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Der hohe Gast.

von Gerd Kauter.

Ein Gelehrter von hervorragendem Ruf, feiner Bildung und übrigens ungewöhnlicher Körperlänge - er mochte wohl zwei Meter hoch sein - weilte als Gast im Hause eines Kollegen in einer kleinen Universitätsstadt. Eine Woche hindurch versammelte man fast an jedem Abend die angesehensten Bürger der Stadt und Universität um seine vornehme, hohe, etwas weltfremde Gestalt. Als er nach acht Tagen reiste, hinterließ er ein Andenken, wie er es sich nicht besser wünschen konnte.

Doch sollte es nur zwei Tage Bestand haben. Aus dem Hause des Professors verbreitete sich in die Stadt das Gerücht, die Hausfrau habe beim Aufräumen ihres Tafelgeschirrs einige der wertvollsten Stücke ihres Porzellan- und Silberschatzes vermisst, und gerade die, welche man, den verehrten Gast auszeichnend, ihm in Benutzung gegeben.

Der eben noch Gefeierte erschien nun als der schwärzeste Betrüger, als Mensch mit kranken Trieben bestenfalls, und für einige Zeit waren die Gesellschaften der kleinen Stadt von diesem unterirdischen Gesprächsstoff nicht wenig angeregt. Übrigens hatte man Takt, Standesgefühl und Porzellan genug, um an eine gerichtliche oder private Verfolgung des Diebes nicht zu denken.
Die Geschichte war gerade daran, ihre Reize zu verlieren und in Vergessenheit zu geraten, als der Professor ein Schreiben des Berüchtigten erhielt, darin er noch einmal für zwei Tage seiner Rückreise als Gast sich ankündigte. Diese Anmeldung, deren bescheidene Sicherheit man unter anderen Umständen als Ehrung empfunden hätte, versetzte die Beteiligten in die sensationelle Verlegenheit, wie man dem Wiederkehrenden begegnen solle.

Schließlich bewog die Aussicht, das Unglaubliche mit eigenen Augen sich wiederholen zu sehen, dem bösen Spiel mit guter Miene beizuwohnen. So fand sich der Gast bereits am Abend nach seiner Ankunft wieder durch eine ausgesuchte Gesellschaft geehrt. Mit Mokkatassen in der Hand stand man umher, die Aufmerksamkeit nur halb auf das Gespräch gerichtet und jederzeit gefasst, einen Silberlöffel in der Fracktasche des Gastes verschwinden zu sehen, ohne eine Miene zu verziehen. Der so Belauerte indessen scheint von diesen Blicken nichts zu spüren; unbefangen seine Tasse balancierend geht er durch die Gruppen, um sie schließlich ....

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