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Martin Wagenschein

Die beiden Monde

(1979)

"Es schien jedenfalls, als hätte die Menschheit begonnen
dem Universum die Taschen umzudrehen"
Norman Mailer
1


Als amerikanische Astronauten Ende 1968 um die Mondkugel herumgeschossen wurden, sahen sie die Kraterlandschaft mit freiem Auge, nicht durch die Linsen des Fernrohrs, nicht dank der Kamera auf Fotopapier: Sie erblickten sie selbst, unmittelbar und nah. So wie hohe Vögel sie sähen, wenn es dort welche geben könnte.

Als sie dann glücklich wieder hier unten auf dem alten Erdboden standen, umringt von Zeitungsleuten, erzählte einer der Heimgekehrten: "Der Mond ist eine kalte und leblose Welt von schwarz und weiß und grau... Ich möchte wissen, wie alle die Dichter und Liederkomponisten so romantische Dinge vom Mond sagen können." 2

Auch solche, die nicht selber mit dabeigewesen waren, fühlten sich in der gleichen Weise verwirrt: "Generationen von Dichtern - von Li Tai Pe bis Eichendorff - die dem Mond wie einem guten Freund zutranken, ihn priesen ob seines milden Lichtes und seines stillen Ganges ... sie alle haben sich geirrt." 3


"Geirrt ..."? Was sagten sie denn, die Dichter? Haben sie verkündigen wollen, wie es da oben aussieht? Und wie kommen die beiden Zitierten dazu, sich selber nicht mehr zu trauen? Warum verleugnen sie, was doch wohl auch sie in ihren früheren Mondnächten wenigstens angerührt hat? Und was ja nichts anderes gewesen ist, als jenes, was die Dichter meinen. Ist das alles Schwärmerei?

Vielleicht ist es einfach: Sie kannten den Mond freundlich, und in der Nähe war er nichts weniger als das. Li Tai Pe trank ihm in der Tat zu wie einem alten Kumpan. Er würde es, meinen sie wohl, gelassen haben, wenn er die Reise schon einmal hätte mitmachen können. Ist es aber nicht auffällig, dass er den Mond als nicht immer heiteren Gefährten empfand?: "Wenn er als schmaler Strich am Himmel stand, war er ein Dolch, den ich mir in die Seite stieß, weil mich die Angst um dieses Leben nicht verließ." Und wer hat nie den Mond erlebt, wie er uns kalt und grausam anblicken kann, in überklaren Winternächten mit höhnischem Licht?

Kein Wunder, dass man lieber und häufiger an den "guten" Mond sich erinnert: "Mondeshand geleitet still den Wandrer hin und wider." 4

Auch Wiege kann er sein, aber nie ist das nur ein Formvergleich: "Singt ein flüsternd Wiegenlied, von dem Monde lernt die Weise, der so still am Himmel zieht." 5

"Still" geht er dahin, aber wie mächtig wirkt er auf uns: In der Periode seines Lichtwechsels bewegt er das Blut der Frauen, und die an den Küsten wohnen, erdulden das Fluten des Meeres mit seinem, des Mondes, Auf- und Untergang: "Wenn der Mond heraufkommt, wallt Meer über Erde, und es fühlt sich das Herz im unendlichen Eiland."6 Die Kranken werden unruhig unter dem Vollmond und seine Süchtigen treibt er auf die Dächer. Er segnet die Liebenden: "So oft der Mond will scheinen, gedenk ich dein allein"7 und erlöst die Gespaltenen: "Füllest wieder Busch und Tal still mit Nebelglanz, lösest endlich auch einmal meine Seele ganz."8 Immer meint er uns.

Sein Ort ist das Himmelszelt, wie wir es sehen, das Firmament. Dort wohnt er, Begleiter, Gespiele und Hirt der Wolken wie der Sterne. Nichts hindert uns freilich, ihn auch einmal herabgestiegen zu entdecken, wie er im Geäst eines Baumes klettert, selbst so fein und schmal wie die Blättchen, die über ihn hinwehen, zwischen den vielen dunklen ein Blatt von Gold. "Der Mond, gerundet wie ein Horn aus weichem Metall, tönt in der Stille der höchsten Zweige."9

Schon lange vor der Mondfahrt konnte man solchen Gedichten widersprechen: Schön und gut, doch nichts als Schwärmerei; romantisch, sentimental, Einbildung, nichts Wirkliches, dieser Mond der Sänger und Musikanten, der Liebenden und der Kranken. Stimmungssache, Erfindung...

Aber es bedarf gar keiner Gedichte. Wir kennen das, wovon sie reden, alle unter ganz alltäglichen Umständen: Ist nicht der Mond der große Stimmungsmeister? Niemals der Gleiche, wie auch man selbst. Unberechenbar wie das Geschick des Tages: wenn wir frühmorgens, noch im Dunkeln, vor's Haus treten, sehen wir uns nach ihm um, ob er Wache hält, wie es ihm heute geht und wie er uns findet: ein ernster Grußwechsel mit dem Überirdischen. Er erwidert unseren fragenden Blick, prüfend, mit Ermutigung oder Einwand. Er ist noch da. Er hat uns bemerkt, - doch schnell ist er wieder für sich, entrückt, tief beschäftigt im Wolkenland und im Meer der Sterne.

Nehmen wir das ernst, wollen wir es wahrhaben? Schon lange vor der Mondfahrt gab es Hemmungen: Das ist ja schön und gut, doch nicht wahr; nichts als romantische Schwärmerei, Einbildung, Erfindung, subjektiv. Aber: Subjektiv - wo wir alle es kennen? Erfindung - wo es uns überfällt?

Es gibt eine Romanfigur 10, die rigoros dem Erlebnis widerspricht: Ein Techniker, notgelandet, sieht über der nächtlichen mexikanischen Wüste einen - für seinen Begleiter - besonders eindrucksvollen Mond schweben. Aber der homo faber lässt diesen Eindruck nicht in sich hinein, wehrt sich, fühlt sich sachlich, hält sich an "Realitäten" (Stimmungen sind für ihn keine). So sagt er sich: "Ich bin Techniker und gewohnt, die Dinge zu sehen wie sie sind. Ich sehe den Mond über der Wüste, klarer als je, mag sein, aber eine erkennbare Masse, die um unseren Planeten kreist, eine Sache der Gravitation, aber wieso ein Erlebnis?"

Auch er ist verzaubert, aber vom Mond der Physik. Wer einmal dem Entdeckungszug nachgegangen ist, der die Allgemeine Schwere fand und den Begriff der Gravitation bildete, der wird das gut verstehen. Aber warum traut der homo faber nun nicht mehr seinen eigenen, unmittelbaren Erfahrungen, wie er da in der Wüste steht? Es fiele ihm nicht schwer zu antworten: Euer Mond ist nicht wahr: Er sitzt nicht im Baum, er tönt nicht, er wandert nicht am Himmel. Auch den Himmel gibt es nicht; in Wirklichkeit blicken wir da, wo wir das Firmament zu sehen glauben, in tiefen grundlosen Raum. Wir wissen das schon ein paar hundert Jahre lang. Der Dichtermond ist eine vollkommene, wenn auch willkommene, Täuschung. Er meint uns nicht, er weiß nichts von uns, er kann nichts wissen, kann um nichts sich kümmern, denn er ist nichts als ein toter Steinball, Fels und Staub.

Es ist wahrscheinlich, dass die meisten von uns, die in eine Schule gegangen sind, falls sie ernst befragt würden, welcher nun der "wirkliche" Mond sei, vielleicht nach einem etwas verlegenen Zögern für diesen physikalischen Mond stimmen würden.

Vermutlich unterwerfen wir uns dem wissenschaftlichen Mond wegen der Genauigkeit seiner Daten (Entfernung, Radius, Umlaufzeit, Masse), von deren Richtigkeit sich jeder überzeugen kann, wenn er einen guten Lehrer findet. Hier herrscht genaue Objektivität, es gibt kein Aber. Hier findet sich eine Präzision, die - wenn sie einmal verstanden ist - jeden in Entzücken versetzt, der klare Aussagen liebt. Man weiß "woran man ist". Wir sind auf etwas Festes gestoßen, auf "Grund". Aber ist es deshalb schon alles?

Es kommt hinzu, dass diese Kennzeichen des Mondes mit denen aller anderen körperlichen Dinge in einem berechenbaren Zusammenhang stehen. (Das meint jener Techniker, wenn ihm das Wort "Gravitation" einfällt.)

Auch macht es uns großen Eindruck, dass Physik erst die modernen Maschinen und Instrumente zur Erweiterung unserer Sinne möglich gemacht hat. In ihnen herrschen wir. Herrschaft imponiert. Dabei ist es allerdings nicht etwa Herrschaft "über die Natur", wie manche leichtfertig sagen, sondern nur über das Innere der Maschinen, weil wir uns dort den Ergebnissen der Physik anpassen; sorgsam, oft sogar furchtsam, in Raketen wie in Reaktoren.

Genau also und - in Grenzen - bemächtigend ist Physik in all dem, was sie herausbringt (die Naturgesetze) und was sie hervorbringt (die moderne Technik). Der Mond der Physik, der berechnete, ist derselbe wie der von den Astronauten betretene. Sie haben den wissenschaftlichen Mond nur bestätigt. Wer ein wenig naturwissenschaftlich Bescheid wusste, konnte nicht erstaunt sein über ihre Berichte. Und umgekehrt: Nur weil die Physiker schon fast alles wussten - etwa: wieviel leichter ein Mensch auf dem Monde ist als hier auf dem Erdboden - konnte der Flug überhaupt geplant werden und gelingen.

Deshalb hoffen manche, in der Richtung des physikalischen Forschens den eigentlichen, den letzten Grund der Welt einmal zu finden. Darum möchten sie auch den steinernen Mondball da draußen, der doch (so scheint es) mit uns nichts zu tun hat, für den wahren erklären und den Zauber-Mond, mit dem unser Inneres "es hat", für eine liebenswerte Illusion. Ist es so einfach?

Physik hat es nicht immer gegeben. Als sie anfing, fand sie nicht schnellen Weg zur Macht und auch nicht gleich Sympathie. Einer der ersten Physiker war der Grieche Anaxagoras, vor etwa 25 Jahrhunderten erst. Als er die Stirn hatte, die Sonne für "nichts als" einen feuerglühenden Metallklumpen zu erklären, wollte man davon nichts hören; und wohl auch deshalb musste er seine Stadt Athen verlassen, als einer, "der sich gegen die Götter versündigte". Heute, umgekehrt, würde, wer des Anaxagoras Satz für falsch erklärte, der öffentlichen Missachtung ausgesetzt sein.

Wie mag er zu seiner damals ketzerischen, heute herrschenden Meinung gekommen sein? Vielleicht hat er (und mit ihm einige andere) zum ersten Male so gedacht, wie es uns heute so leicht eingeht: Ich will jetzt nicht danach fragen, was der Mond (oder die Sonne) für mich ist, oder auch für manche andere Menschen in gewissen Nächten, wenn sie in Stimmung sind. Ich will wissen, was er "an sich" ist, nicht für uns Menschen, sondern "eigentlich". Dazu muss ich von mir und allen anderen Menschen absehen und von den, was er mir und uns bedeutet; muss ihn in die Zange nehmen dessen, worüber es keinen Zwist geben kann: Maß und Zahl in Raum und Zeit.

So begann man am Mond zu messen (was gar nicht so schwer ist): Wie hoch über der Erde er denn steht und geht, ob vor oder hinter den Sternen, ob näher als die Sonne oder ferner. Jeder kann das mitdenken und selbst prüfen. Es hat alles seine Richtigkeit: 30 Erdkugeln würden den Weg zu ihm füllen. Er umkreist uns monatlich und braucht dabei für den Kilometer etwa eine Sekunde. Er ist viel näher als die Sonne, rund 400 mal, und beide sind unvergleichlich viel näher als die Sterne (die Handvoll Planeten ausgenommen). Dies alles "stimmt". So haben wir das Gefühl: Wir wissen damit, was er "wirklich ist", nicht für uns, sondern "an und für sich".

Man muss diesen letzten Satz zweimal überlegen, um einen leichten Stoß zu verspüren von einer Klippe, über die unser Denken dabei leicht hinweggeflossen ist. Beim Umgang mit solchen Stößen ist es immer gut, den Worten nachzugehen, die wir vielleicht gedankenlos gebrauchen: Was bedeutet "wirklich", was "eigentlich"? Was soll es heißen: "an und für sich" oder "nichts als"? Und vor allem diese rätselhafte Wendung "es gibt" (wenn wir etwa sagen: Es gibt doch nur einen Mond!). Was oder wer "gibt" uns hier etwas?

Können wir denn überhaupt wissen wollen, was der Mond "an und für sich" "ist", also nicht für uns, sondern ohne uns? Kann der Mensch den Menschen ausschalten? Ist Messen und Rechnen in Raum und Zeit nicht auch unser Vermögen? Uns darauf zu beschränken, wäre das nicht ein Entschluss, und zwar unserer?

Es hat also keinen Sinn, auch nur zu fragen, was der Mond (oder irgend ein Ding) an und für sich sei. Wir sind immer beteiligt, immer dabei. Freilich nicht immer in derselben "Verfassung".

Wenn wir nun physikalisch (astronomisch) von ihm sprechen, nach Maß und Zahl also und nur das, so sind wir offenbar nicht vollständig anwesend, nicht "ganz da", denn wir sind ja nicht nur messende Wesen. Wir schränken uns als Messende ein, sehen ab von allem anderen. Es kann uns zwar, wider Willen, geschehen, dass wir beim Ausmessen etwa des Sichelmondes abschweifen, er uns auf einmal wie ein lächelnder Mund vorkommt. Wir weisen das dann ab, wir sind vom Messen gefangen, sind befangen und wollen es sein. Für unseren unbefangenen Blick aber (und für seinen gehobenen Sprecher, den Dichter) "stimmte" es schon, das mit dem lächelnden Mund. Es entsprach dem Einbruch einer Stimmung.

Auch die physikalische Verfassung könnte man, etwas gewagt, eine Stimmung nennen, eine "Gestimmtheit", eine sehr nüchterne, sachlich, kühle. Was sie herausbringt, ist "richtig". Und deshalb konnten es die Astronauten auch bestätigen. Was sie bestätigen, ist indessen nur Entfernung, Größe (Krümmung), Schwerkraft.

Dass sie dort oben aber eine Wüste vorfanden, das können sie nicht den Dichtern vorwerfen. Auch wenn sie in einem Blumengarten gelandet wären: Die Dichter haben den Mond - da draußen - so wie er in der Nähe aussehen könnte, nie gemeint!.

Sie sprechen von Mond am Firmament, wie er sich für uns hier unten kundgibt, wenn wir ganz unbefangen sind, uns nicht einschränken und von nichts absehen. Kein Himmels-"Körper" ist er dann, sondern eine Lichtgestalt. (Kepler konnte noch sagen: ein "Geschöpf".)

Diesem Mond der Dichter kann keine Rakete, kein Astronauten-Besuch und -Bericht etwas anhaben. Er ist davon nicht betroffen, ist unverletzlich. (Nur wenn es uns gelänge, den Mond ganz aus seiner Bahn zu werfen, in beliebige Weiten zu schießen oder zu verdampfen: dann ginge freilich auch der Mond der Dichter verloren, beide wären nur noch Vergangenheit. Aber auch wir wären es: Eine solche Verstoßung würde die schrecklichste Rückwirkung auf die ganze Erde haben, eine Flutkatastrophe ohne Vorbild würde uns alle ertränken.)

Dem Dichter liegt es ganz fern, den Mond in der Nähe sehen zu wollen. So wie niemand auf den Gedanken kommen wird, ein befreundetes Menschengesicht aus einer Fingerbreite Abstand oder durch die Lupe zu betrachten. Es gehört sich nicht. Wir erlauben es nur dem Arzt.

Der Astronaut, als er den Dichter nicht mehr verstand, erlag dem Vorurteil, das gewaltsam in die Nähe Gebrachte zeige das eigentlich Wirkliche. - Solang wir den Mond als Freund sehen können, den "Hausfreund" Johann Peter Hebels, solang gehört es sich nicht, ihm zu nahe zu treten.

Der Dichter sieht den Mond nicht "gegenständlich". Er erblickt ihn physiognomisch, als ein Gegenüber, das auch uns "anblickt", ein Antlitz, zugehörig dem Antlitz des Himmels mit seinen Wolken und Sternen.

Nehmen wir den Mond aber räumlich, physikalisch, astronomisch, so reißen wir ihn ohne Bedenken aus dieser seiner physiognomischen Zugehörigkeit heraus. Das Antlitz zerfällt. Genauso ist es, wenn wir ihm zu nahe kommen. Ein Antlitz ist nur aus einer gewissen Entfernung ein Antlitz. Tritt man ihm zu nahe, so ist sein Charme dahin.

Vielleicht haben wir noch einen letzten Rückfall und fragen, so naiv wie unsere Sprache fragt, doch noch einmal: "Aber welcher Mond ist nun der Mond selber? Mond ist Mond! Einen kann es nur geben!"

Es gibt für uns keinen Mond ohne uns. Kein "Mond-selber" kann uns von irgend einer Macht gegeben werden. Wir sind immer dabei.

Da wir aber in verschiedenen Verfassungen leben können, so sind beide Monde wirklich, einer wie der andere, jeder von beiden mit seinen Vorzügen und Verzichten. Wir können nicht beweisen, dass eine dieser beiden Verfassungen unsere eigentliche wäre, es sei denn, wir versteifen uns auf eine von beiden.

Der Mond der Dichter kommt aus der Fülle aller unserer Zuwendungsmöglichkeiten. Wir sind offen, sehen alles was wir sehen so, wie es uns ansieht. Wir sehen von nichts ab.

Des Mondes der Physiker, der Astronomen, bemächtigen wir uns erst durch eine Beschränkung von uns selbst auf den messenden Verstand allein. Der Lohn ist die Bemächtigung: Wir kommen hinauf!

Wir können in der einen und wir können in der anderen Verfassung sein und können uns in jeder von beiden einrichten, als gäbe es die andere nicht. Unsere ganze Freiheit aber gewinnen wir erst, wenn wir im Laufe eines tiefen Atemzuges umspringen können von der einen in die andere, von dem einen Aspekt in den anderen.

Der Maler, der die Mondsichel zeichnet, wie sie in Geäst eines Baumes nistet, blinkt und blickt, der braucht nicht zu fragen, wie diese Sichelform zustandekommt als Beleuchtungsfigur einer dunklen Kugel im Sonnenschein (Die Kugel-in-der-Sichel). Aber wenn er will, so kann er auch dies anschauen und verstehen wollen und vergisst vielleicht darüber für einen Augenblick den malerischen Mondbaum. Er braucht sich deshalb nicht zu spalten. Er kann lernen, eines in anderen zu sehen. Er lebt in der Schwebe der Aspekte, der Natur-"Auffassungen".

Wer aber absolut einen "einzig wirklichen" Mond haben will, der kann das nur durch willkürliche Unterdrückung des einen durch den anderen, durch eine autoritäre innere Beschlussfassung. Das läuft auf eine Art Ernennung hinaus, die für keinen anderen Menschen bindend sein kann. Wählt er den Mond der Dichter, so macht er sich blind für die physikalische Seite der Wirklichkeit und verschließt sich damit vor den Verstehen der modernen Wissenschaft und Technik; erwählt er (wie jener Techniker) den physikalischen Mond (was er übrigens im Ernst kaum fertigbringt), so verödet er seine Wahrnehmungskraft, verschreibt sich der Verfassung, in der wir zwar die Bemächtigung erlernen: Wieso aber sollte der bemächtigende Zugriff derjenige sein, der allein uns die Wahrheit erfassen lässt? Dieser Glaube (Aberglaube) ist offenbar keine Einsicht, sondern ein (wenn auch unserer Epoche naheliegender) Beschluss, sich mit dem bemächtigenden, doch manches andere verschweigenden Verstehen zu begnügen. Gewiss kann eine uns einschränkende Verfassung zu großen Erfolgen führen, aber dann natürlich zu einseitigen und deshalb Gefahren bergenden, die sich manchmal erst spät ankündigen, doch heute schon deutlich genug.

Der Gipfel der physikalischen Selbst-Verstümmelung ist erreicht (und kommt vor), wenn wir nicht nur unsere und Anderer Stimmungen als Einbildungen verleugnen, sondern sogar das Rot und Grün der farbigen Welt als Illusionen verleumden, erzeugt von den "allein wirklichen Wellenlängen der elektromagnetischen Strahlung" (so wie der homo faber sich auf die gelernte "Gravitation" zurückzieht).

Jeder der beiden Beschlüsse würde eine Entsagung bedeuten, die wir nicht nötig haben. Der physikalische Mond kann den Dichtermond nichts tun, kann ihn nicht korrigieren wollen. Wie denn überhaupt Physik keine Natur-Korrektur ist. (Nicht einmal der geozentrischen Darstellung. Heisenberg hat in einem Vortrag einmal bemerkt, dass die moderne Physik ihr nicht widerspricht, insofern der Michelson-Versuch und die Relativitätstheorie auch erlauben, die Erde als ruhend anzusetzen. "Wenn man eingesehen hat, dass die Begriffe ("Ruhe" und "Bewegung") keine absolute Bedeutung besitzen, dass sie sich auf die Relation zwischen zwei Körpern beziehen, so ist es willkürlich, ob man Sonne oder Erde als ruhend oder bewegt ansieht. Dann besteht erst recht kein Grund, das alte Weltbild zu ändern." Der relativistischen Erleichterung bedürfen wir also streng genommen nicht. Klassische und moderne Physik sind beide Physik. Beiden gegenüber steht es uns frei, die nicht-physikalische, die physiognomische Weltsicht des Erdbodens-unter-dem-Himmelszelt als eine wirkliche wahr zu haben. Der Übergang von ihr zur Physik ist nicht der überwindende, der richtigstellende Schritt zur Wahrheit, er bringt ihre Umsetzung in eine auf die andere Weise wirkliche, genaue aber enge Naturauffassung.)

Es geht nicht allein um den Mond: Seit kurzem kennen wir auch Venus in zweierlei Fassung. Durch Jahrtausende war sie uns nur der Abend- und Morgenstern, der das Sonnen-Gestirn umschwingt und dabei jedesmal zum gleißendsten aller Sterne aufglänzt, um dann wieder unauffällig zu werden. Jetzt sind unsere fliegenden Registriermaschinen ihr nahegekommen und erschrecken uns, diesmal nicht durch nackte Kraterwüsten wie auf Mond und Mars, sondern durch ein höllisch aufgeheiztes Gewölk.

Aber bleiben wir beim Mond. Er ist nur ein Exempel, wenn auch das uns in jeder Weise nächste: alle Kinder kennen ihn. Bleiben wir ungestört seinem Zauber treu, den uralten Gefährten unserer - und der hunderttausendjährigen Ahnen - Nächte. Wenn wir außerdem das Glück haben, den physikalisierten Mond richtig zu verstehen, dann fühlen wir uns bereichert, nicht korrigiert, nicht ernüchtert.

So "gibt es" also eine zur Physik komplementäre Natur-Zuwendung, damit auch Himmels-Zuwendung, die keine Instrumente dazwischenkommen lässt und keiner Einschränkung unseres Wesens bedarf, die im Freien mit freiem Auge aufblickt, unmittelbar; nicht scharf, nicht zerstückelnd; bereit, eine Erkenntnis zu empfangen, "welche die ungetheilten Kräfte des Menschen fordert"11, nicht eine "Wissenschaft" von der Natur, eher eine Verständigung mit ihr.

In unseren Schulen gibt es zwei Monde. Sie treten in verschiedenen Räumen auf; hart und nackt der eine, der andere leise und verschleiert; vorgeführt von zwei verschiedenen Fachlehrern. Was der eine Mond mit dem anderen zu tun hat, davon wird nicht gesprochen. Gibt es den Deutschlehrer, der ein Mondgedicht bespricht und dem der Glanz der newtonschen Mondrechnung noch gegenwärtig ist (wobei die still durch die Sternbilder pilgernde Lichtgestalt zur überschnell und unaufhörlich sich weiterschleudernden riesigen Felskugel nicht enthüllt) sondern reduziert wird)? Kann man sich einen Physiklehrer denken, der zur Einleitung dieser Mondrechnung die unvergleichlichen Sätze Johann Peter Hebels seinem Schüler vorliest, dem die Dunstglocke der Städte den Horizont geraubt hat?:

"Wenn aber früh die Sonne in ihrer stillen Herrlichkeit aufgeht, so weiß er nicht, wo sie herkommt, und wenn sie abends untergeht, weiß er nicht, wo sie hinzieht und wo sie die Nacht hindurch ihr Licht verbirgt, und auf welchem geheimen Fußpfad sie die Berge ihres Aufgangs wiederfindet. Oder wenn der Mond einmal bleich und mager, ein andermal rund und voll durch die Nacht spaziert, er weiß wieder nicht, wo das herrührt."

Dabei führen Hebels "Betrachtungen über das Weltgebäude" durchaus zu dem kopernikanischen Gefüge als dem, "wo das herrührt". Hebel, schreibt Heidegger 12, "zeigt die Natur auch in ihrer wissenschaftlichen Berechenbarkeit. Aber er verliert sich nicht in diese Naturauffassung". Unser Schulunterricht hat sich seit langem dorthin verloren. Seit kurzem sind wir jedoch freier geworden und durch die Selbsterkenntnisse der Physik des 20. Jahrhunderts auch vom kopernikanischen Bild unabhängiger. Selbst innerhalb der Physik hat es als menschliche Konstruktion nur den großen Vorzug der Einfachheit, nicht der tieferen Wirklichkeit.

Unsere Schulbücher 13 pflegen, vorlaut wie sie sind, gleich von der "scheinbaren" Himmelskuppel zu sprechen und den "scheinbaren" Bewegungen der Planeten auf ihr. Es ist klar, was sie meinen. Aber sie gefährden, sie verleumden mit dem Wort "scheinbar" im Kinde Wirklichkeiten 14, denen keine Physik, kein kopernikanisches System, keine Astronomie, keine Astronauten-Fotos etwas anhaben können. Es ist nichts Scheinbares, was der Himmel mit seinen über den Mond jagenden Wolken, ein andermal als hoher Sommerhimmel sagen kann. Nur wir sind dann nicht in der physikalisierenden Verfassung.

Niemals also sollte ein Schulkind auch nur im geringsten, und sei es auch unbewusst, eine Art schlechten Gewissens spüren, wenn es den Mond "noch immer" als den Freund der Wolken und seiner selbst über das Himmelszelt gehen sieht: verwirrt von den gelernten Gerede, dies alles sei "nur Schein". Niemals sollte es sich gespalten fühlen, wenn es einmal astronomischen Schlüssen und astronautischen Demonstrationen nachgeht und es doch - zum Glück - nicht lassen kann, ein andermal Erfahrungen, Ahnungen, Gedichten sich zu öffnen, in denen der Mond keineswegs als Kugel von der Masse m und die Erde nicht als Ball empfunden wird. Helfen wir dem Kinde, zu verstehen: Es selbst lebt dann nicht in einer scheinbaren, sondern in einer volleren und weniger eingeschränkten Wirklichkeit als in der mittelbaren, instrumentalen, astronomischen und astronautischen Zuschauersicht. Seine ursprüngliche Wirklichkeit ist keine "objektive" zwar, aber doch auch mehr als eine private, da sie immer wieder einzelne von uns innerlich miteinander verbinden und in der Kunst sogar auf Unbeteiligte übergreifen lassen kann. Es ist die Wirklichkeit, die uns sagen lässt: "Hier", auf dem "Erdreich unter dem Himmelszelt" "wohnen" wir. Dieses "Hier" hat keine Koordinaten, und dieses "Wohnen" dauert in einer Weise, die durch kein Pendel messbar ist. "Erde" und "Himmel" werden hier nicht für den messenden Verstand eingeschränkt, sondern in ihrer ganzen Fülle mit allen seelischen Organen wahrgenommen. Dabei distanzieren wir uns nicht, wir identifizieren uns. Eine Art der Zuwendung, ja der Vereinigung ist das, die, wenn sie uns einmal gegeben ist, an Wirklichkeit nichts zu wünschen übrig lässt. Wer gar nichts gelernt hat von den astronomischen Erkenntnissen, lebt zwar in wissenschaftlicher Armut, doch in Geborgenheit, glücklicher und reifer als jener, der auf falsche Art "weiß": verwirrt, entwurzelt, gespalten. Wer aber die physikalisch-astronomische Auffassung als einschränkende verstanden hat, braucht nichts an Geborgenheit zu verlieren und kann viel an Staunen gewinnen.

"Man sagt, zwischen zwei entgegengesetzten Meinungen liege die Wahrheit mitten inne. Keineswegs! Das Problem liegt dazwischen, das Unschaubare, das ewig tätige Leben, in Ruhe gedacht." 15

Unter den griechischen Göttern ("... keine 'Personifikationen'. Sie öffnen den Blick für das Wesenhafte und Wahre") ist die Mondgöttin Artemis die "unstete Königin der Einsamkeit, die Zauberische und Wilde, die Unnahbare und ewig Reine". Aber sie fordert auch Menschenopfer und "überfällt die menschlichen Behausungen mit unheimlicher Gewalt. Mit ihren sanften Geschossen lässt sie die Getroffenen schmerzlos verlöschen". 16

Die gefühlsstarke, ans Unbewusste grenzende, die physiognomische Naturauffassung, deren wir Zivilisierten noch verschämt fähig sind, ist ein Nachhall religiöser Haltung, dem frühen Menschen eigen und heute noch einigen "primitiven", "unterentwickelten" Gruppen. Wir wissen davon nur noch wenig.

Freunde in Mittelamerika, die dort mit den einfachen Bauern, den "campesinos" indianischer Herkunft in vertrautem Umgang leben, haben dazu etwas aufgeschrieben: 17

"Für unsere Bauern ist der Mond ein unbegreifliches, fast göttliches Wesen. Sie haben schon Angst, "lieber Mond" zu sagen. Deshalb träumen sie nicht vom Mond, er ist nicht "romantisch" und nicht "lieb" wie für Li Tai Pe oder ein "Saufkumpan" wie für Orff, aber auch nicht kalt und grausam. Unsere Bauern sind deshalb von uns viel weiter entfernt als wir, Sie und ich, vom Mond.

Für den Techniker ist der Mond fremder als für unseren Bauern, der ihn als unbegreifliches Zeichen der göttlichen Präsenz von Kind an kennt. Stimmungswerte können nur als solche anerkannt werden, wenn die physikalischen Kenntnisse schon überwunden sind. Nur dann wird er der Mond der Dichter, der Liebenden oder der Kranken. Dennoch ist für unsere Bauern der Schock beim Gedanken, dass auf dem Mond Menschen herumtrampeln, viel verheerender als für die Liebenden und Dichter.

Wenn einmal von unseren Bauern akzeptiert sein wird, dass Menschen aus Eitelkeit und Arroganz auf ihm herumgetrampelt sind, wird das Leid einen Weg suchen, wie gegenüber dem unendlichen Meer: Obwohl der Bauer sieht, dass das Meer endlos sogar unter seiner Oberfläche befahren, seziert und sogar beschmutzt wird, zweifelt er nicht daran, dass das Meer eigenen Willen und Macht hat, gegenüber denen auch die "Gelehrten" und "Techniker" nichts sind."

"In jener längst vergangenen Zeit
der offenen Prärie, als der Wind
noch die Sprache Amerikas war,
hatten die Indianer unter dem
Mond gelebt, zu ihm aufgeblickt,
waren ihm näher gewesen als je
ein Europäer."
Norman Mailer
18


___________________________
Fußnoten und Zitate:
1 Norman Mailer, Auf dem Mond ein Feuer, Droemer-Knaur, München/Zürich, 1971, S. 176.
2 Der Astronaut Lovell auf einer Pressekonferenz, Ende Dez. 1968.
3 Retina, Kodak Revue 1969/1, S. 28.
4 Li Tai Pe
5 Brentano
6 Lorca
7 Brentano
8 Goethe
9 Federico Garcia Lorca, in einem Aufsatz "Wie entsteht ein Gedicht?"
10 Max Frisch: Homo Faber, Suhrkamp Bibliothek, Nr. 87, S.28 (Hervorhebungen hinzugefügt).
11 W. v. Humboldt, Werke, Bd. 3: Schriften zur Sprachphilosophie Wiss. Buchges. Darmstadt, 3. Aufl., 1963, S. 22.
Hier zitiert wegen der heute unüblichen und deshalb erhellenden Formulierung "ungetheilte Kräfte"; zu unterscheiden von den isolierten Verstandesmitteln. Humboldt wendet sich gegen die eng-rationalistische Auffassung, nach der die Worte einer Sprache nichts als Bezeichnungsmittel seien, nur erfundene, in sich gleichgültige Zeichen. - Das ist die linguistische Parallele zu der physikalistischen Reduktion des Mondes als einer Sache nur der Gravitation. Näheres bei S. Mumm: Zur Propädeutik der Linguistik: Wort und Zeichen; in: Germanistische Linguistik 1/2, Marburg, Forschungsinstitut für deutsche Sprache.
12 M. Heidegger, Hebel, Der Hausfreund. Neske, Pfullingen, 3. Aufl. 1965, S. 20 f.
13 Der folgende Absatz ist, leicht überarbeitet, übernommen aus meinem Aufsatz "Die Erfahrung des Erdballs", in "Ursprüngliches Verstehen und Exaktes Denken", Bd. II. Klett/Stuttgart, 1970, S. 55 f. [Bibliografie-Nr. 10 / 13]
14 Vgl. Horst Rumpf: Inoffizielle Weltversionen - Über die subjektive Bedeutung von Lehrinhalten. In: Zeitschrift für Pädagogik, 1979/2, S. 209.
15 Artemis-Goethe-Gedenkausgabe, Bd. 9, S. 580. Goethe sei hier mit Respekt zitiert, obwohl es ihm selber nicht gelang, seine und die newtonsche Farbenlehre als zwei einander nicht ausschließende Sehensweisen anzuerkennen. Ein Zeichen, wie schwer es ist.
16 Walter F. Otto, Theophania, rowohlts deutsche Enzyklopädie, Bd. 15, Hamburg, 1956, S. 76, 93 ff. - Siehe auch Anna Seghers, Sagen von Artemis. In: Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Bd. VII, S.70 ff. - Aufbau Verlag, Berlin W 8, 1956.
17 Siehe hierzu auch Wagenschein "Lehren mit Respekt" Scheidewege, Heft 2/1977. [Bibliografie-Nr. 207]
18 a. a. 0. S. 106.

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