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Von
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aussen


und andere Sichtweisen,
Ansätze und Gedanken zu den

Platonischen Körpern


oder

Sinnliche Geometrie


Wenn Platon in seinen Überlegungen zu den Polyedern ,,Von-aussen-nach-innen" dachte, so hat der Architekt Buckminster Fuller ,,Von-innen-nach-aussen" entwickelt.
Dieses "Von-innen-nach-aussen" wird uns in der "sinnlichen Geometrie" leiten. Wir untersuchen, begreifen und entwickeln Symmetrien der Knotenpunkte von Polyedern.
Ein Würfel bekommt auf diese Weise Dimensionen, die wir bisher nicht bedacht haben. Ein Oktaeder erscheint mit einem Mal komplexer. Weshalb zeigt sich der Tetraeder zweisinnig? Geometrie sinnlich erleben, Anspielobjekte selber bauen, Keime für das innere Entdecken wachsen lassen und so hoffe ich: darüber staunen....,



Walter Arn
Oberstufe Lindenhof, CH-9500 Wil
Im September 2001

Die Unterlagen sind unter Mitarbeit von Rita Scheiwiler, Beato Eigenmann und Stefan Kunz sowie Caspar Schwabe Zürich entstanden.


Orientierung:
1 Von innen1a von aussen
2 Kristallisation2a Platonische Körper
3 Raum-Teile3a Kugel-Körper
4 Ballonwürfel4a Spiegeln I
5 Umstülpen (N.Yoshimoto)5a Spiegeln II
6 Umstülpen (P.Clahsen)
7 Schlaufen
8 Kräfte
9 Tensegrity
10 Naturstrukturen
11 Würfeltürme
12 Fuller-Mathematik
13 Tetraeder
14 Körperdiagonalen
16 Geometrie und Erfahrung
17 Fuller und Fröbel
18 Literatur
19 Notizen

Redaktionelle Anmerkung: In diesem Internet-Auftritt sind nur die hervorgehobenen Seiten (teilweise) wiedergegeben. Für die Überlassung der Schrift mit vielen Zeichnungen wende man sich an den Autor:
Walter Arn, Eggwies 1, CH-9248 Bichwil; Tel.: 071-951 47 66

Kräfte

"Man muss flexibel sein, wenn man über das Problem der Starrheit nachdenkt."
schreibt A.K.Dewdney und erzählt weiter:
"Um das schadhafte Dach unserer Waldhütte im Norden Kanadas zu reparieren, hatte mein Vater im Sommer 1978 ein Gerüst aus frisch geschlagenen Fichtenstämmen errichtet. Als er und mein Sohn Jonathan es bestiegen, knarrte und wackelte die rustikale Konstruktion beängstigend.
Aber mein Vater wischte meine Bedenken selbstsicher beiseite: ,,Das Ding würde zehn Leute tragen - ich habe genau so viele Stangen verwendet, wie unbedingt nötig sind."
Ich wagte nicht, meinem Vater - einem Holzexperten und dazu noch Amateur-Mathematiker - zu widersprechen, und wandte mich anderen Dingen zu. Aber kaum eine Minute später hörte ich einen dumpfen Fall und zwei erschrockene Schreie. Ich eilte hinzu und fand die beiden neben einem zusammengeklappten Gerüst auf das übelste fluchend im Moos liegen.
Wie konnte das passieren?
Theorie und Praxis der Konstruktion stabiler Stabwerke sind tatsächlich schwierig und haben Mathematiker und Ingenieure jahrhundertelang beschäftigt. Anstelle echter Balken und Nägel verwenden die Theoretiker gedachte Stäbe beliebiger Länge, die sich durch keine Kraft der Welt dehnen, stauchen oder verbiegen lassen, sowie Universalgelenke. Diese halten jeweils zwei (oder mehr) Stäbe an ihren Endpunkten zusammen, hindern sie aber im übrigen nicht sich in allen Richtungen umeinander zu drehen.
Stellen wir uns beispielsweise zwölf gleich lange Stäbe vor, die mit solchen Gelenken derart verbunden sind, dass sie die Kanten eines Würfels bilden. Dieses Gebilde würde auf der Stelle zusammenklappen. Das ist der Grund, warum Türme und Brücken durch diagonale Streben stabilisiert werden müssen.
Wieviele solcher Streben aber braucht man, um den Würfel starr zu machen? Ich hielt zunächst vier geschickt platzierte Flächendiagonalen für ausreichend - bis ich doch eine Möglichkeit fand, den Würfel zu falten. Es stellte sich heraus, dass selbst ein Würfel mit diagonalen Streben in fünf Seitenflächen nicht starr ist.
Die fünf Stäbe bilden zusammen mit sechs der übrigen Kanten zwei Tetraeder, die den Diagonalstab auf dem Boden als gemeinsame Kante haben. Beide Tetraeder sind zwar für sich genommen starr, aber um die gemeinsame Kante gegeneinander beweglich; zwei der vier Ecken der unverstrebten Würfelflächen wandern einwärts, die beiden andern nach aussen. Einerlei, wie man die fünf Diagonalstreben in die Seitenflächen einsetzt, es gibt immer eine Möglichkeit, den Würfel zu deformieren. Weniger als sechs Diagonalstreben sind nicht ausreichend.

Tensegrity

Tensegrity-Struktur in Form eines lkosaeders (ein expandierter Oktaeder).

Die Struktur beruht auf separierten Zug- und Druckkräften.
Tensegrity-Strukturen sind in der Philosophie von Buckminster Fuller (1895-1983) entstanden. (Amerikanischer lngenieur, Architekt und Designer.)

Für den Bau einer Tensegrity-Struktur in Form eines lkosaeders braucht es zum Beispiel:
6 Bambusstäbe à 20 cm
(Gartenabteilung)
Enden mit Eisensäge ca. 8 mm eingesägt

8 Spanngummis à 25cm
(Merceriegeschäft) stumpf zusammengeklebt mit Sekundenkleber.

Montagehilfe z.B. Holzwürfel
8/8/8 cm mit Nägeln, um mit Gummis die Bambusstäbe provisorisch zu fixieren.

Tetraeder

"Nur" ein Tetraeder
Sich "nur" mit einem Element zu beschäftigen, kann neue Zusammenhänge erschliessen.

Bei der Suche nach einem Objekt für ein Arbeitsprojekt mit meinen Schülern habe ich mich an einen Würfel erinnert, der sich aus vier Drahtelementen zusammenbauen lässt. Nach einigem Recherchieren ist herausgekommen, dass der Designer dieses Würfels keine 500 Meter von unserem Schulhaus entfernt arbeitet. Herr Gerig freute sich, dass sein Würfel wieder ins Gespräch kam. Mit dem Hintergrund von Buckminster Fuller ist der entsprechende Tetraeder entstanden.

Einem anderen Tetraeder sind Schülerinnen und Schüler bei Holger Hadrich aus Oldenburg begegnet. (Wir hatten diesen Künstler an unsere Schule eingeladen.)

Geometrie und Erfahrung

Wir fühlen uns nicht berufen, diesen Gedanken als mathematischen zu behandeln. Möglicherweise gehört er gar nicht ins Fach der Mathematik, ebensowenig, wie der "Sonnenuntergang" ins Fach der Astronomie gehört. Fullers Ansatz als praktischer Denker und Geometer dürfte aber durch eine Argumentation gerechtfertigt werden, die zwei von ihm anerkannte Autoritäten, Albert Einstein und Bertrand Russell, bereits in den zwanziger Jahren im Hinblick auf eine Philosophie der Geometrie entfalten. Einstein hat in einem berühmten Vortrag "Geometrie und Erfahrung" von 1921 das Problem mit einem Satz klargestellt: "Insofern sich die Sätze der Mathematik auf die Wirklichkeit beziehen, sind sie nicht sicher, und insofern sie sicher sind, beziehen sie sich nicht auf die Wirklichkeit."[4] Der Naturforscher kann sich mit einer gesäuberten, rein axiomatischen Geometrie nicht zufrieden geben, denn es sei doch sicher, so Einstein, "dass die Mathematik überhaupt und im Speziellen auch die Geometrie ihre Entstehung dem Bedürfnis verdankt, etwas zu erfahren über das Verhalten wirklicher Dinge. Das Wort Geometrie, das ja "Erdmessung" bedeutet, beweist dies schon. Denn die Erdmessung handelt von den Möglichkeiten der relativen Lagerung gewisser Naturkörper zueinander, nämlich von Teilen des Erdkörpers, Messschnüren, Messlatten usw. Es ist klar, dass das Begriffssystem der axiomatischen Geometrie allein über das Verhalten derartiger Gegenstände der Wirklichkeit, die wir als praktisch starre Körper bezeichnen wollen, keine Aussage liefern kann. Um derartige Aussagen liefern zu können, muss die Geometrie dadurch ihres nur logisch-formalen Charakters entkleidet werden, dass den leeren Begriffsschemen der axiomatischen Geometrie erlebbare Gegenstände der Wirklichkeit zugeordnet werden."[5] Hier eröffnet sich das Feld, auf dem Fuller seine Erfahrungen und seine Entdeckungen macht. Einstein nennt die ihm erforderlich scheinende Erweiterung oder Ergänzung eine "praktische Geometrie" und fügt hinzu: "Dieser Auffassung von Geometrie lege ich deshalb besondere Bedeutung bei, weil es mir ohne sie unmöglich gewesen wäre, die Relativitätstheorie aufzustellen."[6] In ähnlichem Sinne plädiert Bertrand Russell, die Geometrie, wenigstens ihren "interessanteren Teil", der Naturforschung einzugliedern. "Geometrie ist bedeutsam", schreibt er in seinem Buch "The Analysis of Matter" von 1927, "weil sie, im Unterschied zur Arithmetik und Analysis, als Teil angewandter Mathematik aufgefasst werden kann, so als sei sie tatsächlich ein Teil der Physik."[7] Fuller untersucht die geometrischen Figuren, Euklids Elemente, in diesem Sinne. Wenn er aus einer Halskette von stabförmigen Gliedern einen Stab nach dem anderen herausnimmt, um festzustellen, dass das Viereck noch labil, aber das Dreieck stabil ist, und ausruft "es hält die Form", dann treibt er Geometrie "als sei sie tatsächlich ein Teil der Physik". In zahllosen Demonstrationen führte er den Kubus vor, nicht gezeichnet, sondern als Modell aus Stäben, die an den Eckpunkten durch Gummischläuche verbunden waren. Und er demonstrierte, wie der Kubus seine Form nicht hält und kollabiert, und wie unter gleichen Bedingungen das Tetraeder stabil bleibt; und wie man den Kubus stabilisiert, indem man die Diagonalstreben einzieht, die zusammen ein eingeschriebenes Tetraeder bilden. Hier beginnt eine schier endlose Untersuchung über das, was man gemeinhin "Struktur" nennt, was aber die Wissenschaft nicht näher definiert, weil sie es für selbstverständlich hält. Für Fuller ist es ein grosses Rätsel, warum etwas die Form hält und etwas anderes nicht, zumal er den Begriff "Körper" und das Konzept der "Bausteine" aufgibt, auf denen ja jene scheinbare Selbstverständlichkeit des Formhaltens beruht. Heute bestätigt jeder Physiker, dass man sich vom Konzept der "Bausteine der Materie" endgültig verabschiedet hat.[8] Fullers kleine Gummischläuche, die er als Knotenverbindungen seiner Stäbchen in den Modellbau einführt, sind materiell ein lächerliches Detail, aber konzeptionell ein erstrangiges Werkzeug; als flexible Knoten, die Fuller schon 1932 fordert, ermöglichen sie eine Modellierung, die die Bildung starrer "Körper" auf die Grundlage beweglicher Konstellationen stellt, und Stabilisierung als selbststabilisierendes Muster fasst. Die "gehaltene Form" führt Fuller auf ein wiederkehrendes Muster zurück, Struktur definiert er als eine "lokal regenerative Muster-Integrität" ("locally regenerative pattern integrity").[9]


[4] Albert Einstein: "Geometrie und Erfahrung" (1921). In: ders.: Mein Weltbild, Frankfurt/M., Berlin 1968, S. 119f.
[5] Ebenda, S. 121
[6] Ebenda
[7] Bertrand Russell: The Analysis of Matter. London 1927, S. 5
[8] Vgl. Herwig Schopper: Suche nach den Bausteinen der Materie. In: FAZ, 5.5.1999, S. N3
[9] R.Buckminster Fuller: Synergetics. New York 1975 (606.01), S.315

Aus: R.Buckminster Fuller, Your Private Sky: Diskurs, Seiten 8/9



Fuller und Fröbel

Historisch gesehen ist Fullers Komprehensivismus sicher in Übereinstimmung mit John Deweys "Learning by doing", verblüffend und zugleich bezeichnend ist Fullers Hinwendung zum Kind im Vorschulalter, das das Forscherideal des komprehensiven Hands-on-Philosophen verkörpert; diesem Ideal einer spontanen und allumfassenden Neugierde, einer nichtkorrumpierten Naivität und Unbefangenheit, der Kraft des Keims und der Initiative des "New Life", auf das er sich so oft bezogen hat, wollte er die Treue halten. Man muss schon ins frühe 19. Jahrhundert zurückgehen, um dies in ähnlicher Deutlichkeit ausgesprochen zu finden. Es war Friedrich Fröbel (1782-1852), der Erfinder des Kindergartens und des Systembaukastens, der von einer "um- und erfassenden Anschauung" sprach, deren Selbstausbildung bei den Kindern es zu fördern gelte. Fröbel war es, der vor einer Zerstückelung des Wissens und der Erkenntnisgegenstände gewarnt hatte und stattdessen empfahl, "jeden Gegenstand zuerst als ein Ganzes zu sehen"[18] Schon Fröbel wendet sich entschieden gegen den Elementarismus, seine "Spielgaben" vermitteln den Sinn für das ungeteilte Ganze, aus dem die Teile in ihrer Mannigfaltigkeit hervorgehen, um sich wieder zur Einheit und Ganzheit zusammenzuschliessen. Fröbel besitzt bereits einen sehr modernen Begriff von Gestalt, einen Begriff, den Fuller verwendet, bevor er ihn durch synergy und synergetics ablöst, um das Verhältnis vom Ganzen zu den Teilen aus den verengten Grenzen der Gestaltpsychologie in einer allgemeineren Theorie des Zusammenwirkens aufzuheben. Mit Fröbels Theorien hatte sich Fuller nicht beschäftigt. Aber Fuller hat sehr oft von einem Erfolgserlebnis in seiner Kindheit gesprochen, wie er als Vierjähriger im Kindergarten etwas gebastelt hatte, was anders war als das der anderen Kinder. Von der Kindergärtnerin war er gelobt worden für ein Gebilde aus Zahnstochern und halbtrockenen Erbsen, dessen Strukturprinzip Fuller ein halbes Jahrhundert später als Octet Truss identifiziert und als Raumtragwerk, gebildet aus alternierenden Oktaedern und Tetraedern, zum Patent angemeldet hat.[19] Die aussergewöhnliche Festigkeit dieses Octet-Verbandes veranlasst den Erfinder, sie in der Patentschrift als "Synergetic Building Construction" zu bezeichnen und den neuen Terminus technicus wie folgt zu rechtfertigen: "Meine praktischen Tests haben tatsächlich gezeigt, dass die wirkliche Stärke dieses eben angeordneten Systems aus Oktaeder-Tetraeder-Strukturen um so viel über die errechneten Werte hinausgeht, dass die Hypothese gerechtfertigt erscheint, derartige Strukturen seien synergetisch; und zwar in dem Sinne, dass wir in dem System ein Spannungsverhalten vorfinden, das sich nicht aus dem seiner Teile vorhersagen lässt."[20]

Das Prinzip hatte schon der Vierjährige gefunden, im Kindergarten mit Fröbels Spielgabe Nr.19 "Peas Work" [21], aber erst nach einem halben Jahrhundert war die Signifikanz dieser Entdeckung klar artikuliert. Fuller gibt Fröbels Versuch, die Natur als mannigfaltig gegliederte Ganzheit im Spiel lernend zu verstehen, mit Synergetics und der von Fuller angestrebten "kindergarten-conceptuality" eine erstaunliche Bestätigung und Aktualität.[22] Und auch in der Einschätzung dessen, was Erziehung ist und sein sollte, dürften Fuller und Fröbel nicht weit auseinander gelegen haben. "Wir erziehen und entwickeln den Menschen", schreibt Fröbel, "viel zu sehr nur nach Massgabe und für Darstellung des schon Bekannten, Daseienden, dagegen sollten wir ihn für Darstellung des dem Menschen noch nicht Bekannten erziehen, wir sollten ihn so erziehen, dass das noch unerkannte und unbekannte menschlich Gute, was notwendig noch in dem Menschen liegt, aus ihm hervortreten könne und dass das bisher nur als einzelmenschliche Anlagen Ausgebildete nun als allgemein menschliche Anlage ausgebildet würde, um wenigstens die Einzelerzeugnisse Hervorragender würdig in sich aufnehmen zu können, sodass sie nun zu einem Gemeingute werden."[23]

[18] Friedrich Fröbel: "Die Kunde der Formen und Gestalten". <1826>. In: ders.: Ausgewählte Schriften Bd. 1, Stuttgart 1982, S. 48f.
[19] R.Buckminster Fuller: "Einflüsse auf meine Arbeit", S. 57ff.
[20] Octet Truss, U.S. Patent 2,986,241. In: Inventions. The Patented Works of R. Buckminster Fuller, New York 1983 S. 167, YPS, S.356ft.
[21] Ebenda
[22] Vgl. Norman Brosterman: Inventing Kindergarten, New York 1997, S. 84ff.
[23] Fröbel, a.a.O., S.78

Aus: R. Buckminster Fuller, Your Private Sky: Diskurs, Seiten13/14

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