"Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Wenigsten der in unseren höheren Schulen Gebildeten sich "gehörig" auszudrücken vermögen. Leitartikel verbreiteter Zeitungen, offizielle Ansprachen leitender Persönlichkeiten, Reichstagsreden beweisen es jeden Tag. Hier liegt eine Aufgabe von großer Bedeutung vor allem für den deutschen Unterricht. Dass aber auch die mathematisch - naturwissenschaftlichen Unterrichtsfächer sich an ihrer Lösung wesentlich beteiligen können und müssen, zeigt sich bald, wenn man sich die Frage vorlegt: Welches ist denn überhaupt der gute Stil? - Kann man den überhaupt lehren? Unzweifelhaft scheint es mir, dass jeder gute Stil wenigstens eine notwendige Eigenschaft aufweist, zu der allerdings erzogen werden kann: die Wahrhaftigkeit. Sie hat sich nach zwei Richtungen hin zu äußern: als die Wahrhaftigkeit gegen den Autor und als Wahrhaftigkeit gegen den Gegenstand der Darstellung. Es ergeben sich damit zwei Forderungen an einen guten Stil:
1. Er muss original, d.h. der Persönlichkeit des Urhebers
gemäß sein.
2. Er muss dem Gegenstande dienen, d.h. sachlich sein.
Es ist klar, dass man auf diesem Wege zum guten Stil an der Mathematik, der sachlichsten Wissenschaft, der Wissenschaft, die denken lehrt, und den mit ihr methodisch verbundenen Naturwissenschaften, die sehen lehren, nicht vorübergehen darf.
Ich zeige nun kurz, dass die oben aufgestellten Forderungen an den guten Stil Aussicht haben, hier entwickelt zu werden: Die Originalität des Ausdrucks wird in der freien Erzählung eigener Erlebnisse ihre beste Übung finden. Vor Allem wird ein unsachlicher, dem Gegenstande nicht gerechter Stil auf naturwissenschaftlichem Gebiete sich von selbst verbieten. Indem in der Natur, in der Regel wenigstens, etwas entweder ist oder nicht ist, kann hier der vorsichtig feige oder gar falsche Ausdruck so wenig aufkommen, wie der schwülstige, der Unwissenheit hinter Worten versteckt. Die Worte sind noch klar und eindeutig, denn sie bezeichnen entweder wohl Definiertes oder reale Gegenstände. Woran wir heute leiden, das ist das sinnlose Hantieren mit abgenutzten Phrasen, deren Bedeutung von den Sprechenden und Schreibenden meist gar nicht mehr durchschaut wird, so "dass sie", wie Schopenhauer sagt, "immer nur mit halbem Bewusstsein reden, daher sie mehr die ganzen Phrasen als die Worte zusammengefügt haben. Daher dann die erste, ja schon für sich allein ausreichende Regel des guten Stils diese, dass man etwas zu sagen habe".
Von den Ausführungen über den Mathematikunterricht zitiere ich hier nur aus deren Schluss:
"Man wird den Wortlaut der Regeln nicht einfach geben, sondern finden lassen. Das ist die einzige Gewähr dafür, dass sie verstanden werden, und dafür, dass das Umsetzen ins Wort und nicht das Wort allein gelernt wird. Das letzte Ziel über die sprachliche Richtigkeit des einzelnen Satzes hinaus ist eine längere zusammenhängende Darstellung. Meist ist der Schüler erlöst, sich an eine zeitliche Folge, am liebsten an eine Tätigkeit zu halten. Das Kind kann von Hause aus am besten erzählen, was es tut, und was es dann tut u.s.w., und man wird gut tun, das auszunutzen; namentlich bei Regeln: man beschreibt, was man zu tun hat, um zwei Potenzen mit gleicher Basis miteinander zu multiplizieren.
Die zuletzt angeführten Grundsätze lassen sich sinngemäß übertragen auf die PHYSIK. Hier treten neue und wichtige Anforderungen auf.
Die Aufgabe einen Apparat zu beschreiben, ist i.A. sehr schwierig und nur selten in einer praktischen Form ohne erläuternde Figur möglich. Für eine selbständige, längere Beschreibung ist es unbedingt notwendig, die Teile des Apparates in eine vernünftige Ordnung zu bringen. Man wird bei der Dampfmaschine nicht mit dem Schwungrad und beim Fernrohr nicht mit dem Okular anfangen. - Man muss wissen, wie der Apparat funktioniert.
Voraussetzung für die Beschreibung eines Vorganges ist einmal die Fähigkeit, die Apparate, die Elemente des Vorganges sind, beschreiben zu können, ferner ein gewisser Wortschatz und schließlich in noch höherem Maße die schon erwähnte physikalische Einstellung. Der Schüler steht vor allen bisher besprochenen Aufgaben zugleich, wenn er ein Protokoll einer physikalischen Schülerübung anfertigt.
Die übrigen naturwissenschaftlichen Schulfächer streift Wagenschein nur kurz, zum Chemieunterricht schreibt er leider gar nichts, er liegt ihm zu fern.
Das letzte Kapitel dieser Arbeit heißt Lehrer und Lehrbuch
"Wenn man einen guten Vortrag gehört hat, ist einem eine Zeit lang der Wortschatz bereichert, die Treffsicherheit des Ausdrucks erhöht. Es ist also sehr wichtig, dass der Lehrer sich gut und richtig ausdrückt. Das ist deshalb besonders schwer, weil unsere Tätigkeit mehr vielleicht als irgend eine andere dahin wirkt, den Stil abzuschleifen und farblos zu machen: Viele Male am Tage stehen wir vor derselben Situation und wollen ihr mit Worten begegnen. Es gilt, natürlich zu sein, ohne die richtige Form zu verlieren. Man läuft einerseits Gefahr, lax zu werden, stets im Infinitiv zu befehlen, Sätze nicht zu vollenden, den Kindern also ein verderbliches Vorbild zu geben, andererseits, vielleicht aus Reaktion dagegen, gemessen, schulmeisterlich, "korrekt" zu sprechen, also in einer der Jugend fremden Sprache zu reden.
Mehr noch als im Unterricht der Lehrer beeinflusst zu Hause bei der Arbeit das Lehrbuch den Stil des Schülers. Er lernt daraus Regeln auswendig, und auch dann wenn ein freier Vortrag von ihm verlangt wird, pflegt er sich an den Wortlaut des Buches anzulehnen, ja muss es bisweilen auf Gebieten, die ihre eigene Sprache haben. Von einem Lehrbuch, das den geringsten Anforderungen genügen soll, darf demnach verlangt werden, dass seine Ausdrucksweise richtig sei. Ein gutes Buch wird es erst dann, wenn es jene Geschlossenheit des Stils besitzt, die den Autor als eine Persönlichkeit ausweist.-
Die Arbeit schließt mit dem Satz: "Wenn es auch sicher ist, dass den Jungen unserer Tage Wichtigeres nottut als gerade Reden, nämlich Tun, so scheint doch schon etwas gewonnen, wenn wir verhindern, dass sie zu Schwätzern werden."
(Der vollständige Text der Arbeit kann vom Wagenschein-Archiv bezogen werden.)
Hannelore Eisenhauer: