einem alten Stromzähler oder einem Tachometer in den Händen halten, in die Hände geben, das Spielen und Erkunden ergibt sich hoffentlich von selbst. Richtig spannend, dieser Zehner-Übergang, der auch rückwärts funktioniert. Man sieht das Prinzip, begreift es. Man könnte es jetzt auch bauen. Wir lassen es, schauen weiter, sehen die mechanischen Rechenhilfsmittel vergangener Tage mit anderen, verständnisvolleren Augen, vielleicht sogar mit Respekt. - Nein, nicht den Rechenschieber, der führt uns auf einen falschen Weg, wir wollen beim zählenden, dem "digitalen" Rechnen bleiben.
Aber auch den Abakus lassen wir weg, eigentlich ist er, wie Papier und Bleistift, mehr ein Merkmittel als ein Rechengerät.
Sozusagen zum Abschied vom Begrifflichen nehmen wir noch eben diese digitalen Finger unserer Hände, die rasch beantwortete Frage nach dem Ursprung unseres Dezimalsystems wird zur überraschenden Nachfrage, wenn wir feststellen, dass wir mit unseren beiden Händen in einem Sechsersystem bis 35 bequem zählen könnten, wenn wir es so gewohnt wären. Eine Hand, meinetwegen die rechte, zählt die Einer, die andere die vollen Sechser.
Im Dezimalsystem müssen wir dann schon gestikulieren: "Tr-en-ta cinque!"
Ja, hätten wir alle die Fingergelenkigkeit eines Pianisten, dann könnten wir zu guter Letzt im Zweiersystem mit unseren zehn Fingern sogar bis 1023 zählen.
Zweiersystem ? - "das machen doch die Computer..."

C 2. Das Duale System - was steckt dahinter?

Duales Zählen

Ich habe im Unterricht festgestellt, dass es günstig ist, wenn die Schüler hier noch nicht so intensiv mit dem Dualsystem Bekanntschaft geschlossen haben, noch damit spielen und es nicht als mathematische Last empfinden. Dann sehen sie früher den Einer-, Zweier-, Vierer-Rhythmus, die "Sturheit" also, nach der sich das System entwickelt.

Tabelle der Dualzahlen
0 00000
1 00001
2 00010
3 00011
4 00100
5 00101
6 00110
7 00111
8 01000
9 01001
10 01010
11 01011
12 01100
13 01101
14 01110
15 01111
16 10000
17 10001
usw.

Duales Rechnen

Doch die Beziehung zur Arithmetik muss auch hergestellt werden, die Schüler müssen sehen, wie einfach (und vertraut) die Addition im Zweiersystem ist, 1 und 1 ist weiterhin Zwei, nur wird diese anders geschrieben! Und wie beneidenswert einfach die Multiplikation ist, hinschreiben oder nicht hinschreiben, das ist die Frage, und geschoben wird, wie sonst auch. Das "Kleine Einmaleins" ist wirklich ganz klein: 1 x 1 ist 1, und wenn eine Null drin vorkommt, ist das Resultat Null. Mehr muss sich der Dualschüler nicht merken! Ein paar Beispielaufgaben zur Addition und Multiplikation, wichtig ist die dezimale Kontrolle, dass es "wirklich stimmt". Die Subtraktion und die Division lasse ich aber besser weg, das wird nicht so schnell verstanden, ist etwas für Tüftler.
Da berichte ich lieber von Leibniz, der sich ja auch schon mit dem Dualsystem beschäftigte und dabei hinter das System altchinesischer Zahlzeichen kam.

Duales Denken

Jetzt ist der Hinweis angebracht, dass wir überhaupt gerne 'dual' denken,
links - rechts
hell - dunkel
oben - unten
Freund - Feind
gut - böse
Gott - Teufel
sind solche Begriffspaare, die sich beliebig weiterführen lassen. Tertium non datur, es gibt nichts drittes, die Mitte wird zur Grenzlinie zwischen zwei Alternativen. Es muss nicht so sein, aber an dieser Stelle kultiviere ich dieses Denkschema, wir können es brauchen.

Logisch: Wenn - Dann

Ein weiteres vertrautes Denkschema: Es muss doch alles einen Grund haben, überspitzt gesagt, es muss doch jemand schuld sein, dass dies und jenes passiert ist. Wertefrei wollen wir urteilen: Wenn - dann. Wenn es regnet und ich einen Schirm aufspanne und der Schirm kein Loch hat, dann werde ich nicht nass. Da kann man Umkehrungen bilden und auf ihre Richtigkeit untersuchen, eine schöne Spielwiese.

Zwei Schalter - zwei Lampen...

Nachdem wir uns ausgiebig mit solchen Überlegungen beschäftigt haben, lasse ich diesen Lampen-Schalter-Kasten von den Schülern untersuchen:
Wenn die grüne Lampe links leuchten soll, müssen beide Schalter unten stehen, wenn die rote Lampe rechts leuchten soll, muss ein Schalter oben, der andere unten stehen, welcher unten steht, ist egal. Ich kann auch sagen: Die beiden Schalter müssen verschieden stehen, sie dürfen nicht gleich stehen. Oder mit unseren neu erworbenen Fachausdrücken:
Ich kann das auch in eine Tabelle schreiben, in der alle vier Möglichkeiten der Schalterstellung erscheinen:

Schalter links Schalter rechts grüne Lampe rote Lampe
oben oben dunkel dunkel
oben unten dunkel HELL
unten oben dunkel HELL
unten unten HELL dunkel
Funktion: UND ENTWEDER ODER

Dabei fällt auf, dass wir nicht erreichen können, dass beide Lampen leuchten, das stellen wir aber zurück.
Reinschauen ist auch erlaubt, es lässt erkennen, warum sich der Kasten so verhält. Dass im Haushalt solche Schaltungen auch vorkommen, im Flur die eine, mit Sicherung und Lichtschalter die andere, wir sollten daran erinnern.
Statt unten und oben, hell und dunkel können wir auch 'abstrakte' Symbolzeichen verwenden, zum Beispiel Strich und Kreis. Dann wird die Tabelle handlicher, auch die Schalter bezeichne ich mit den Buchstaben A und B, die Lampen mit D und E:

A B D E
O O O O
O I O I
I O O I
I I I O

Die Absicht ist klar (Kreis und Strich ähneln den Ziffersymbolen 0 und 1), aber es ist wirklich egal, wie ich es schreibe, es müssen nur zwei unterscheidbare Zeichen sein.

... ein Rechner?


Und plötzlich klappt das Bild um, wie diese Grafik von E. Boring, man sieht:
Der Kasten zeigt uns in Binärschreibweise an, wieviele Schalterhebel unten stehen! Das Ding kann ja bis zwei zählen!

A + B = D E
O + O = O O Null...
O + 1 = O 1 Eins...
1 + O = O 1 Eins...
1 + 1 = 1 O Zwei!


Wirklich? Addiert es?

Nein, wir haben im zwar gesetzmäßigen, aber sinnleeren Leuchten der Lämpchen unser erlerntes Rechnen wiedergefunden, jetzt können wir eine Absicht hineinlegen, ihm unsere Absichten in die Schuhe schieben, es tut so, wie wir es wollen, aber es tut so als ob.

Wenn wir nicht rechnen würden, der Kasten könnte es auch nicht!

Es ist unbedingt nötig, sich das klar zu machen.

Viele Schüler glauben doch, die richtigen Ergebnisse jeder Rechnung seien irgendwie im Rechner gespeichert, er "weiß das eben" oder zumindest er "kann das eben". Ganz Kluge sagen: "Das macht der Chip".
Die Addition von zwei Dualziffern kann ich also als eine reine Wenn-Dann-Entscheidung ohne mathematische Kenntnisse auffassen, und im Falle des elektronischen Rechners ist es eine elektrische: wenn Leitung 1 Spannung hat (die Schüler sagen "Saft") und Leitung 2 Spannung hat, dann...


Aber was ist das schon, der Kasten kann ja nicht einmal bis drei zählen! Wie müsste in einer Tabelle aussehen, was er dann tut?
Schalter links Schalter Mitte Schalter rechts grüne Lampe rote Lampe A + B + C = D E und wir
denken
oben oben oben dunkel dunkel 0 + 0 + 0 = 0 0 "null"
oben oben unten dunkel HELL 0 + 0 + 1 = 0 1 "eins"
oben unten oben dunkel HELL 0 + 1 + 0 = 0 1 "eins"
oben unten unten HELL dunkel 0 + 1 + 1 = 1 0 "zwei"
unten oben oben dunkel HELL 1 + 0 + 0 = 0 1 "eins"
unten oben unten HELL dunkel 1 + 0 + 1 = 1 0 "zwei"
unten unten oben HELL dunkel 1 + 1 + 0 = 1 0 "zwei"
unten unten unten HELL HELL 1 + 1 + 1 = 1 1 "drei"

Und wie müsste er beschaffen sein, um das zu können?

Nein, das sieht sehr kompliziert aus und ist mit den einfachen Kippschaltern auch nicht mehr zu machen. Da braucht man schon ganze "Schalterpakete". Die Mechanik wird unübersichtlich. Wenn wir das Verhalten des Computers allen erklären und nicht Fachleute ausbilden wollen, ist es gut, sich hier nicht mehr in Details zu verlieren (es sei denn, die Schüler wollen es unbedingt erfahren und der Lehrer hat viel Zeit).
Ein Übergang ist angesagt. In der Praxis und in der Darstellung.

Übergang zu elektronischen Bauelementen

In der Praxis der Übergang zu "Miniaturschaltern", dazu mit elektrischem Antrieb, nicht mit mechanischem Hebel, der Relais-Schalter mag als Zwischenstufe herhalten, er war es auch historisch (bei Zuse und bei Aiken vor über 50 Jahren). Heute sind es Transistoren.
Aber ich verzichte darauf, den Transistorschalter zu erklären, ich führe ihn nur vor, zeige, dass er Strom von C nach E leiten kann, wenn gleichzeitig ein bisschen Strom von B nach E fließt. Ich zeige ihn auch unterm Mikroskop, lasse deutlich werden, dass da nichts zu sehen ist. Hier also beschränke ich mich tatsächlich auf die Black-Box, pn-Übergänge bleiben "normalen" Kindern doch unbegreiflich. Ich kenne da auch noch kein gutes Modell, das die Gründe erklärt. Nebenbei: in Computerschaltkreisen werden sie auch kaum mehr verwendet, Feldeffekttransistoren arbeiten anders, trotz ihres wilden Namens ist ihre Funktion etwas verständlicher, sie haben aber den Weg in die Schulbücher noch gar nicht gefunden. Aus solchen Transistoren werden sogenannte Gatter zusammengesetzt. Sie wirken wie die Kombinationen von Schaltern, nur werden nicht mehr Hebel umgelegt sondern elektrische Spannung an ihre Eingangsanschlüsse gelegt. Ihre Bauweise bestimmt, unter welchen Eingangsbedingungen eine elektrische Spannung am Ausgang herrscht, so wie bei den Lampenkästen die Frage ob Strom fließt oder nicht, von der Verbindungsart der Schalter und der Stellung ihrer Hebel abhängt. Schließlich verfolge ich die Miniaturisierung zum integrierten Schaltkreis. Sie ist nachvollziehbar bei der Herstellung einer gedruckten Schaltung im Praktikum, mit einem Ausblick auf die heutigen Möglichkeiten, submikroskopisch feine Strukturen herzustellen.

Übergang zum Gattersymbol

Auch in der Darstellung geschieht der Übergang vom Schalter zum Gatter.

Sein Symbol bildet nicht mehr den Vorgang nach, wie das Schaltersymbol (so eine Art Hieroglyphe) sondern ist eine leere Hülse, die erst durch die Definition Inhalt und Bedeutung erhält, so wie wir unseren lateinischen Buchstaben auch nicht ansehen, wie sie auszusprechen sind. Hier sind fünf wichtige Typen dargestellt, eine Sonderrolle spielt der "Inverter", der Geist, der stets verneint, alles herumdreht, als Ergebnis immer das Gegenteil von dem liefert, was an seinem (einzigen) Eingang hereinkommt.
Das Gattersymbol steht also nur noch für das, was es macht, nicht mehr wie es das macht.
Aber wir haben gesehen, wie es in den Grundzügen geht.
Und wir haben beim Addierer gesehen, wie wichtig es ist, denselben Vorgang mal so, mal so zu sehen.
Den Addierer können wir übrigens aus einem Und-Gatter und einem Entweder-Oder-Gatter zusammengesetzt denken.
Hier brauchen wir einen soliden Bestand an Experimentiermaterial, sonst wird es staubtrocken und übersichtlich soll die Sache auch noch bleiben. Aber mit Invertern, Und, Oder, Entweder-Oder und ihren Verneinungen lässt sich gut spielen.
Die Frage muss gestellt werden, wieviele Gattertypen es eigentlich geben kann, mit zwei Eingängen. Die logische Antwort verblüfft auch den, der sie findet. Und dann die erstaunliche Tatsache, dass sich jede dieser 16 Gatterfunktionen aus z.B. Oder-Gattern und Invertern nachbilden lässt.

Kombinierte Logik

Denn wenn ich das Oder nachträglich verneine, erhalte ich ein Weder-Noch. Und wenn ich vorher Nein sage? Ist das dasselbe?
Ein uns geläufiger Satz aus der konventionellen Kindererziehung: "Wenn du beim Essen redest oder kleckerst, dann bekommst du keinen Nachtisch und du musst gleich ins Bett."
Wenn du beim Essen nicht redest oder nicht kleckerst... dann sagt das bis dahin schweigsame verkleckerte kluge Kind am Ende der Hauptmahlzeit: "Ich will aber meinen Pudding, ich hab doch gar nicht geredet!" nein das ist es nicht, das nächste Mal muss es wohl heißen: Wenn du beim Essen nicht redest und nicht kleckerst, dann bekommst du deinen Nachtisch.
Eben: Wenn du beim Essen weder redest noch kleckerst, dann bekommst du deinen Pudding und musst nicht gleich ins Bett.
Also: Wenn nicht A und nicht B dann... ist dasselbe wie wenn A oder B dann nicht... eben weder A noch B.

C 3. Ansichtssache - Entweder-oder - Oder?

Und jetzt noch einmal zurück zum Entweder-Oder-Gatter - Exklusiv-Oder heißt es auch.
Wie verhält es sich doch?

Wichtig ist an dieser Stelle, dass ich kein neues Bauteil erfunden habe, sondern eine schon bekannte Tatsache in wieder anderer Betrachtungsweise neuen Zwecken zuführe.
Solche steuerbaren Inverter, also Entweder-Oder-Schaltungen im Umfeld eines Gatters,
diese Baugruppe verliert ihre konstruktionsbedingte Starrheit - wir bekommen ein "Universalgatter", dem wir durch zwei elektrische Steuerbefehle mitteilen, wie es die Datensignale zu verarbeiten hat: Oder / Weder-Noch / Nicht-Und / Und.

C 4. Mikroprozessor - ach so!

An dieser Stelle tut sich das Tor auf zum Verständnis des Computers als Universalmaschine. Tatsächlich ist das Prinzip des steuerbaren Inverters die Grundlage der Mikroprozessoren. Und deshalb kann ich mit ein und demselben Computer nach dem Laden des jeweiligen Steuerprogramms die unterschiedlichsten Dinge tun, ohne dass an der Konstruktion etwas geändert werden muss.

D. Ausblick und Schluss

Ich habe Sie gebeten, mir ein Stück weit auf meinem Weg zum Computerverständnis zu folgen. Sie haben hoffentlich den Eindruck, dass er kein Irrweg ist. Sie werden auch gemerkt haben, was es zu dieser Wanderung braucht, dass sie ein Genuss wird: In erster Linie Spass daran haben, "um die Ecke zu denken", mal die Dinge von einer anderen als der gewohnten Seite zu anzusehen und festzustellen, dass vielleicht die bisher unbeachtete Rückseite ungeahnte Perspektiven eröffnet. Das Beispiel des entweder-oder zeigt das besonders deutlich, und ich meine, diese Art des positiv-kritischen Denkens sollten wir pflegen.
Wir bleiben hier stehen und schauen, was es noch gibt: Die Möglichkeit mit diesen kleinen Schaltelementen Speicher zu bauen, die wir dann so zusammenstellen können, dass Zählwerke entstehen, die so anzeigen wie das, was wir am Anfang in den Händen hielten und begriffen hatten. Aus Prozessor und Zubehör werden Computer. Aus gespeicherten Steuerbefehlen werden Programme. -
Wir gehen jetzt wieder zurück: Prozessor - Universalgatter - steuerbarer Inverter, das war doch das Entweder-Oder, das wir schon beim Addierer hatten, diese Treppenhaus-Lichtschaltung, die so tat, als könne sie zählen.
Wir kommen wieder bei der alten Frau vorbei, dieser Zauberkünstlerin, die wir fragen können, was jetzt die Realität ist. Die junge Dame wendet sich ab, gibt uns keine Antwort.
Weiter zurück zu den Rechenmaschinen.
Der Abakus, den ich so links liegen ließ, schaut mich etwas hämisch an: "Ich sei, hast du am Anfang deines Unterrichts gesagt, nur ein Merkmittel, wie Papier und Bleistift. Meinst du nicht, ein Computer ist auch nicht viel besser? Denken musst du ja doch selber!" Er hat wohl recht, dieser fernöstliche Weise...
Und dann stehen wir an der lärmenden Datenautobahn, setzen uns vor unseren Computer und starten. Etwas nachdenklicher?

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Der Text entspricht weitgehend einem Vortrag, gehalten an der Universität Hildesheim am 6. November 1996 anlässlich des 100. Geburtstags von Martin Wagenschein. Veröffentlicht in "Der Vorrang des Verstehens - Beiträge zur Pädagogik Martin Wagenscheins" (Klinkhardt)

[1] Der technische Fortschritt ging inzwischen weiter, im Jahre 2001 -nur fünf Jahre später- braucht das Betriebssystem(!) "Windows XP" über 1 Milliarde Programmzeichen, schon werden Prozessoren mit mehreren 100 Millionen Transistoren konstruiert, diese Entwicklung steigert sich fast exponentiell, aber am Prinzip hat sich seit über fünfzig Jahren nichts geändert.
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