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Martin Wagenschein

Mathematik aus der Erde (Geo-metrie)

(1961/65)

I

Wir sind gewohnt, zu denken: Mathematik muss erst "dagewesen" sein, ehe sie in der Physik, in der Erdkunde, oder wo es auch sei, "angewandt" werden könne. Das ist die Haltung dessen, der sein Werkzeug bereitlegt, ehe er daran geht, Möbel zu bauen; logisch in Ordnung und vernünftig, besonders dann, wenn er Möbel "in Serie" herstellen will. Das führt zu Folgerungen wie dieser: Physik kann erst beginnen, "wenn die nötigen mathematischen Voraussetzungen geschaffen sind".
Was logisch richtig ist, kann aber auch pädagogisch blind oder doch unzureichend sein. Man muss erst wissen, was man in der Schule eigentlich will. Wirklich Kenntnisse in Serie herstellen? Vielleicht wird sich diese Vorstellung streckenweise nicht abweisen lassen. Aber pädagogisch wichtiger, oder mindestens komplementär dazu, erscheint ein anderer Grundsatz, der für den mathematischen Unterricht folgendes Ziel setzt: Erfahren lassen, wie Mathematik im ursprünglichen Umgang mit der Welt im Menschen entsteht, aus ihm also und aus den Dingen hervorgeht. Dann wird Mathematik nicht an-gewandt, sondern sie löst sich aus erdkundlichen, physikalischen {technischen} und anderen Sachproblemen heraus und ist zugleich ein Mittel zu ihrer Bewältigung.

II

Wie tödlich langweilig ist es und allzu leicht zu verstehen, dass an zwei parallelen geraden Linien, die von einer dritten gekreuzt werden, Winkel sich finden lassen (mit schwer zu behaltenden Namen), die gleich groß sind. Langweilig, weil es ohne einen vernünftigeren Anlass traktiert wird als aus der Gewohnheit, auf Vorrat zu stapeln, was dann später, irgendwann, unter tausend anderen solchen Dingen "angewandt" werden soll.
Wie anders aber sieht diese Figur aus, wenn sie aus einer unser Denken herausfordernden Wirklichkeit herausgelesen wird: ursprünglich, indem sie uns die Antwort auf eine Frage zuspielt:
Eratosthenes [275 bis 195 v.Chr.] wollte herausbekommen, wie groß die Erdkugel ist.. Er wusste schon, dass sie eine schwebende Kugel ist, damals, als niemand sie umfahren konnte, damals, als die denkende Mittelmeer-Welt der Antike sich wie eine kleine Lichtinsel von der riesigen Dunkelheit der unbekannten Länder und Völker umschlossen fühlte. Er weiß, dass oben in Ägypten, in Assuan (damals Syene) es vorkommt (an einem bestimmten Tage des Jahres, am 21. Juni), dass die Dinge keinen Schatten werfen; keinen seitlichen wenigstens; nur den kleinen, auf dem sie stehen, dem kleinsten. Und ein Obelisk (eine lange, nach oben sich verjüngende Pyramide) wirft also wirklich gar keinen. Er deckt die Stelle zu, auf die sein Schatten fallen sollte. Der Schatten liegt unter ihm bereit, und nachmittags wächst er seitlich heraus. Mittags hat er sich unter der Säule versteckt. Die Sonne steht zu Häupten, im "Zenith". Der Obelisk deutet auf sie.
Auch in Alexandria, im unteren Ägypten, annähernd nördlich von Syene, steht ein solcher Obelisk. Und, worauf es nun ankommt: im gleichen Augenblick, da die Säule in Assuan schattenlos dasteht, hat die in Alexandria einen deutlichen kleinen Schatten neben sich liegen! Woher kommt das? Ist das nur so wie bei der Straßenlampe, die dem gar keinen Schatten macht, der genau unter ihr steht, einem anderen aber, ein paar Meter davon, sehr wohl?
Oder kommt es von dem, was Eratosthenes interessierte, daher nämlich, dass die beiden Säulen, wie Stacheln auf einem krummen Igelrücken, auf einer gewölbten Erde stehen? Eben weil die Erde als Ganzes eine Kugel ist. Wenn der eine Stachel auf die Sonne deutet, so tut es der andere schon nicht mehr. Je weiter er vom ersten weg ist, und je krummer (das heißt: kleiner) der Erdball ist, desto auffälliger wird das. - Oder trifft beides zusammen: Der Straßenlampen-Effekt (den es auch dann gäbe, wenn die Erde eine ebene Scheibe wäre) und der Igel-Effekt? Dann wäre die Frage leider kompliziert.
Nun ist das, was wir von der Lampe kennen, um so weniger auffällig, je höher sie über der Straße hängt. Und Eratosthenes und die Gelehrten seiner Zeit wussten damals schon, dass die Sonnenlampe so hoch über uns schwebt, so weit fort, dass der ganze große Erdball, mit diesem Abstand verglichen, fast ein Nichts ist.
Er wusste das nicht aus Büchern, wie wir Armen: er sah es. Wir können es auch sehen, und zwar am Mond (im ersten Viertel oder vorher), falls wir zugleich auf die Stellung der Sonne achten. (Es muss also Tag sein und beide Gestirne müssen am Himmel stehen). Dann sieht man, dass die Sonne viel weiter von uns abstehen muss als der Mond: Wenn man sich nämlich klarmacht, dass der Mond ein kalter, nur von der Sonne angeleuchteter Stein-Ball ist. (Das ist freilich schwer zu sehen; aber leicht, wenn man es einmal gesehen hat). Und da auch der Mond schon sehr weit ist (denn er "geht immer mit", hinter den Bergen, auch wenn wir sehr weit reisen), so ist die Sonne umso mehr fast unvorstellbar fern. (Das hier nur Angedeutete habe ich breiter dargestellt in: "Natur physikalisch gesehen" und in "Die Erde unter den Sternen". - Siehe auch Abschnitt III: * )
Weil sie so fern sind, deshalb sind die beiden Sonnenstrahlen, die die Spitzen der beiden Obelisken treffen, gleich gerichtet ("parallel"). Damit wird alles einfach:
Es ist also nicht so wie bei der Straßenlampe, die über einer ebenen Straße hängt, es ist wie beim Igel nur die Krümmung des Erdbodens, die Krümmung Ägyptens, ist daran schuld, dass bei Alexandria ein Schatten hervorkommt. Die beiden Obelisken sind nicht parallel.
Mit zwei Streichhölzern, jedes in einem Plastillinsockel im Ägypten des Globus postiert, kann man sich das ganz klarmachen. Eine ferne helle Lampe als Sonne - oder auch die wirkliche Sonne selber - wirft den Schatten. Wenn man sich dann das "worauf es ankommt", aus dem Globus heraus an die Tafel zeichnet, so löst sich aus diesem Bild hervor die Figur mit den zwei Parallelen und der dritten Geraden. Wohl dem, der sie noch nicht kennt.
Denn er kann dann die Entdeckung machen, dass der Winkel zwischen Assuan und Alexandria (genau: der Winkel zwischen den beiden Erdkugel-Radien, die auf die zwei Obelisken zeigen) - und das ist der Winkel, der uns interessiert, denn er zeigt ja die Krümmung an, wegen deren die alexandriner Säule gegen die von Assuan verdreht ist - , dass der Winkel, der tief in der Erde steckt, wohin wir nicht können, sich noch einmal wiederfindet an einem anderen Ort, und dort ganz zugänglich: an der Spitze des Obelisken in Alexandria: der Winkel zwischen der Spitze und dem seine Spitze streifenden Strahl, der die Spitze des Schattens auf den Boden malt. (Dass man nicht hinaufklettern braucht, um ihn zu messen, ist noch eine Entdeckung für sich. (Siehe Abschnitt III: * )) Anfangs ist es lustig, sich einen Ägypterknaben vorzustellen, der da oben, halb geblendet, den Winkel selbst in die Hände zu nehmen sucht. Haben wir diesen Winkel da oben gemessen so zeigt sich die Mathematik sofort als Macht: Wir können "schließen" auf den anderen, ihm gleichen, der in der unzugänglichen Tiefe des Erdballes steckt, an einem Ort, an dem noch keiner war und wohl auch niemals ein Mensch sein wird und von dem niemand genau weiß, wie es dort "aussieht". Ist der Winkel, oben im Alexandria, am Obelisk, ein fünfzigstel Kreis - und so war es -, so ist es auch der in der Erde. Der Weg von Assuan nach Alexandria ist also ein Fünfzigstel des Weges um die ganze Erde herum, des Weges, den damals noch niemand gehen oder fahren konnte, und von dem keiner wusste, über wie viele Meere, durch welche Wüsten und was für fremde Völkerschaften er führen könnte. Aber wie weit dieser Weg sein musste, das wurde jetzt klar: Fünfzigmal die Strecke Alexandria-Assuan, und die konnte man messen: 5000 "Stadien", fast 1000 km. Aber auf die Zahl kommt es hier gar nicht so sehr an, ebenso wenig wie darauf, dass ein Fünfzigstel des vollen Winkels 7° 12´ sind. Diese Zahlen, Einheiten und Zeichen verwirren nur. Es kommt hier nur auf eine Zahl an: Fünfzig; und darauf, dass man im Altertum von der Strecke Syene-Alexandria eine Vorstellung hatte (Es ist vielleicht nicht unnütz, zum Vergleich auszumalen, wie sich die Erdmessungsaufgabe ausnehmen würde, wenn man das Bereitstellungs- und Anwendungsverfahren übertriebe: der Schüler hätte dann irgendwann einmal "gehabt": Begriff des Winkels, Winkelmessung, Winkel an Parallelen, Kreisumfang, Proportionen (mit "Produktengleichung"), einfache Gleichungen. - Nun käme die Aufgabe: Eratosthenes misst die Strecke Assuan-Alexandria zu 5000 Stadien und den Winkel bei Alexandria zu 7° 12´ . Wie groß ist der Erdradius in Stadien? - Lösung: Es gilt die Proportion:
2 pi x : 5000 = 360° : 7° 12´.
Und so fort. Man sieht, wie durch eine Häufung bereitgestellter mathematischer Requisiten der einfache mathematische Gehalt und seine Wirklichkeit leicht zum Verschwinden gebracht werden kann. - Siehe auch Abschnitt III: * . )
Lernt man den Satz, dass jene zwei Winkel an Parallelen gleich sind, an der sterilen Figur, so lernt man fast gar nichts. Lernt man ihn aber gleich bei seiner Entdeckung aus einer Wirklichkeit heraus-lesen, so spürt man sofort etwas davon, was Mathematik ist und kann. (Nur etwas . Vom "Beweisen" ist noch gar keine Rede. Dazu ist der "Satz" zu selbstverständlich. Man braucht die Gleichheit der beiden Winkel nur zu vermuten und sagt schon ja dazu.) Man lernt das Abstrahieren, das Herausholen der Figur aus der Wirklichkeit. Die Wirklichkeit, das ist hier: die Weltinsel der Antike; die ägyptische hohe Sonne; die stillen Schatten im Mittagsglanz; das Tappen der Sohlen der Läufer, die damals die Strecke durchmessen mussten; der mitlaufende, also ferne Mond; die noch fernere, weil sichtlich hinter der Mondsichel sitzende Sonne. Aus dieser Wirklichkeit ziehen wir heraus, was damals wie heute gilt: Die unvergänglichen Denklinien der Geometrie, um eine Figur zu gewinnen, die zu einem abstrakten Reich gehört und uns doch die Macht gibt, die ganze Erde zu umspannen, ohne ein kleines Land zu verlassen.

III

In der Sprache des "Exemplarischen Lehrens" lässt sich dazu sagen: Es handelt sich hier um einen "Einstieg" in die Mathematik. Was dabei deutlich werden soll, ist "exemplarisch" für das Verhältnis der Mathematik zur physischen Welt. Diese Klärung ist aber nur ein Funktionsziel des mathematischen Unterrichtes. Noch ist ja von "Beweisen" nicht die Rede, noch nicht davon also, dass die mathematischen Wahrheiten sich von der Wirklichkeit ablösen lassen und ein in sich verbundenes, selbständiges Reich bilden, in dem sie eine auf der anderen ruhen. Um dies zu lehren, muss ein nicht so selbstverständlicher Satz, wie es der von den Winkeln an Parallelen für Anfänger ist, als Exempel gewählt werden, etwa der Satz des Pythagoras (Wie das vor sich gehen könnte, ist in meinem Beitrag im Dezemberheft 1960 der Zeitschrift "Die pädagogische Provinz" dargestellt worden). - Man kann aber auch innerhalb der hier skizzierten Erdmessung des Eratosthenes alle vorkommenden mathematischen Sätze (Ähnlichkeitssätze, Strahlensatz, Winkelsumme im Dreieck - wo sie auftauchen, ist im Text das Zeichen * gesetzt -) als eine Kette von Einstiegen mobil machen und sie dann untereinander (beweisend) verbinden. Das ist dann ein Weg zum "System". - Übrigens kam es mir nicht darauf an, einen bestimmten Lehrgang anzuraten, sondern darauf, die übliche Form des Vorgehens (erst das mathematische System, dann seine Anwendungen) durch ein kontrastierendes Verfahren (von einem Sachproblem zu einem mathematischen Satz und von ihm aus zum System) zu relativieren.
Von einer "originalen Begegnung" wird man hier nicht eigentlich sprechen können. Sie ist inszeniert - Schule. Sie ist nicht einmal auf eigene Beobachtungen der Schulkinder gegründet (Vielleicht wäre es aber möglich und einen Versuch lohnend, die Erd-Messung so zu modifizieren (allerdings auf Kosten der Einfachheit), dass sie von Schulkindern zweier weit voneinander entfernter deutscher Städte, die in nord-südlicher Linie liegen, selbst ausgeführt werden könnte. Schattenlosigkeit kommt bei uns nicht vor. Immerhin werfen beide Obelisken (oder Bohnenstangen) Schatten, aber der nördliche einen (relativ) längeren. Man braucht den Erdkreis der Figur nur ein wenig um den Erdmittelpunkt zu drehen, um diesen Fall vor Augen zu haben. Wie man leicht einsieht, ist dann der nördliche Winkel um soviel größer als der südliche, wie der Winkel zwischen den Radien, die auf die beiden Städte führen. {Zusatz 1965: Inzwischen wurde dieses Projekt von einer Arbeitsgruppe der Ecole d´Humanité in Goldern (Berner Oberland) aufgegriffen, die sich mit einer Bremer Schulklasse in Verbindung setzte, 710 km nördlich. Schattenlänge eines lotrechten Ein-Meter-Stabes am Mittag in Goldern: 67 cm, in Bremen: 86 cm.}). Die Betrachtung kann also eigentlich nur zeigen, was auch in einem solchen Fall an Einfachheit und Wirklichkeit gerettet werden kann.
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