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* Herr Professor Wagenschein, Sie haben einmal geschrieben und ich darf zitieren: "Über die geisttötenden Folgen der stofflichen Überlastung der Lehrpläne sind sich die Verantwortlichen noch nie so klar gewesen wie heute. Der Ruf nach Stoffbeschränkung ist allgemein. Trotzdem darf man nicht zu optimistisch sein, es wird noch eine Zeit lang dauern, bis Kinder und Lehrer von diesem Unglück befreit sein werden." Dass Sie dies sagten, ist nun zwanzig Jahre her. Sind die Lehrpläne besser geworden oder töten sie noch immer den Geist, auf den es Ihnen ankommt?
# Ich bin ja nicht mehr ganz kompetent, weil ich nicht mehr in der Schule bin, und nur, wenn man drin ist, weiß man genau, was drin passiert und wie es wirkt. Aber von außen habe ich den Eindruck, es ist nicht besser geworden, allerdings hat man einiges erkannt. Sogar die Physiker haben bemerkt, dass sie zu hoch stapeln und sogar die Hochschulphysiker raten, etwas verständlicher und einfacher zu werden. Man wird sehen, was daraus wird. Aber das Schlimme ist ja doch eigentlich nicht dies allein, sondern die Kombination mit dem üblen Notenglauben, dem Glauben an die Noten, wieweit das die Qualität des Unterrichts verdirbt, insofern die Motivation verdorben wird. Die sachliche Motivation für die Sache, die ist fast vergessen, die Kinder arbeiten für die Note. Und dass das die Pädagogen noch nicht zu einem Angriff veranlasst hat, wundert mich. Auf die Schule überhaupt.
* Sehen Sie da einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Stoffhuberei, wenn ich das mal so sagen darf, und dem Problem der Notengebung?
# Das kommt dazu, das ist additiv für mich, aber es wirkt beides in Richtung der Information, der bloßen Information, und das ergibt den Verlust des Verstehens.
* So könnte man ja heute sagen, dass es gerade heute, wo die naturwissenschaftlichen Fächer in unseren Schulen so expandieren, dass es gerade heute darauf ankommt, in der Schule möglichst viel Stoff an die Kinder heranzutragen.
# Glauben Sie wirklich, was Sie da sagen?
* Ich frage Martin Wagenschein.
# Halten Sie es für möglich, dass das vernünftig wäre? Ich habe den Eindruck, dass die Naturwissenschaftler durch ihre Emigration in das Abstrakte, die moderne Physik etwa, nicht wahr, wer sich da lange aufhält, die verlieren die Potenz für Pädagogisches. Ist ganz natürlich, jeder Mensch bringt doch eine gewisse pädagogische Anlage mit, Frauen besonders, und wenn nun ein Fach so im Laufe eines Jahrhunderts dermaßen ins Abstrakte schreiten muss, - muss - dann verliert sich doch der Sinn dafür, was Kinder verstehen.
Nun haben wir am Anfang, das werde ich Ihnen nachher zeigen, ausgehend von einem Phänomen, das merkwürdig ist, rätselhaft, damit hat man eine Motivation. Man hat die richtige Motivation, weil Galilei auch davon ausgegangen ist, dass er, wie er sagt, es nicht aushält, es unerträglich findet, dass man nichts weiß, wie gewisse Dinge... wo die Ursache steckt. Es erscheint wunderbar, ist aber nicht kausal verständlich. Eine einzige Wurzel dafür finden, von der müssen wir ja auch ausgehen. Galilei ging ja auch so aus, er sprach ja auch Italienisch, und das Fallgesetz auf Deutsch steht bei ihm italienisch und nicht als Formel. Die gab es noch nicht.
Das heißt doch, dass ich anfangen muss mit der Muttersprache, weil aus ihr sich die andere Sprache herauslöst und zwar abstrahiert, sonst wird nichts verstanden, es wird nur gelernt. Und dieser Sinn für das Verstehen, der verdunstet zur Zeit und der kann natürlich nicht an allen Stellen garantiert werden, das verstehe ich, dafür ist viel zu viel Zeug, sondern nur an einzelnen Stellen, und das bedeutet "exemplarisch", dass man einzelne Stellen nimmt, zugreift darauf, wo versucht wird, alles zu Fragende wirklich zu verstehen.
Ich beschreibe Ihnen nun einfach ein Verfahren, wodurch ich glaube, dass man diese Stoffülle und den Verlust des Verstehens sozusagen unterlaufen kann. Wenn man ab und zu an ausgewählten Themen anders arbeitet, ich sage Ihnen zunächst, wie die Themen sein müssen. Ich habe ein Repertoire von vielleicht zehn, mehr habe ich noch nicht. Das Thema muss so sein wie die galileischen Themen sind. Es muss also ein Kernproblem da sein, dass die Eigenschaft hat, dass man darüber stolpert beim Aufnehmen, man wundert sich, das ist rätselhaft, eine Sache, die im höchsten Maß erstaunlich ist, und zwar nicht so, dass man sich fürchtet, sondern dass sich gewundert wird. Dass sie also zu schön ist um wahr zu sein.
Einfach etwa, wenn Sie ein Dreieck sich hinmalen und dann die sogenannten Winkelhalbierenden zeichnen... Nicht dass sie diesen Namen haben müssen, gar nicht. Nein, nein, nicht Fachsprache, nichts, gar nichts. Ein Dreieck muss ja auch nicht Winkel halbieren. Sie gehen in der Mitte, zwischen den Schenkeln des Winkels gehen sie durch, immer schön in der Mitte, nicht? Sie können sich 's vorstellen? Ich sage Ihnen jetzt, wie ich das auch einführe für die Schüler, denn ich habe ja oft die Aufgabe nicht bloß Rätsel zu... ich hab kein... ich hab nur die Aufgabe, das Rätsel zu stellen, und es sogar zu verstärken, die Rätselhaftigkeit, indem ich etwa sage: "Aus einer dieser Ecken vom Dreieck kommt also diese Winkelhalbierende heraus, aus der anderen Ecke kommt eine zweite, versteht ihr? Dass sie sich dann schneiden, in einem Punkt, ist ja klar. Hm. Müssen sich ja schneiden. Aber jetzt kommt aus der dritten Ecke eine ..." Und dann erlaub ich mir zu sagen: "...die weiß von nichts..." Worauf die Kollegen von der Schule empört sind -die weiß von nichts- "...die hat nur im Kopf, immer auch zu ihren beiden Schenkeln entlang zu laufen." Und dann sieht man, das kann jeder auf seiner Zeichnung sehen, die steuert genau auf den Schnittpunkt von den beiden anderen los. Kann man das verstehen oder nicht? Ist doch rätselhaft. Also solche Themen. Das Thema muss so sein, dass die sachliche Motivation sicher ist. Das heißt, es ist nicht nötig, dass ich sage: "Jetzt passt mal schön auf!" oder: "Das müsst ihr später haben, das ist nötig für das sogenannte Leben" oder: "es steht im Lehrplan, muss gemacht werden" sondern: "seht euch das an und dann sagt, was ihr meint." Und dann geht 's los, da brauch ich nicht mehr viel zu tun. Also so muss es sein und so kann es auch sein. Also ich hab vor, das für einige solche Exempla genau aufzuschreiben, das ist sehr schwer, denn weil es mir so klar ist, das Eigene kann man nicht gut beschreiben.
Das ist das eine: Welche Eigenschaften das Thema haben muss. Das zweite... ist auch klar, dass das genetisch ist, nicht? Die Dinge entstehen, sie werden nicht einfach vorgeführt oder hingeknallt, sondern sie entstehen und man sieht, wie das kommt, und man fragt sich: "Was ist da los?"
Das zweite -also das waren die Eigenschaften, die das Thema haben muss- jetzt kommt etwas ganz wichtiges, das ist die Regel des Gespräches -dass das möglich ist, weiß ich, aber es klingt so, als wäre es unmöglich- : Jeder Wettstreit fällt aus, absolut, ganz unwichtig. Außerdem jede Zeitbegrenzung, wenn es klingelt, dann ist es so als wenn es donnert, da hört man eben auf, macht weiter. Aber das Thema bleibt dann in der Schwebe und arbeitet da. Die Teilnehmer, das haben Sie sich zu denken jetzt, die Teilnehmer sitzen also um das vom Lehrer exponierte Thema, ein Initiationsthema, ein Initiationsproblem seiner Natur nach, das stell ich hin und dann heißt die Frage nur: "Wie kann man das lösen, wie kann man diese Merkwürdigkeit aufklären?"
Das Thema muss so sein, dass man es mit dem gesunden Menschenverstand kann. Es muss so sein, dass man, wenn man es löst, dabei gezwungen ist physikalische Begriffe zu bilden, die vorher nicht da waren, die aber notwendig auftreten. Es ist... ja, gehört auch noch zum Thema: Das Gespräch, wie gesagt, hat folgende Regeln: Jeder sitzt unter Freunden, wir sind also eine Gruppe, die miteinander verstehen will. Miteinander verstehen heißt aber wirklich miteinander, nicht ich weiß, der meint, dass der schläft und nicht auf den Lehrer achtet. Alle machen mit. Der Lehrer ist auch dabei. Die Bedingung ist, dass jeder, wenn er etwas sagt zu der Aufklärung des Ganzen, sich an alle wendet, immer an alle, alle Anwesenden. In der Praxis sieht er den Lehrer an. Und dass alle zuhören, was jeder sagt. Und wenn einem was nicht genehm ist, dass man solange mit ihm spricht. Verboten ist es, einen in der Weise zu belehren, dass man also Schulkenntnisse anführt, die sind alle nicht da., denn das ist rein verbales Zeug, und damit kann man nichts bewirken, das kommt dann bald heraus, da sagen sie dann irgendwas und dann zeigt es sich: Ja, aber verstanden haben sie es doch gar nicht. "Nein, das habe ich nicht mehr verstanden, ich kann mich nur erinnern, dass ich es früher mal verstanden habe." Darauf können wir nicht bauen, nicht? Da können die anderen auch nicht bauen, wenn einer das sagt, obwohl es wohl so ist. Es muss also bis unten hin verstanden werden, bis auf den Grund, bis auf Granit. Und der Chemiker Seipert, kennen Sie das schon? Seipert sagt: "Der Stolperstein ist das Fundament." Das Rätsel, das am Anfang steht, ist das Fundament, nicht die Begriffe. Die kommen zuletzt und sie kommen notwendig.
Ja, die Regeln noch: Jeder sagt alles, und zwar sagt er das, was er wirklich denkt. Das ist ja niemals richtig der Fall sonst, was er wirklich als Person denkt, nicht als Schüler, und er wird als solche Person angesehen. Hier wird er beachtet in allem was er sagt, auch wenn es Quatsch ist. Quatsch ist manchmal ganz wichtig. Irrtümer sind notwendig. Irrtümer werden nicht beiseite gewischt, es wird keine Frage gestellt, die unter den Tisch geschoben wird. Der Lehrer hat nicht die Aufgabe zu antworten oder aufzuklären, sondern er hat dafür zu sorgen, dass nicht ein Problem überlaufen wird, versteckt wird, diese Abkürzungswege, die die Schule manchmal macht. Wenn einer sagt: "Ja, aber...", wenn er sagt: "Ja, aber...", dann ist es gut. Und wenn er widerspricht am allerbesten. Was der Lehrer zu tun hat? Also der Lehrer hat nichts zu lehren, in einem produktiven Sinn, er hat möglichst überhaupt nichts zu sagen, aber er ist außerordentlich beschäftigt. Nämlich er ist äußerst aufmerksam auf das, was jeder sagt. Er unterscheidet nicht schwache und gute Schüler, das ist eine ganz oberflächliche Bezeichnung, sondern er weiß, dass einer langsam ist aber gründlich und ein anderer sehr clever ist. Und er bringt sie miteinander ins Gespräch und dann zeigt sich sehr oft, dass der Clevere ganz oberflächlich gedacht hat und der Langsame nach langer Zeit ganz gründlich war. Und deswegen gibt es ja auch keine Noten, wie gesagt, nix mit Noten, die verderben das ganze Klima. Und der Lehrer sorgt dafür, das ist seine Hauptaufgabe, dass diese Regeln eingehalten werden. Nicht, dass er einen anbrüllt, sondern möglichst unauffällig merkt... dass er darauf aufmerksam macht, dass zum Beispiel einer das Thema verlässt oder nicht zugehört hat und etwas ganz anderes anfängt, oder überhaupt nicht mehr klar ist, wovon die Rede war, das passiert sehr oft: "Wovon reden wir eigentlich, wir sind ganz abgekommen", nicht? - häufig.
Also der Lehrer steht nicht im Wege, vor allem steht er nicht insofern im Wege, als er anfängt zu dozieren. Die Versuchung ist natürlich immer da. Ich sage überhaupt nicht, dass ich das kann, was ich eben sage. Das heißt nur, dass es das Idealbild ist, gegen das man immer wieder verstößt. Aber es ist dem Lehrer auch erlaubt, manchmal, ja manchmal zu sagen, was er meint. Nicht, dass er die Sache erleichtert. Aber was er vielleicht sonst noch dazu denkt, was den Anfängern nicht so leicht im Kopf ist, dazu muss er die Freiheit haben. Aber nicht die ganze Geschichte aufklären, das nicht, niemals. Also er steht nicht im Wege, er steht am Wege, er steht "bei Seite" und immer steht er bei. Also ich glaube, organisatorisch gesehen, wenn wir solche Inseln einbauen, dann können wir etwas erreichen. Erstens ein Ergebnis und zweitens können wir vielleicht auch erreichen, dass diese Inseln etwas ausstrahlen, und erkennen, dass diese Stoffhuberei Selbsttäuschung ist. Aber das widerspricht gar nicht unbedingt, man gibt zu, dass es Informationen geben muss und wenn man eine solche Insel verlässt, das kann ein paar Wochen dauern, dann doziert man, so gut man kann, in der Physik mit allen möglichen Demonstrationen, gar nicht nötig, dass man das alles versteht. Wer kann denn das alles verstehen? Aber ich kann so sagen: Die Hauptsache ist, dass man wirklich scharf unterscheiden kann, was man versteht und was man nicht versteht. Nur dieses begrenzte Verstehen der Physik ist klarzumachen. Und dass es ein begrenztes ist, gehört dazu.
Ja. -
Ach so, ich hab hier was aufgebaut. Wollen Sie's mal sehen?
* Ja, sehr schön.

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