Seminar der Wagenscheingesellschaft vom 9. November 2002 in Zug
Das automatische NEIN und das automatische JA
(nicht nur im Physikunterricht)
I. Kapitel
1. Einleitung
In der ZEIT (Nr. 23/2002) schreibt der Biologe Hubert Markl, er ist seit 1996 amtierender Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, folgendes:
"Die Deutschen lieben Astrophysik und Kosmologie - weil sie den Alltag nicht verändern." Wehe aber, wenn die Gentechnik uns mit neuen, gefährlichen Fragen kommt. Dann ziehen wir Stillstand vor. So ist Deutschland in der Forschung zurückgefallen, Und weiter sagt er "Mangelnder Mut ist zur moralischen Pflicht geworden."
2. Markl beschreibt ein pädagogisches (kein therapeutisches!) Problem
- Viele Bürgerinnen und Bürger erleben die Fragen rund um die Gentechnik etc. nicht mehr als Herausforderung, sondern als Bedrohung.
- An der Nahtstelle, wo die Herausforderung zur Bedrohung wird, entsteht Stress.
3. Wie entsteht Stresstauglichkeit?
Drei Beispiele aus verschiedenen Altersstufen:
- Bauchweh eines Dreimonatigen
- Schwimmenlernen eines Vierjährigen
- Mechanik, Einzeichnen von Kräften bei 17-jährigen im Gymnasium
Zu den Bedingungen für erfolgreiches und signifikantes Lernen gehören
Betroffenheit, Herausforderung, Konfrontation, Schutz und Fürsorge, Lernen in Beziehung
=> Bewältigungszuversicht
=> Verletzungen sind immer Beziehungsverletzungen.
4. Einige Erläuterungen zu den Charakteristika
- Herausforderung entsteht durch Betroffenheit, Betroffenheit aus eigenen Fehlern.
- Betroffenheit entsteht durch Dilemmata. (L.Kohlberg)
- Ständige Aufregung/Erregung verhindert Betroffenheit.
- Jugendliche lernen über Beziehungen, was wichtig ist (Orientierungswissen).
- Schutz und Forderung! (Schutz durch das Aufrechterhalten von Grundorientierungen) "Erfurt".
- Bewältigungszuversicht hat Selbstvertrauen zur Folge.
- "Um ein Kind richtig aufzuziehen braucht es ein ganzes Dorf."
- Unerfüllbarkeit, Unerreichbarkeit erzeugt Stress.
II. Kapitel
1. Repetition
2. Das Pädagogische Problem aus der Sicht Wagenscheins
Die gesellschaftliche Aufgabe des Naturwissenschafts-Unterrichts ist nach Wagenschein:
"Die gefährliche Spannung zu mildern zwischen der kleinen Gruppe der Experten, die sich nicht mehr allgemein verständlich machen kann oder mag, und der von ihr abhängigen großen Masse der Laien, die das wirkliche Verstehen nicht mehr kennt und darum wissenschaftsgläubig oder wissenschaftsfeindlich reagiert, statt wissenschaftsverständig zu werden."
Wagenschein sieht also neben dem Ausweichen, der Abwahl, dem Negieren - dem automatischen NEIN - auch noch eine zweite Fehlleistung, nämlich die Wissenschaftsgläubigkeit - das automatische JA.
Das Ziel ist nicht Wissenschaftsfeindlichkeit und nicht Wissenschaftsgläubigkeit sondern Wissenschaftsverständigkeit. Weil die Reaktion beim JA (Gläubigkeit) bzw. NEIN (Feindlichkeit) automatisch - und unbewusst - erfolgt, sind sie nicht mit dem "eigenen Kern" verbunden. Es funktionieren in dieser Phase weder Selbstwahrnehmung, noch Selbstreflexion, noch die Fähigkeit, eigene Impulse zu steuern, noch die Fähigkeit, sich auf andere emotional auszurichten intakt.
Damit ist eines der fünf im Rahmenlehrplan (RLP S. 10/11) angegebenen Kompetenzfelder, denen man sich in allen Fächern widmen muss, angesprochen, nämlich die Kompetenzen im sozialen, ethischen und politischen Bereich.
3. Strategien Wagenscheins
1. Verbindungen zum eigenen Kern suchen (Zitate Wagenscheins)
2. Stressreduktion durch Lernen in Portionen und Lernen in Beziehung (Beispiele)
3. Das Phänomen ins Zentrum stellen. "Rettet die Phänomene!"
4. Wichtige unverstandene Situationen,
die Wagenschein meines Wissens nicht explizit anspricht. (Etwa ein Dutzend Beispiele)
Diese Beispiele betreffen nicht nur Schülerinnen und Schüler...
5. Ein Experiment
Das automatische JA/NEIN erfolgt nicht in Verbindung mit dem eigenen Kern.
6. Erklärungsversuch: Die Realität zwischen Verlassenheit und überflutung
JAnik und JAsmin bzw. NEro und NElly
- Das automatische JA: Folgerungen für Lehrpersonen
- Das automatische NEIN: Folgerungen für Lehrpersonen
Professor Wulf Schiefenhövel:
"Die Angst, verlassen zu sein, ist extrem groß. Das wissen wir ja selber von unseren Kindern. Das wird in unserer Kultur in einer extrem grausamen Weise missverstanden. Wir haben ein behavioristisches Grundmodell. Wir sagen, wenn ich dieses Kind verziehe und auf seine ganzen Muckser reagiere, indem ich es aufnehme und an den Körper halte und die Brust gebe und ein Liedchen singe oder rumlaufe, dann lernt das Kind am Erfolg, und dieses Kind wird ein Tyrann bleiben bis zum 35. Lebensjahr oder noch länger und will überhaupt nicht loslassen. Wir haben also diese Angst, dass wir Kinder durch Liebe verziehen könnten. Und das ist in traditionalen Kulturen Neuguineas, Melanesiens, Indonesiens, Afrikas, Südamerikas, wo immer Sie hingehen, vollkommen anders. Die Leute sagen, das ist ein kleines schutzwürdiges Wesen und jedes Signal, was von diesem Wesen kommt, muss ich sofort beantworten. Dadurch entsteht das, was man sichere Basis, Urvertrauen nennt. Auf der Basis des Urvertrauens kann ich mit der Welt fertig werden, auch mit der Trennung von der Mutter, denn die muss ja irgendwann mal passieren."
7. Vorsicht, das Modell bedarf wichtiger Präzisierungen und Vertiefungen
- Aus der Jasmin wird eher eine Nelly als umgekehrt.
- Wir alle tragen beide Pole in uns.
- Welcher der Pole im ersten Reflex auftritt, hängt vom Thema und den Personen ab.
8. Ansätze bei Wagenschein für den Umgang mit dem automatischen JA/NEIN
- Verbindungen mit dem eigenen Kern suchen (Beispiele Wagenscheins)
- Konzentration auf die Sache, das Phänomen übernimmt die Leitung!
- Biographien: Die Beziehung zu fiktiven Helden ist einfacher.
- "Produktive Verwirrung" als Möglichkeit der Konfrontation
- "exemplarisches - genetisches - sokratisches" Vorgehen Wagenscheins
9. Zwei Beispiele zur Vertiefung
Veranschaulichung des pädagogischen Zieles in einem Koordinatensystem
10. Nochmals zu Markl: Mut als Antwort auf Angst?
- Sieht Markl die zweite mögliche Fehlleistung nicht?
- Wenn also die Suchenden gewisse Themen mehr oder weniger bewusst meiden, dann sind Ängste, Bedrohungen im Spiel, die nicht grundlos sind, (selbst wenn ein irrationaler Anteil dabei sein sollte.)
- Vielleicht hat man Angst, die Wirklichkeit, die wir zu ändern suchen, noch gar nicht verstanden zu haben.
- Oder man hat Angst vor der Eigendynamik gewisser Entwicklungen.
- Andererseits kann Mangel an Angst möglicherweise Mangel an Wahrnehmung sein, wie das C.F. v. Weizsäcker mal formuliert hat. Hinter der Risikobereitschaft kann Risikoblindheit stehen.
- Und es ist sehr gut möglich, dass Angst auch falsch und übertrieben sein kann. Es kann aber auch sein, dass diese Angst die Folge, der Ausdruck des automatischen NEINs ist. Falsche und übertriebene Angst lässt sich durch Aufklärung abbauen. Kritischer Sachverstand und fundierte Kenntnisse bewahren vor überängstlichen Reaktionen, helfen aber auch andererseits, wirkliche Gefahren zu erkennen und richtig einzuschätzen - aber nur unter der Voraussetzung, dass nicht das automatische NEIN dominiert und man zuhören kann!
11. Vertiefung zum Thema Rahmenlehrplan
Wenn man sich das Verhalten vergegenwärtigt, welches in der modernen Gesellschaft vor dem Hintergrund christlich-abendländischer Wertüberzeugungen als ethisch wünschenswert gilt, dann wird rasch erkennbar, dass ein solches Verhaltensideal umso weniger verwirklicht werden kann, je reduzierter folgende Fähigkeiten der Selbstwahrnehmung, der Selbstreflexion, der Fähigkeit, eigene Impulse zu steuern, der Fähigkeit, sich auf andere emotional auszurichten, sind.
Es ist also
- das Fehlen einer differenzierten (Innen-) Wahrnehmung,
- die Einschränkung von Steuerungsmöglichkeiten,
- das überflutet-Werden durch narzisstische Kränkungen, die bevorzugte Wahrnehmung des Andern als enttäuschend und bedrohlich,
- die fehlende Möglichkeit, empathisch in den Andern hineinzuschauen und seine Perspektiven vorübergehend zu übernehmen,
was zwangsläufig dazu führt, dass die Rechte des Andern (im weitesten Sinne der Menschenrechte) nicht beachtet werden.
- Das Fehlen stabiler Beziehung und Bindung führt dazu, dass die Andern immer wieder zu Opfern des eigenen kränkenden, entwertenden, ausbeuterischen und destruktiven Verhaltens werden. (Diese Impulse und Affekte können auch gegen die eigene Person gerichtet werden und führen zu Selbstentwertung, Selbstschädigung, Selbstblockierung).
Sind diese Fähigkeiten eingeschränkt, so ist alles, was sich im positiven Sinne als "Tugend" charakterisieren lässt (z.B. Toleranz, Rücksicht, Verantwortungsbewusstsein, Dankbarkeit und erst recht die heute schon altmodisch wirkenden christlichen Tugenden (z.B. Demut, Gehorsam, Bescheidenheit, Nächstenliebe) nur schwer realisierbar.
12. Schluss
Ein Testblatt zum automatischen NEIN/JA
Kommen Ihnen einige der folgenden Reaktionsmuster bekannt vor?
Automatisches JA:
- Du bist Mitglied des Vorstands eines Vereins. Der Präsident sucht jemanden, der das Protokoll schreibt. Meldest du dich als Protokollschreiberin/als Protokollschreiber - obwohl du morgen Zügeltermin hast? Hältst du es aus, wenn sich niemand meldet? Getraust du dich, nein zu sagen?
- Glaubst du, du könntest unmöglich auf den Geburtstagsbesuch mit Blumenstrauss verzichten, weil der Jubilar sonst sehr enttäuscht wäre?
- Ist deine Idee von Nähe, eins zu werden und glaubst du deshalb: "Weil ich dich liebe, gehörst du mir. Wir sind eins, was dir gehört, gehört uns?"
- Erträgst du die Unsicherheit, wann dich dein Partner das nächste Mal anruft?"
- Kannst du unbeendete und unklare Situationen ertragen?
- Eine wahre Geschichte: Hans und Vreni sind seit 40 Jahren verheiratet. Am Freitag gibt es zum Mittagessen immer ein halbes gebratenes Poulet. Vreni gibt Hans immer den Poulet-Schenkel, weil sie dies für das beste Stück hält. Jetzt - nach 40 Jahren - ruft er beim Essen plötzlich verärgert: "Muss ich immer diese verdammten Schenkel essen?" Könntest du Hans, könntest du Vreni sein?
Automatisches NEIN:
- "Niemand kann mir sagen, was ich zu tun habe."
- Wenn du eine Idee hast, wie die Dinge sein müssen, dann klammerst du dich daran, du tust alles um Recht zu haben.
- Interpretiertst du deine Probleme als von anderen erzeugt?
- Hast du Gedächtnislücken, weil du abwesend bist?
- Wirst du intellektuell oder wechselst du das Thema, wenn du Gefühle hast oder jemand um dich herum Gefühle zeigt?
- Bringst du Informationen, Meinungen und Anweisungen grossen Widerstand entgegen?
- Stellst du andere oft vor vollendete Tatsachen oder machst du einseitige Entscheidungen?
- Hast du Schwierigkeiten, pünktlich zu sein? Hast du Schwierigkeiten, dich zu verpflichten oder Verpflichtungen wirklich zu erfüllen?
- Hast du Schwierigkeiten, für jemand anders zu arbeiten, und bist du deshalb gern dein eigener Chef?
- Erwartest du von anderen, dass sie ihre eigenen Bedürfnisse selbst erfüllen?
- Ist die Natur deiner nahen Beziehung wie folgt: nicht zu nahe, nicht zu weit weg?
- Behandelst du dich und andere als Objekt?
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