Vorwort


Anmerkung des Archivs: In eckigen Klammern stehen die Bibliografie-Nummern der von Wagenschein erwähnten Stellen. Sie könnnen aus dem Text heraus direkt angewählt werden.

Verstehen des Verstehbaren ist ein Menschenrecht (S. 419 [150]).


Der Wunsch, meine in Zeitschriften und Schriftenreihen verstreuten und zum Teil schwer zugänglichen Aufsätze beieinander zu haben, erreicht mich aus zwei Richtungen: Einmal kommt er von Vertretern der Pädagogik und von Lehrern verschiedener Fachrichtungen und Schularten, die am Exemplarischen (paradigmatischen) Prinzip Anteil nehmen. Eine zweite Gruppe bilden Lehrer der exakten Wissenschaften aller Schularten, die um die Bildungsfunktion ihres Unterrichts bemüht sind. Diese beiden Komplexe sind innerhalb meiner Arbeiten verschmolzen, da ich aus der Praxis des mathematisch-physikalischen Unterrichts herkomme, und es mich von da aus ins allgemein Didaktische und Pädagogische zog. Spranger, auch er in dem Wunsch nach einem solchen Sammelband, sagte mir einmal: "Das hat doch alles einen tieferen Zusammenhang." Er dachte dabei wohl an Aufzeichnungen, die beim ersten Blick als sehr verschiedenartig erscheinen können (wie, etwa, die Beiträge 17 [76] und 58 [138] ). Diesen Zusammenhang, ohne dass ich mir seiner bisher immer bewusst sein musste, glaube ich jetzt, wo ich das Ganze neu überblicke, ungefähr zu erkennen, und denke, es kann dem Leser von Nutzen sein, wenn ich ihn anzudeuten versuche.
Als letzten Beweggrund vermute ich den Zwiespalt zwischen ursprünglicher Naturnähe und einer starken Faszination durch Physik und Mathematik, und - als Folge - eine tiefsitzende Unruhe angesichts der immer offenbarer werdenden Spaltung, die von der Naturwissenschaft im Naturverhältnis des modernen Menschen angerichtet und in den Schulen schon früh angelegt wird. Das Bemühen, diesen Bruch in einem erziehenden Unterricht zu überwinden, ja zu vermeiden, bestimmt wohl den pädagogischen Grundton des Ganzen. (Er tritt schon im ersten Beitrag hervor.) Die kritische Note kommt aus dem Eindruck, den das öffentliche Schulwesen mir machte: sein naturwissenschaftlicher Unterricht, so schien es mir und so scheint es mir auch heute, heilt diesen Bruch nicht, da es ihn nicht sieht; ja eher verschärft es ihn. Ich musste also versuchen, in der Praxis - (ich kannte anfangs fast nur sie; ein pädagogisches Studium hatte es ernstlich nicht gegeben, und die Referendarausbildung drängte mich auf die Suche nach ganz anderem; es fand sich in einer ungewöhnlich günstigen Praxis und Lehre: der Odenwaldschule Paul Geheebs, einem der lebendigsten Brennpunkte der Pädagogik der "Zwanziger Jahre") -, in dieser Praxis so zu unterrichten, dass jener Bruch nicht entstand. Das wird dem Lehrer erreichbar, wenn er eingesehen hat, dass das kindliche Nachdenken über die Natur nicht im Gegensatz steht zur exakten Naturforschung, ja dass es zu ihr hinstrebt; und wenn er weiß und bewusst macht, dass Physik keine Wesenserkenntnis der Natur ist, dass sie vielmehr einen zwar ermächtigenden, aber beschränkenden Aspekt der Natur entwickelt. Damit musste sich ein genetisches Verfahren empfehlen. Was dazu für einen Anfänger gehört, fand ich in dieser Schulgemeinschaft: Muße und Intensität, Spontaneität und Kontinuität, "Stoff"-Beschränkung und, als organisatorische Voraussetzung: eine gewisse Wahlfreiheit des Kindes und Epochenunterricht. Am wichtigsten waren wohl zwei Erfahrungen. Die eine: Kinder wollen lernen; und wo es anders aussieht, da ist in den meisten Fällen der Schulunterricht die Ursache; die zweite: Vertrauen, gegenseitiges zwischen Lehrer und Schüler, und ebenso das Vertrauen des Kindes zur Sache und zu sich selbst, ist die notwendige Basis nicht nur der Erziehung (im engeren Sinne), sondern auch dessen, was wie reiner Unterricht der Physik oder der Mathematik aussieht. (Als Lehrer der öffentlichen Schule kann man dahin kommen, das nicht mehr zu wissen.) Im Grunde sind es gemeinsame Überzeugungen der führenden Pädagogen des Jahrhundertanfangs und der zwanziger Jahre, und zwar solche, von denen ich glaube, dass sie zwar vorübergehend vergessen sein können, aber unverlierbar bleiben werden. Jedenfalls zeigte mir die nachfolgende, lange Praxis in der öffentlichen Schule, dass es sich hier nicht um Einsichten und Verfahren handelt, die auf Landerziehungsheime und ebensowenig auf die zwanziger Jahre beschränkt bleiben müssten. Ihre Bewahrung in einer allmählich zu erneuernden öffentlichen Schule scheint mir notwendig, schwierig und möglich. - Nur die ersten vier Beiträge sind noch in der Odenwaldschule geschrieben; alle anderen aus der öffentlichen Schule in dem Bestreben, ihren Wirkungsgrad zu erhöhen und die Hindernisse freizulegen, die im Wege stehen. Diese Aufzeichnungen wurden vielfach ausgelöst durch die Mitarbeit bei Schulreform-Gremien, Lehrerbildungs-Tagungen und pädagogischen Kongressen. Den tragenden Grund bildet immer, was ich im Unterricht an Kindern lernte und, seit 1950 zunehmend, im Gespräch mit Studenten im Rahmen der Lehrerbildung an der Pädagogischen Hochschule, der Technischen Hochschule und der Universität.
Wichtig wurde das bekannt gewordene "Tübinger Gespräch" [102] von 1951 und einige folgenreiche Formulierungen zum Exemplarischen Prinzip. Dieses wurde nun freilich auch Mode (nicht ganz zur Freude derer, die um seine Belebung bemüht waren), und damit konnten Missverständnisse nicht ausbleiben. Bei meinen eigenen Arbeiten wesentlich auch deshalb, weil sie so verstreut erschienen. Daher der Wunsch nach ihrer Zusammenstellung. Ich folge diesen Anregungen in der Hoffnung, das was gemeint ist, deutlicher zu machen durch die Freilegung aller Zusammenhänge, in denen es für mich Überzeugung wurde.
Bei der Vorbereitung dieses Buches zeigte sich nun, dass wegen jenes tieferen Zusammenhanges nur weniges wegbleiben durfte, und dass er wohl am besten zu spüren sei, wenn die Arbeiten in der Reihenfolge angeordnet werden, in welcher sie entstanden sind. (Sie ist nicht immer zugleich die der Veröffentlichung.) Auch die lustigen (wie 6 [72], 20 [80], 29 [94] ) stehen nicht nur zur Auflockerung da; sie können manches verständlich machen, was sich explizit nur schwer aussprechen ließe. - Die zeitliche Reihenfolge hat auch den Vorzug, dass sie kleinere Widersprüche ohne ausdrückliche Korrektur als Entwicklungsstufen erkennen lässt. - Ein zweites Inhaltsverzeichnis, nach Themengruppen geordnet, soll die Übersicht erleichtern. Das Buch ist dabei nun freilich sehr in eine, wie ich hoffe nicht anspruchsvoll wirkende, Breite gegangen. Sie scheint mir gerechtfertigt durch die bemerkenswerten Schwierigkeiten der Verständigung, die das Thema aufwirft. Wer Gespräche über das Exemplarische Prinzip geführt hat, kennt sie. Und wenn ich auch meine Konzeption des Exemplarischen nicht als maßgebend hinstelle (das ist schon wegen ihrer Beheimatung in den exakten Wissenschaften nicht angebracht), so fühle ich doch die Pflicht, sie so deutlich zu machen, wie es mir möglich ist. In einem einzelnen Aufsatz allein ist mir das wohl nie gelungen. Erst die Zusammenstellung könnte es vielleicht leisten. Deshalb habe ich auch Wiederholungen und Variationen nicht gescheut.
Auch der zweite Komplex, der sich, wenn man will, herauslösen lässt, die Bildungsfunktion der exakten Wissenschaften, führt in der Diskussion fast immer zu mühsamen Missverständnissen, verursacht durch die, historisch bedingte und (von seltenen Ausnahmen abgesehen) noch immer klaffende, Beziehungslosigkeit zwischen den Pädagogen und solchen, die durch exakt-wissenschaftliche Studien geformt sind. Sie ist so groß, dass man nur mit Sorge daran denken kann, wie unvorbereitet die innere Welt unserer Kinder in das nun ernstlich kommende Zeitalter der Naturwissenschaft und der Technik hineingetragen wird. - Es ist gut möglich, dass die Zukunft der allgemein-bildenden Schulen gerade davon abhängen wird, wie sie sich zu den Naturwissenschaften stellen. Die beiden Motive, sie zu lehren, bestehen seit langem: die Vermittlung notwendigen Tatsachenwissens und jenes andere, wovon feierlich verklingende Präambeln in den Bildungsplänen schon seit langem träumen, jener "Bildungswert", der doch mit Tugenden wie Beobachtungsfähigkeit, logischem Denken, exakter Ausdrucksweise und so fort, zu eng und zu isoliert gefasst erscheint, als dass wir zufrieden sein dürften, zumal wenn wir auf unsere Erfolge blicken. Was sich in diesem Buch findet, sind Versuche, aus eingetrockneten Fahrrinnen ein wenig herauszukommen. Das ist wohl um so mehr nötig, als heute Mathematik und Naturwissenschaft offenkundig so notwendig für unser materielles Weiterleben geworden sind, dass die Versuchung groß ist, sie als "Produktionsfaktoren" zu sehen (was sie wirklich auch sind), aber als sonst nichts. Die folgenden Schriften möchten sichtbar machen, dass vom Verstehen dessen, was sie außerdem sind, unser inneres Weiterleben als Menschen abhängen wird. Zu diesem Verstehen gehört es, dass wir diese zur Zeit machtvollste Ausprägung des menschlichen Ingeniums in ihrer (um mit Simone Weil zu reden:) "Einwurzelung" begreifen. Die Bemerkung (deren Autor ich nicht mehr weiß), dass der Mensch im Begriff sei, sich eine Welt zu schaffen, in der er nicht mehr heimisch sein kann, die Drohung dieses Satzes, wird nur dann nicht abzuwenden sein, wenn wir dulden, dass diese zweite Welt und zweite Natur sich ablöst von den zwar dunkleren, aber offeneren Erfahrungen ihrer Herkunft. Diese Herkunft begegnet uns zweifach: in den Zeugnissen der Geistesgeschichte und in den Gedanken der Kinder. Was wir brauchen ist nicht etwa die Rückkehr zu den Ursprüngen (sie ist ohnehin nicht möglich), sondern ihr Nicht-Vergessen, ihr "Verwandelt Bewahren" (Spranger). Mit anderen Worten: das hellste Bewusstsein von dem zugleich eröffnenden wie verengenden, dem bemächtigenden wie lähmenden Wesen der exakten Naturwissenschaften. - Ihr Zeitalter muss nicht barbarisch werden. Aber dazu wird es nötig sein, zu begreifen, dass nicht nur Mathematik, nicht nur die Naturwissenschaft, Produktionsfaktoren genannt werden dürfen, sondern auch Pädagogik. Und zwar die richtige, die wir für morgen suchen. Denn anders als die exakten Wissenschaften (die stets "richtig" sind, und nur richtig zu sein brauchen, weil sie sich so klug und so gefährlich beschränken), anders als die exakten Wissenschaften wird ihre Unterrichtskunst (auf der Basis der Erziehungswissenschaft, aber über sie hinaus) immer eine Sache der Entscheidung und der Gnade sein.
Einzelne Beiträge lassen erkennen, wie vielen ich Dank schulde für Anregung und Schutz. Mit besonderer Dankbarkeit möchte ich Otto Friedrich Bollnow nennen. Nach einer kurzen gemeinsamen Zeit in der Odenwaldschule hat er nicht aufgehört, mich in meiner Richtung zu bestärken und damit das Interesse der Pädagogen an den exakten Wissenschaften aus ihrer traditionellen Reserve zu locken. Ich wäre glücklich, wenn es mir auch gelänge, die Lehrenden der exakten Wissenschaften Zutrauen zur Pädagogik gewinnen zu lassen.
Der Ernst Klett Verlag hat sich dieses Buches in großzügiger Weise angenommen, und seinen Lektoren gilt mein herzlicher Dank für verständnisvolle Hilfe und Sorgfalt.
Darmstadt, im Frühjahr 1965
Martin Wagenschein