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4./11. November 1985 (Auszugsprotokoll)

(Thema: Die Problematik des heutigen Physikunterrichts)
(Die beiden ersten Stunden bildeten eine Einheit. Das Protokoll umfasst beide Stunden)
# Martin Wagenschein
* Seminarteilnehmer
- weitere Seminarteilnehmer in derselben Runde
() redaktionelle Kommentare

* Was bildet den Anstoß, die Natur zu verstehen, Wissenschaft zu treiben? Die Wissenschaft fängt im Alltag an, die Menschen stoßen auf Probleme, sie suchen die Ursache für Phänomene, die allgemein nicht begreiflich sind. Die Menschen suchen ein Ordnungsprinzip in der Natur zu finden. Es gab auch ein paar Beispiele aus der Geschichte, wie z.B. Pascal oder Descartes über das Problem mit dem Glas gerätselt haben (ein Glas wird in ein Becken mit Wasser getaucht, umgedreht, hochgezogen und das Wasser läuft nicht heraus). Das war für die Forscher damals ein Problem, und für jemand, der nicht Physik studiert hat, ist es das heute noch. Ein anderes Beispiel: die camera obscura. Das erste Problem war, wie Wissenschaft entsteht, die Genese. Und dann, wenn man über sehr viele Resultate der Wissenschaft verfügt, stellt sich die Frage, wie die Wissenschaft vermittelt werden kann. Das Wissen ist heute unüberschaubar geworden, im Gegensatz zur Antike. Die Stoff-Fülle heute lässt dem Schüler keine Zeit, Gedanken im Unterricht zu entwickeln, die produktive Einbildungskraft wird gestrichen, verhindert. Die Lehrer sind an Lehrpläne gebunden, Curriculum heißt Wettlauf, etwas, das einem Denkprozess widerspricht, denken kann man nicht unter Zeitdruck. Dadurch werden Erkenntnisse nur noch als Faktum abgehandelt. Es wurde als ungeheuerliche Respektlosigkeit bezeichnet, das, was das Resultat der Arbeit von Menschen ist, bloß als Faktum, verdinglicht, abzuhandeln. Das bedeutet, dass in der Schule nicht mehr verstanden, sondern bloß mechanisch gelernt wird. Es ist möglich, etwas, das man nicht verstanden hat, anwenden zu können. Beispiele: Radio, Fernsehgerät, Auto.

# Es gibt ein schönes Wort für das Verstehen, das keines ist, das heißt kapieren. Das ist ja auch was, man hat's kapiert.

* Wie sieht das bloß aus? In der Mathematik das Extrem, dass Formeln bloß angewandt werden, ohne dass die Schüler verstehen, was sie tun. Schopenhauerz itat: Die Anwendung von Formeln ist die niedrigste geistige Fähigkeit. Durch mechanisches Lernen wird das Denken systematisch verhindert. Es handelt sich dann um Verdummung in der Schule, nicht um Bildung. In diesem Zusammenhang Zitat von Karl Kraus: "Der Vielwisser ist oft müde von dem Vielen, das er nicht zu denken hatte." Im Gegensatz dazu macht das Denken wach, ist anregend. Vielleicht, weil es ein gewisser Genuss ist, etwas zu erkennen.
- Das Wissen scheint unverbunden zu sein, es fehlen die Brücken, das macht müde.

# Unsere Schule scheint es ja darauf abgesehen zu haben, denn sie wechselt alle 45 Minuten das Fach. Wenn man einen Lehrer fragt, warum, dann sagt er, auf die Länge hält das ja kein Mensch aus. Es ist viel anstrengender, in diesem 45-Minuten-Takt zu unterrichten und auch erfolgloser als in sagen wir einmal zwei oder auch vier Stunden. Wenn es gelingt, dass alle nachdenken, es denkt dann von selber, man hört nur zu. Nach dem Krieg habe ich bis zu vier Stunden hintereinander ehemalige Soldaten unterrichtet, junge Soldaten. Wir hatten eine Pause in der Mitte, ging ausgezeichnet, mit Diskussion. Die waren aber auch ausgehungert, wir sind ja überfüllt. Ich bin jetzt kurzsichtig geworden und kann Sie leider alle nicht sehen, also wenn Sie lächeln, weiß ich's nicht.

* Wir waren noch einmal auf die Notengebung eingegangen, bzw. auf die Zwänge, unter denen die Schule steht. Die Schüler können sich nicht auf die Sache beziehen sondern stehen in Konkurrenz zueinander. Diese Notengebung ist eher ein Disziplinierungsprozess, damit die Schüler sich für eine Sache interessieren. In der Pädagogik macht man noch mal Motivationsforschung, weil die sachliche Motivation nicht möglich ist. Man muss Strategien entwickeln, um die Schüler trotzdem zu motivieren. Eine Note kann nie eine objektive Aussage sein über das, was ein Schüler versteht, inwiefern er sich weiterentwickelt hat, Fortschritte gemacht hat. Eine Zahl soll für eine qualitative Aussage stehen. Eine qualitative Aussage wäre: Der Schüler hat das und das verstanden ...

# Es handelt sich um einen Aberglauben, dass die naturwissenschaftliche Denkweise, die ja doch Zahlen benützt, wenn sie genau ist, dass man also alles messen kann, wenn man nicht messen kann, so tut als könnte man, und dann beruhigt ist als Lehrer, wenn man nach seinen Gewissensqualen mit seinem Zeugnis fertig ist, dass das nun also stimmt. Es gibt Lehrer, die glauben wirklich an die Noten, dass sie stimmen. Aber sie können nicht stimmen, jedenfalls nicht auf Dezimalen genau.

* Die Schüler werden so notwendigerweise untereinander verglichen und nicht mit sich selbst. Im Prozess der Bildung soll der einzelne nicht mit anderen verglichen werden, sondern mit sich selbst... Gesellschaftliche Funktion der Schule: Die Schule wird vom Staat getragen, hat die Funktion, die Schüler für einen Beruf zu qualifizieren. Die Entscheidung darüber, was Gegenstände der Bildung sein sollen, wird nicht durch die Sache bestimmt, sondern von außen, über die Bedürfnisse, vielleicht der Produktion. Bildung wird zur Qualifikation reduziert; Unterschied zu dem, was eigentlich Bildung wäre: Verstehen.
Wir hatten überlegt, wie Physik-Unterricht aussehen sollte, und Sie hatten gesagt, Physik solle an merkwürdigen Sachen erklärt werden, merkwürdige Sachen ( # "kuriose" ), Wissenschaft wieder von Anfang an entdeckt werden von dem Schüler. Aber wie kommt man durch Beobachtung von merkwürdigen Sachen zu dem Prinzip, z.B. zum Trägheitsprinzip?

# Wie verstehen Sie das, das Prinzip einer Wissenschaft, was ist gemeint ?

* Das ist eine Grundlage, auf der auch andere Phänomene erklärbar sind, z.B. Hebel.
- Prinzip heißt: Vom Ursprung her erste Anfänge setzen.
- Eine Abstraktion, man kann alles auf sie zurückführen.

# Also für die Mechanik die Newtonschen Prinzipien. Kennt die jemand? ... Kein Physiker da? Sagen Sie se auf.

* Das hat ja nichts mit Verstehen zu tun. Das Trägheitsprinzip, oder?

# Ja, sowas.

* Die Kraft ist der Beschleunigung proportional ...

# Wichtiger Punkt, den Sie da anfahren. Sie sagen, Wissenschaftler wünschen, dass man die Prinzipien kennt. Wann kommen die Grundlagen, kommen sie zuerst oder zuletzt? Es gibt zwei Möglichkeiten, entweder man fängt mit den Prinzipien an, das tut die Hochschule ja sehr gerne, das ist erstens berechtigt, weil das ganze System dadurch klar wird, und zum zweiten ist das sehr bequem. Aber pädagogisch oder historisch oder genetisch ist es gerade umgekehrt, denn Galilei kannte ja noch nicht das Newtonsche Trägheitsprinzip, weil er schon tot war, als es kam. Der muss eben, und so war es ja doch in der Geschichte, ausgehen von einzelnen Problemen, merkwürdigen oder seltsamen oder beunruhigenden, kuriosen, aufregenden Unklarheiten. Sonst passiert das, was Herder - wer Herder war, tut jetzt nichts zur Sache, kein Physiker - gesagt hat: "Jetzt sind wir soweit, dass wir durch Worte lernen, was wir nicht suchen dürfen". Was wir zu suchen haben, hier und in der Schule, das sind die Prinzipien zuletzt. Das ist der alte Gegensatz zwischen den Fachleuten und den Pädagogen.

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