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Sierk Selaht

Ein geometrischer Satz einmal andersherum betrachtet
von Klaus Kohl


I. Für den Amateur - den Liebhaber, den Schüler:
"Nimm ein quadratisches Brett, einen Hammer und zwei Nägel! Schlage die zwei Nägel... nein, nicht in dieses Brett! Schlage sie ein Stück weit in den Boden, in die Wand, in ein anderes Brett, nicht zu nahe beieinander, aber doch so nahe, dass das quadratische Brett nicht durch die Lücke passt!"
Das ist der erste Schritt. Und jetzt tu so als ob du nun doch mit dem Brett durch die Lücke wolltest, schiebe, drehe und wende es hin und her, achte aber darauf, dass immer zwei Seiten des Brettes sich an den Nägeln reiben. Schiebe, drehe, und schaue auf die Bewegungen des Quadrates. Wie bewegt "es" sich? Gibt es einen Punkt, der in Ruhe bleibt, einen festen Drehpunkt? Vielleicht sein Mittelpunkt? Nein. Aber wie bewegt sich der Mittelpunkt, wie irgendwelche anderen Punkte der Quadratfläche? Nicht leicht, die Bahnen festzuhalten. Doch, es geht ganz einfach, bohre Löcher in das Quadrat und stecke einen Blei- oder noch besser einen Farbstift hindurch. Das gibt ganz aparte Muster. Bögen, Schleifen sind auch darunter. Kaum möglich, den Verlauf im Voraus abzuschätzen. Berechenbar? Ganz sicher, aber sicher schwierig. Doch achte jetzt einmal auf die Spitze des Quadrats, was macht sie denn? Die macht einen richtigen Kreisbogen. Wirklich? Genau? Miss mal mit dem Zirkel nach! Stimmt, und der Durchmesser dieses halben Kreises ist der Abstand der Nägel. Merkwürdig. Ich kann dir Sand auf den Boden streuen, dann räumt das Quadrat einen sauberen (Halb-)Kreis ab.
Muss es ein Quadrat sein? Nimm ein Rhombus! Schneide es aus Karton, das geht im Moment leichter. Das macht auch einen Kreis, aber mehr als einen halben, wenn du die spitze Spitze nimmst. Die "stumpfe Spitze" macht einen kleineren Kreisbogen. Und der Durchmesser? Schwierig. Muss es ein Quadrat sein? Nein, was "dahinter" ist, spielt ja gar keine Rolle, es kann auch ein Rechteck sein, ein Geo-Dreieck, irgendein rechter Winkel.
Rechter Winkel und Kreis? Ist da nicht etwas mit dem Thaleskreis?

II. Für den Profi, der es machen muss aber hoffentlich gerne tut.
So kann man also auch zu einem Kreis kommen, ganz ohne den Zirkel oder eine Schnur, um den Abstand zu einem Mittelpunkt konstant zu halten.
Ja, das ist ein etwas ungewohnter Einstieg in das Thema, sicher überraschend für den, der nicht sofort Bescheid weiß, worauf die Sache hinausläuft. Man mag sich Thales vorstellen, der eine Platte zwischen zwei Pfosten herumschiebt und sich den Kopf zerbricht, wie denn jetzt dieser Kreisbogen im Sand zustandekommt. Es macht an dieser Stelle nichts, wenn wir dem historischen Thales damit in keiner Weise näher kommen, es bleibt uns wohl für immer im vorsokratischen Dunst verborgen, was er denn jetzt wirklich - auch über den zu seinen Ehren benannten Kreis - herausgefunden hat [1]
Martin Wagenschein liebte solche überraschenden Einstiege, einige wurden und werden noch zu eigentlichen Lehrkunst-Stücken (nein, nicht Lehr-Kunststücken!) entwickelt [2]. Den Thaleskreis nennt Wagenschein "das Thalesphänomen" [3]. Seine Vorstellung: der Halbkreis ist vorgegeben, als griechisches Theater. Jeder Zuschauer, der von einem Ende seiner Sitzreihe zum anderen blickt, macht dabei eine Vierteldrehung. Dass dies so sein muss, beweist Wagenschein im Unterricht dann aber, indem er auf den Kreisbogen ganz verzichtet. Er reduziert das Phänomen in sorgfältigen kleinen Schritten schließlich auf zwei gleichschenklige Dreiecke, die sich den Durchmesser zur Hälfte aufteilen und eine Radiuslänge als zweiten gemeinsamen Schenkel haben. "Bei Zeus" würde auch Menons Sklave bei Platon ausgerufen haben, wenn er so erkannt hätte, dass da ein rechter Winkel sein muss. (Die Verdoppelung des Quadrats geht mit weniger Voraussetzungen etwas rascher, Sokrates kommt also schneller zum Ziel). Hier liegt also noch lange kein fertiges Lehrstück vor, es ist nur eine Ouvertüre. Jetzt muss erst die erprobte Ausarbeitung kommen, die zum Finale führt, etwa dem Satz von den Peripherie- oder Randwinkeln, die überall halb so groß sind wie der Mittelpunktswinkel der Sehne im Kreis.

III. Für den neugierigen Forscher
muss ich wohl keine "Eulen nach Athen tragen", die früchtetragenden Seitenäste sind schon längst erspäht! Zweimal kam im ersten Abschnitt das Wort "schwierig" vor. Viel Spaß beim Ernten!

Literatur:


Veröffentlicht in: Mathematik in der Schule, Heft 7/8 1998 S. 385 ff.
Pädagogischer Zeitschriftenverlag, Berlin