Die Erdmessung des Eratosthenes

und des Poseidonios

berichtet von Kleomedes


Über die Größe der Erde haben die Physiker oder Naturphilosophen verschiedene Meinungen, aber die des Poseidonios und Eratosthenes sind den übrigen vorzuziehen, letzterer zeigt die Größe der Erde durch eine geometrische Methode; die Methode des Poseidonios ist einfacher. Beide setzen gewisse Hypothesen voraus und kommen durch aus diesen folgende Schlüsse zu ihren Demonstrationen ...

Die Methode des Eratosthenes beruht auf geometrischen Beweisen und macht den Eindruck, dass man ihr etwas schwer folgen könne. Aber seine Darstellung wird klar werden, wenn wir folgendes vorausschicken

Wir nehmen an: Jeder, der diese Dinge verstanden hat, wird keine Schwierigkeit haben, die Methode des Eratosthenes zu verstehen, die die folgende ist:

Syene und Alexandria liegen, wie gesagt, unter demselben Meridiane. Da Himmelsmeridiane die größten Kreise des Himmels sind, so sind die Erdkreise, die unter ihnen liegen, notwendigerweise auch größte Kreise. Also, welche Größe auch immer der Erdmeridian, der durch Syene und Alexandria geht, haben mag in dieser Berechnung, so groß ist auch der Erdumfang. Nun nimmt Eratosthenes an, und dies ist richtig, dass Syene unter dem Wendekreis des Sommers liegt. Wenn also die Sonne im Zeichen des Krebses zur Zeit der Sommersonnenwende genau in der Mitte des Himmels steht, so wird die Spitze des Weisers der Sonnenuhr keinen Schatten werfen, da die Sonne genau über ihm steht. Es wird berichtet, dass dies für einen Durchmesser von 300 Stadien zutreffe. Zu derselben Zeit aber wirft in Alexandria die Spitze des Gnomons einen Schatten, weil Alexandria nördlich von Syene liegt. Die beiden Städte liegen unter demselben Meridian. Wenn man also einen Bogen von der Spitze des Schattens nach der Basis des Gnomons in Alexandria zieht, so wird dieser Bogen ein Segment des größten Kreises in der Sonnenuhr sein, da die Kugel der Uhr unter dem größten Kreis-Meridian liegt. Wenn wir nun gerade Linien annehmen, die von jeder der Spitzen durch die Erde gehen, so werden sie sich im Erdmittelpunkt treffen. Da nun die Sonnenuhr in Syene senkrecht unter der Sonne steht, so wird, wenn man eine Gerade annimmt, die von der Sonne zur Spitze des Gnomons geht, diese Linie von der Sonne bis zum Erdmittelpunkt mit dem Erdradius zusammenfallen. Wenn wir eine andere gerade Linie annehmen, die von dem Ende des Schattens durch die Spitze selbst nach der Sonne geht, so werden diese und die vorhergenannte gerade Linie parallel sein, da sie Gerade sind, die von verschiedenen Teilen der Sonne nach verschiedenen Punkten der Erde gehen. An diese geraden Linien, die parallel sind, trifft die Gerade, die vom Erdmittelpunkt zur Spitze des Gnomons in Alexandria gezogen wird, so, dass die Wechselwinkel, die sie bildet, gleich sind. Einer dieser Winkel liegt am Erdmittelpunkt und zwar zwischen den Geraden, die von den Sonnenuhren nach dem Erdmittelpunkt gehen. Der andere Winkel in Alexandria liegt am Punkte des Schnittes der Spitze und der Geraden, die man von dem Ende ihres Schattens nach der Sonne durch die Spitze selbst zieht. Nun, über letzterem liegt der Bogen, der von dem Endpunkt des Schattens bis zur Basis des Gnomons geht, während über dem Winkel am Erdmittelpunkt der Bogen von Alexandria nach Syene liegt. Beide Bögen sind ähnlich, da sie gleichen Zentriwinkeln gegenüber stehen. Welches Verhältnis also der Bogen in der Kugel der Sonnenuhr zu seinem Kreise hat, dasselbe Verhältnis zeigt der Bogen von Alexandria nach Syene zu seinem eigenen Kreise, dem Umfang der Erde. Der Bogen in der Halbkugel der Sonnenuhr wurde als 1/50 seines Kreises gefunden. Also muss der Abstand von Syene nach Alexandria notwendiger Weise 1/50 des größten Kreises des Erdumfanges betragen. Diese genannte Entfernung beträgt 5000 Stadien; also misst der größte Kreis 250 000 Stadien.
- Dies ist die Methode des Eratosthenes.

Kleomedes, de motu circulari corporum coelestium, I, 10,50. Übersetzung von Heinrich Balss
(Typographische Hervorhebungen von K. Kohl)


[Poseidonios sagt,] dass Rhodos und Alexandria auf demselben Meridian liegen. Meridiankreise sind Kreise, die durch die Pole des Universums und durch den Punkt über dem Scheitel einer Person, die auf der Erde steht, gezogen werden. Die Pole sind für alle Kreise dieselben, aber der senkrechte Punkt ist für die verschiedenen Personen verschieden. Daher können wir eine unendliche Zahl von Meridiankreisen ziehen. Rhodos und Alexandria liegen unter demselben Meridiankreis und man nimmt an, dass der Abstand beider Städte 5000 Stadien betrage. Nehmen wir dies als richtig an.
Alle Meridiankreise gehören zu den größten Kreisen, die das Himmelsgewölbe in zwei gleiche Teile teilen und durch die Pole gezogen werden. Mit diesen Hypothesen geht Poseidonios so vor, dass er den Tierkreis, der den Meridiankreisen gleich ist, weil er ebenfalls das Universum in zwei gleiche Teile teilt, in 48 gleiche Teile teilt, indem also jeden von den 12 Teilen desselben in 4 gleiche Teile teilt. Wenn man also den Meridiankreis durch Rhodos und Alexandria in dieselbe Zahl von Teilen, also in 48, wie den Tierkreis teilt, so sind seine Segmente gleich den ebengenannten Segmenten des Tierkreises. Denn wenn gleiche Größen in gleichen Teilen geteilt werden, so werden die Teile der geteilten Größen einander beziehungsweise gleich sein. Poseidonios stellt des weiteren fest, dass der sehr helle Stern, den man Canopus nennt, im Süden praktisch am Steuer der Argo liegt. Dieser Stern wird in Griechenland überhaupt nicht gesehen; daher erwähnt ihn auch Aratos in seinen "Phänomena" nicht. Aber wenn man von Norden nach Süden geht, so wird er zuerst bei Rhodos sichtbar, wo er, wenn er am Horizont sichtbar wird, sofort wieder untergeht, wenn sich das Universum weiter dreht. Wenn wir aber die 5000 Stadien nach Alexandria gesegelt sind, so ist dieser Stern, wenn er genau in der Mitte des Himmels steht, ein Viertel eines Tierkreiszeichens über den Horizont erhoben, d.h. dass das Segment desselben Meridiankreises, der über der Entfernungslinie von Rhodos und Alexandria liegt, 1/48 des genannten Kreises beträgt, weil die Entfernung des Horizonts von Rhodos von dem von Alexandria gerade 1/48 des Tierkreises beträgt. Da also die Erdstrecke unter diesem Segment auf 5000 Stadien geschätzt wird, so messen die Teile unter den anderen Segmenten ebenfalls je 5000 Stadien. Und so wird der größte Kreis der Erde auf 240 000 Stadien ermittelt, wenn man annimmt, dass die Entfernung von Rhodos nach Alexandria 5000 Stadien beträgt; Falls diese Zahl nicht genau ist, so bleiben doch die Verhältnisse dieselben. Dies ist also die Methode, mit der Poseidonios die Größe der Erde ermittelt.

Kleomedes, de motu circulari corporum coelestium, I, 10,50. Übersetzung von Heinrich Balss


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Kleomedes lebte wahrscheinlich in der zweiten Hälfte des 2. Jhrdts. n. Chr.; wir besitzen von ihm ein Kompendium der Astronomie (kyklikes theorias meteoron biblia duo) in zwei Büchern (ins Deutsche übersetzt von A. Czwalina, in Ostwalds Klassikern der exakten Naturwissenschaften Nr. 220, Leipzig 1927). Seine Quelle ist Poseidonios, peri meteoron (Balss)

Quelle: Heinrich Balss - Antike Astronomie, Tusculum-Reihe griechisch/lateinisch - deutsch. Heimeran-Verlag München, 1949 S. 130-137, 146-149, 300



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