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Vor-Lese-texte zu den vier Elementen

Morgenbetrachtungen an den Wagenschein - Tagungen

in Herborn, Freiburg, Zug und Leipzig


© Schriften der Schweizerischen Wagenschein-Gesellschaft
Nr. 6/1996

Inhalt


Wasser
Erde
Luft
Feuer

<-Entstehung dieser Texte-Sammlung
von Peter Buck

Wagenschein-Tagungen sind in ihrem Programmablauf komponierte Tagungen: Nicht nur die Inhalte, die zur Verhandlung anstehen, auch die Tätigkeiten der Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind mit Bedacht ausgewählt und plaziert.

Täglich zu Beginn der Zusammenkunft und bevor man möglicherweise zur Gruppenarbeit auseinandergeht schien es sinnvoll, eine Komponente des Sich-Sammelns einzuplanen. Für die IV. Wagenschein-Tagung in Herborn in der ehrwürdigen Aula der (zu Anfang des 19. Jahrhunderts geschlossenen) Universität kam uns Tagungs-Gestaltern der Gedanke, ob nicht das gemeinsame Zuhören auf sprachlich schöne Texte beides: das notwendige äussere und das notwendige innere Sammeln bewirken könnte. Wir wählten damals die vier hier aufgenommenen Wasser-Texte und beobachteten gespannt (und durchaus unsicher, ob dies ein guter Weg sei), wie diese Neuerung aufgenommen würde. - Sie wurde mehrheitlich gut aufgenommen und hat inzwischen einen traditionellen Platz im Programm der Wagenschein-Tagungen. Das Thema Wasser ergab sich damals eher zufällig; es war sozusagen Nebenprodukt meiner damaligen Beschäftigung mit dem erkenntnismethodisch-didaktischen Problem der "präzisen" und "exakten" Begriffsbildung (daher auch die Einleitung zum Text von James Joyce): Wie Wagenschein "die beiden Monde"', so hatten Mins Minssen und ich mit verteilten Rollen "die beiden Wasser" in einem Zeitschriften-Aufsatz thematisiert. So ergab es sich, dass Minssen speziell für die Herborner Tagung die hier abgedruckte Larsson-Geschichte aufschrieb. In einem Wagenschein-Seminar des vorangegangenen Sommersemesters hatte Tamara Reichmann aus Faradays Naturgeschichte einer Kerze vorgelesen. Ihre Vorlesekunst und ihre Englisch-Kenntnisse prädestinierten sie zur Rezitation des Gedichts von Robert Southey. Und so weiter - ich will hier nur die Anfänge, nicht die singuläre Vorgeschichte jedes einzelnen Textes abhandeln.

Das Wasser assoziierte die anderen drei vorplatonischen Elemente. Texte wurden von Anderen vorgeschlagen und vorgelesen. Vor allem Brigitte Schnyder hat sich auf den nachfolgenden Wagenschein-Tagungen in Freiburg/Brsg., Zug und Leipzig dieser Programm-Komponente angenommen. Von ihr stammt der Löwenanteil dieser Auswahl und der Nachdruck, die Texte zu den vier Elementen zu bündeln und herauszugeben. Clemens Hauser hat Layout und Produktion betreut.

In Leipzig kam zum Vorlesen des James-Krüss-Gedichts ein leibhaftiges Feuer hinzu, auf das Sigrid Voigt bestanden hatte; es ermöglichte uns die Wahrnehmung mit allen Sinnen. Aber vielleicht genügte schon die Erzeugung von Bildern in jeder, in jedem Einzelnen beim Hören der Texte, um sich wirksam auf den Tagungs-Tag vor-zu-bereiten. Hier versammelt dienen sie darüber hinaus als Erinnerungsmarken. ja, - und natürlich kann man dieses Heft auch einfach als Lesebuch ansehen.

Heidelberg, den 21. Sept. 1995

WASSER

Herborn 1990


Vorbemerkung: Präzise und exakte Begriffsbildung
von Peter Buck

Dass H20 das Wasser nicht erfasst, war für Max BORN ein so zentrales Problem, dass er sich lieber mit Physik als mit Chemie beschäftigte [1]. Dass H20 eher vom Wasser entfremdet, habe nicht nur ich verschiedentlich angesprochen [2]. Als Gegengewicht dazu - nicht als Ersatz - hatte ich für eine "synoptische" Begriffsbildung plädiert, die die "definitorische" ergänzen müsse [3]. In unserem Buch "Naturphänomene erlebend verstehen" [4] hatte ich diese zwei Arten von Begriffsbildung die "präzise" und die "exakte" genannt, weil das lateinische 'praecidere' 'abschneiden, abhauen, zerschneiden, sich kurz fassen', 'exactus' dagegen, wörtlich genommen, 'genau, vollkommen ausgeführt' bedeutet.

Ohne das alles explizit zu formulieren, wie dies zur Bewusstseinsbildung des Chemielehrers notwendig ist, hat James JOYCE bereits vor 75 Jahren den psychischen Kontrast zwischen der "definitorischen" und der "synoptischen", zwischen der "präzisen" und der "exakten", zwischen der "toten, definierenden" und der "lebendigen, charakterisierenden', [5] Begriffsbildung in seinem Ulysses [6] dargestellt.

"Was bewunderte Bloom, der Wasserfreund ... am Wasser?" fragt JOYCE, und er liefert eine Aufzählung, persönlich und voller Zuwendung zum Wasser, die nicht besser geeignet sein könnte, einen charakterisierenden, exakten, synoptischen Wasserbegriff zu demonstrieren. Im Gegensatz dazu der Abschnitt davor: hier kommt es auf Zahlen und Massangaben an (von uns kursiv gesetzt), hier zählt Präzision, hier herrscht Kälte, hier "widerfährt" einem nichts. Ein 22 Meilen langes "unterirdisches Aquädukt aus einfach und doppelt gelegten Filterleitungen" zum "26 Morgen grossen Reservoir" zu bauen die Malaria auzurotten, ein Raumschiff in die Erdumlaufbahn zu bringen - das erfordert konzentrierte Denkakte, erfordert Fokussierung auf das Wesentliche. Ein Bedenken der Folgen auf die Umwelt liegt ausserhalb des gesetzten Zieles. Das Wissenschaftsideal präziser Begriffsdefinitionen kommt solchen Anforderungen entgegen.

Exakte Planung (zum Beispiel einer chemischen Fabrik), also die ausgefeilte Planung, die ausgiebige Folgeanalysen mitumfasst, ist erst eine Forderung der letzten Jahre. Entsprechend hat "vernetztes", "laterales" oder "ganzheitliches" Denken noch verhältnismässig wenig Beachtung und noch weniger Anwendung in den Naturwissenschaften gefunden. Der naturwissenschaftliche Unterricht fühlt sich weitgehend dem Ideal präziser Begriffsbildung verpflichtet. Eingerahmte Merksätze in den Schulbüchern sind Ausdruck solchen Strebens nach Präzision.

Mit diesem Zugriff ist beim Lernenden eine (gewünschte) Distanzierung vom Zufällig-Individuellen verbunden. "All unsere Wissenschaft versichert uns", sagt Martin Buber [7], "sei ruhig, das geschieht eben alles, weil es geschehen muss, aber an dich ist nichts gerichtet, du bist nicht gemeint, das eben ist die Welt, du kannst sie erleben wie du willst, aber was immer du in dir damit anfängst geht von dir allein aus, man fordert dir nichts ab, man redet dich nicht an, alles ist still. ... Was mir widerfährt ist Anrede an mich." Nicht bedacht wird dabei, dass sich zugleich auch eine Distanzierung von der Sache ebenso wie von der Welt vollzieht. Nicht bedacht wird, dass fertige Definitionen zum Memorieren, statt zum (denkenden) Lernen verleiten.

Die Wirkung dieses Zugriffs ist eine affektive Abkoppelung, ist Wertentleerung. Damit lockert man zugleich das Weltinteresse, die Weltverbundenheit des Lernenden. Nach innen äussert sich dies in einem Gefühl der persönlichen Bedeutungslosigkeit der Chemie - bedeutungslos in einem doppelten Sinn: Die Erkenntnisse der Chemie sind für mich bedeutungslos, und: Ich bin angesichts der Erkenntnisse der Chemiker bedeutungslos. Nach aussen betrachtet, mögen zum Zustand der Welt (mangelnde Rücksichtnahme auf unsere Mit- und Umwelt) eben die hier geschilderte Denkhaltung und Denkgewohnheit beigetragen haben.

Die Denkhaltung, die mit einer ganzheitlichen, exakten, charakterisierenden Begriffsbildung einhergeht, lässt Leopold Bloom im nachstehenden Text von JOYCE hunderterlei "am Wasser bewundern", macht ihn zum "Wasserfreund", verleitet zu lebendigen Formulierungen ("[Ozeanwasser]partikel, die umschichtig alle Punkte seines Gestades besuchten"), öffnet den Blick für Seitenbeziehungen ("seine submarine Fauna und Flora (anakustisch und photophob), rein numerisch ... die eigentliche Bewohnerschaft des Planeten"). Diese Denkhaltung soll nicht den präzisen, analytischen Zugriff ersetzen, sondern ihm vorausgehen und ihn ergänzen. Sie soll dazu erziehen, die Welt mitzubedenken, sich für Folgen verantwortlich zu fühlen - in einer Welt, in der man auch erlebnismässig verwurzelt ist.

Vor und nach den beiden langen Abschnitten hat JOYCE zwei kurze gesetzt, in denen nicht Statik, sondern Dynamik, Handlungsbeschreibung, Prozess vorherrscht: Wasser, das "nimmer sich Ändernde, immer sich Ändernde": die Antithese der Definition, der Präzision - aber exakt ...

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<- [1] Vgl. das Aperçu in chim.did. 7 (1981) S. 176
<- [2] Vgl. M.MINSSEN und P.BUCK, Das also ist Wasser, das alles ist Wasser, chim. did. 12 (1981) S. 113-136 oder P. Buck, "Aus dem Fenster des Pohjnahovi", chim. did. 14 (1981) S. 257-261
<- [3] Vgl. Zur Didaktik der Physik und Chemie L8 (1988) S.177-179. M. MINSSEN hat in seinem Buch "Strukturbildende Prozesse bei chemischen Reaktionen und natürlichen Vorgängen", IPN, Kiel (1990) S.27ff diesen Gedanken unter Hinweis auf J.WENINGERs Aufsatz "Grundsätzliches zur Verwendung von Stoff- und Stoffklassenamen", chim.did 10 (1984) S.75-97, weitergeführt.
<- [4] P. BUCK und M. von MACKENSEN, Naturphänomene erlebend verstehen, Aulis Verlag, Köln, 3.Aufl. 1989
<- [5] R. STEINER, Allg. Menschenkunde, Rudolf Steiner Verlag, Dornach, 1975, S. 146f.
<- [6] J. JOYCE, Ulysses, übertragen von H.WOLLSCHLÄGER. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 1975
<- [7] Martin BUBER, Das dialogische Prinzip. Verlag Lambert Schneider. Heidelberg, 5. Aufl. 1984.. S. 153/154





<-Bloom, der Wasserfreund von James Joyce
Was tat Bloom an der Feuerstelle?

Er rückte die Schmorpfanne auf den linken Einsatz, erhob sich und trug den eisernen Kessel zum Spülstein, um dort vermittels Drehen des Hahnes den Wasserstrom zum Fliessen zu bringen.

Kam er zum Fliessen?

Ja. Aus dem Roundwood-Reservoir im County Wicklow mit seiner Kubikkapazität von 2100 000 000 Gallonen durchlief er einen zu einem ursprünglichen Fabrikpreis von £ 5 pro Langyard erbauten unterirdischen Aquädukt aus einfach und doppelt gelegten Filterleitungen durch den Dargle, Rathdown, Glen of the Downs and Callowhill bis zu dem 22 gesetzliche englische Meilen entfernten 26 Morgen grossen Reservoir in Stillorgan und von dort durch ein System von Entlastungstanks vermittels eines Gefälles von 250 Fuss bis zur Stadtgrenze an der Eustace Bridge, Upper Leeson Street, obschon der Wasserspiegel aufgrund der ausgedehnten Sommerdürre und des täglichen Verbrauchs von 12 Millionen Gallonen bereits bis unter die Schwelle des Überlaufwehrs gefallen war, aus welchem Grund der Bezirksinspektor und Ingenieur der Wasserwerke Mr. Spencer Harty, C. E., auf Anweisung des Wasserversorgungsamtes die Verwendung von städtischem Wasser für alle Zwecke ausserhalb des reinen Verbrauchs untersagt hatte (da man der Möglichkeit ins Auge sah, wieder zu dem untrinkbaren Wasser des Grand und des Royal Canal seine Zuflucht nehmen zu müssen wie im Jahre 1893), besonders nachdem die Süd-Dubliner Armenbehörde, ungeachtet ihrer durch eine 6-zöllige Leitung zugelieferten Ration von 15 Gallonen pro Tag und Almosenempfänger, durch Ablesen ihres Zählers nach Aussage des gesetzlichen Vertreters der Stadtverwaltung, Mr. Ignatius Rice, Rechtsanwalt, einer Vergeudung von 20 000 Gallonen pro Nacht überführt worden war, wodurch sie zum Schaden eines anderen Teils der Öffentlichkeit, nämlich der sich selbstversorgenden, zahlungsfähigen, gesunden Steuerzahler gehandelt hatte.

Was bewunderte Bloom, der Wasserfreund, der Wasserzapfer, der Wasserträger, am Wasser, während er zur Feuerstelle zurückkehrte?
Seine Universalität:
seine demokratische Gleichheit und Konstanz gegenüber seiner Natur, indem es sich seine eigene Oberfläche suchte:
seine riesige Ausdehnung als Ozean in Mercators Projektion:
seine unausgelotete Tiefe im Marianen-Graben des Pazifik, wo sie über 8000 Faden betrug:
die Rastlosigkeit seiner Wellen und Oberflächenpartikel, die umschichtig alle Punkte seines Gestades besuchten:
die Unabhängigkeit seiner Einheiten: die Variabilität der Zustandsformen des Meeres:
seine hydrostatische Ruhe bei Windstille: seine hydrokinetische Geschwollenheit bei Nipp- und Springfluten:
seine Gelassenheit nach Verheerungen:
seine Sterilität in den zirkumpolaren Eisdecken von Arktis und Antarktis:
seine klimatische und kommerzielle Bedeutung: sein Überwiegen im Verhältnis 3:1 gegenüber dem trockenen Land auf der Erdkugel:
seine unbestreitbare Hegemonie, wo es sich quadratseemeilenweit über das gesamte Gebiet unter dem subäquatorialen Wendekreis des Steinbocks ausdehnte:
die multisäkulare Stabilität seines ursprünglichen Beckens:
seine Fähigkeit, alle lösbaren Substanzen einschliesslich Millionen von Tonnen der edelsten Metalle aufzulösen und in Lösung zu halten:
seine langsamen Erosionen von Halbinseln und Inseln:
seine persistente Formierung homothetischer Inseln, Halbinseln und niederwärtsstrebender Vorgebirge:
seine alluvialen Ablagerungen: sein Gewicht, sein Volumen und seine Dichte:
seine Unerschütterlichkeit in Lagunen, Atollen und Bergseen:
seine Farbabstufungen in der heissen, gemässigten und kalten Zone:
seine vehikulärenen Verzweigungen in kontinentalen, seenumfassten Strömen und zusammenfliessenden ozeanmündenden Flüssen samt Nebenflüssen und transozeanischen Strömungen:
Golfstrom, Nord- und Südäquatorialströmung:
seine Gewalt bei Seebeben, Wasserhosen, artesischen Brunnen, Eruptionen, Giessbächen, Strudeln, Hochwassern, Überschwemmungen, Grunddünungen, Wasserscheiden, Einzugsgebieten, Geisiren, Katarakten, Wirbeln, Mahlströmen, Überflutungen, Sintfluten, Wolkenbrüchen:
seine riesige zirkumterrestrische ahorizontale Kurve:
sein geheimes Vorhandensein in Quellen und als latente Feuchtigkeit, wie sie von rhabdomantischen und hygrometrischen Instrumenten entdeckt und von dem Loch in der Mauer am Ashtown Gate exemplifiziert wurde, Sättigung der Luft, Destillation von Tau:
die Einfachheit seiner Zusammensetzung, nämlich aus zwei Bestandteilen Wasserstoff und einem Bestandteil Sauerstoff:
seine therapeutischen Kräfte:
sein Tragvermögen in den Wassern des Toten Meeres:
seine ausdauernde Durchdringungsfähigkeit bei Bachbetten, Abzugsrinnen, unzulänglichen Dämmen, Schiffslecken:
seine Eignung zum Reinigen, zum Löschen von Durst und Feuer, zur Nährung der Vegetation: seine Unfehlbarkeit als Paradigma und Paragon:
seine Metamorphosen als Dunst, Nebel, Wolke, Regen, Graupel, Schnee, Hagel:
seine Kraft in starren Hydranten:
seine Formenvielfalt in Seen und Baien und Golfen und Buchten und Meeresarmen und Lagunen und Atollen und Archipelen und Sunden und Fjorden und Watten und Meerengen und Flutmündungen:
seine Festigkeit in Gletschern, Eisbergen, Treibeisschollen:
seine Gefügigkeit beim Betrieb von hydraulischen Mühlrädern, Turbinen, Dynamos, elektrischen Kraftwerken, Bleichanstalten, Gerbereien, Flachsschwingmaschinen: seine Nützlichkeit in Kanälen, Flüssen, wenn schiffbar, Schwimm- und Trockendocks:
seine ihm abgewinnbare Wirkungskraft im Fall von gebändigten Fluten oder durch Wehrgefälle regulierten Flussläufen:
seine submarine Fauna und Flora (anakustisch, photophob), rein numerisch, wenn nicht gar buchstäblich die eigentliche Bewohnerschaft des Planeten:
seine Allgegenwärtigkeit, insofern es neunzig Prozent des menschlichen Körpers bildet:
die Schädlichkeit seiner Ausdünstungen in morastigen Binnenseen, verpesteten Sümpfen, abgestandenem Blumenwasser, stagnierenden Tümpeln bei abnehmendem Mond.

Warum kehrte er, nachdem er den halbgefüllten Kessel auf die nunmehr brennenden Kohlen gesetzt hatte, zu dem immer noch fliessenden Wasserhahn zurück?

Um sich die beschmutzten Hände mit einem schon teilweise verbrauchten Stück zitronenduftender Barrington-Seife zu waschen, an dem noch Papier klebte, (gekauft dreizehn Stunden vorher zum Preis von 4 Pence und noch unbezahlt), in frischem kaltem nimmer sich änderndem, immer sich änderndem Wasser ...



<-The Cataract of Lodore
von Robert Southey

Described in Rhymes for the Nursery

"How does the Water
Come down at Lodore?"
My little boy ask'd me
Thus, once on a time;
And moreover he task'd me
To tell him in rhyme.
Anon at the word,
There first came one daughter
And then came another,
To second and third
The request of their brother,
And to hear how the water
Comes down at Lodore,
With its rush and its roar,
As many a time
They had seen it before.
So I told them in rhyme,
For of rhymes I had store:

And 'twas in my vocation
For their recreation
That so I should sing;
Because I was Laureate
To them and their King.

From its sources which well
In the Tarn on the fell;
From its fountains
In the mountains,
Its rills and its gills;
Through moss and through brake,
It runs and it creeps
For a while, till it sleeps
In its own little Lake.
And thence at departing,
Awakening and starting,
It runs through the reeds
And away it proceeds,
Through meadow and glade,
In sun and in shade,
And through the wood-shelter,
Among crags in its flurry,
Helter-skelter,
Hurry-scurry.
Here it comes sparkling,
And there it comes darkling
Now smoking and frothing
Its tumult and wrath in,
Till in this rapid race
On which it is bent,
It reaches the place
Of its steep descent.

The Cataract strong
Then plunges along,
Striking and raging
As if a war waging
Its caverns and rocks among:
Rising and leaping,
Sinking and creeping,
Swelling and seeping,
Showering and springing,
Flying and flinging,
Writhing and ringing,
Eddying and whisking,
Spouting and frisking,
Turning and twisting,
Around and around
With endless rebound!
Smiting and fighting,
A sight to delight in;
Confounding, astounding,
Dizzying and deafening the ear with its sound.

Collecting, projecting,
Receding and speeding,
And shoking and rocking,
And darting and parting,
And threading and spreading,
And whizzing and hissing,
And dripping and skipping,
And hitting and splitting,
And shining and twining,
And rattling and battling,
And shaking and quaking,
And pouring and roaring,
And waving and raving,
And tossing and crossing,
And flowing and going,
And running and stunning,
And foaming and roaming,
And dinning and spinning,
And dropping and hopping,
And working and jerking,
And guggling and struggling,
And heaving and cleaving,
And moaning and groaning;

And glittering and frittering,
And gathering and feathering,
And whitening and brightning,
And quivering and shivering,
And hurrying and skurrying,
And thundering and floundering;

Dividing and gliding and sliding,
And falling and brawling and sprawling,
And driving and riving and striving,
And sprinkling and twinkling and wrinkling,
And sounding and bounding and rounding,
And bubbling and troubling and doubling,
And grumbling and rumbling and tumbling,
And clattering and battering and shattering;

Retreating and beating and meeting and sheeting,
Delaying and straying and playing and spraying,
Advancing and prancing and glancing and dancing,
Recoiling, turmoiling and toiling and boiling,
And gleaming and streaming and steaming and beaming,
And rushing and flushing and brushing and gushing,
And flapping and rapping and clapping and slapping,
And curling and whirling and purling and twirling,
And thumping and plumping and bumping and jumping,
And dashing and flashing and splashing and clashing;
And so never ending, but always descending,
Sounds and motions for ever and ever are blending,
All at once and all Wer, with a mighty uproar,
And this way the Water comes down at Lodore.




<-Vorbemerkung
von Peter Buck

Die nachfolgende Geschichte hat Mins MINSSEN eigens für die IV. Wagenschein-Tagung in Herborn verfasst. Sie wurde vom alten Disputationsgestühl aus Comenius' Zeiten herab zum ersten Mal verlesen; für den Abdruck in dieser Sammlung wurde der Text geringfügig umgearbeitet, weil sich manches anders lesen als hören lässt.


Larssons Aufbruch zum Mahlstrom
von Mins Minssen

Es geht um Larssons Vorgeschmack vom Mahlstrom, eine erste Ansicht, ein erstes Aufhorchen.

Larsson hatte sich wohlgefühlt in seinem Kontor unter dem Firmenschild, das pfefferminzfarben und elfenbein unterteilt war, Goldbuchstaben, die sich zu der Angabe arrangierten: Larsson - Nutzlose Ansichten täglich frisch. Es war zur Zeit der Schafkälte, die auf den Flügeln des Eismeerwindes angereist kam. Der Wind heulte ums Haus, Einlass für seine Fracht fordernd, wobei er Regenschauer wie Kiesel gegen die Fenster warf. Umsonst. Larsson tat, als hörte er nicht.

Er sass beim Punsch mit Herrn Friedrich, dem Ozeanographen. Herr Friedrich, der hin und wieder zur Firma beitrug, erklärte Larsson Strömungen der sieben Weltmeere, wozu er eine flache, mit Wasser und Glycerin gefüllte Fotoschale benutzte und natürlich Bärlappsporen. Herr Friedrich zog mit mässiger Geschwindigkeit ein chinesisches Essstäbchen durch die Mischung. Im Kielwasser des Stäbchens bildete sich eine harmonische Figur aus, eine gerade Kette aus kleiner werdenden Gliedern, die wie der Buchstabe C aussahen oder der Bassschlüssel, und jeder Bassschlüssel ordnete sich spiegelbildlich zu seinem Vorgänger an. Nun führte Herr Friedrich das Stäbchen statt auf geradem Kurs kreisförmig durch das Schalenmeer, und die C's oder Bassschlüssel formierten sich zu einem Ring. "Es sind dies", sagte Herr Friedrich, "Kármánsche Wirbelstrassen und wenn Du ihre Elemente Bassschlüssel nennst, so trifft das die Sache nicht schlecht, denn die gleiche Wirbelfigur kann als Luftströmung Saiten zum Schwingen bringen, es ist dies das Prinzip der Äolsharfe oder Windharfe." Larsson sah die Treppe hoch, die aus dem unteren grossen Raum ins obere Stockwerk führte und lauschte. Von oben hörte er, wenn der Wind nicht zu stark war, das monotone Murmeln von Gabriele, die ihre Rollentexte lernte. "E.T.A. Hoffmann", sagte Larsson, "unterschied zwischen Windharfe und Wetterharfe. Die erstere stand auf den Fensterbänken blässlicher Salons und benötigte Zugluft, was ihrer Popularität schadete, zudem sang sie mit dünner Stimme. Die Wetterharfe dagegen brauste im Freien, und nur in ihrer Musik offenbare die Natur sich mit voller Geisterstimme. Auch behauptete der Abbate Gattoni, der in Como Stahlseile zwischen dem Kirchturm und dem Balkon seines Hauses aufgespannt hatte, er könne aus den Tönen Wetterumschwünge vorhersagen."

Der Wind rüttelte zudringlich an den Fensterläden. Larsson nahm den zweiten Band der Werke Edgar Allan Poe's aus dem Bücherregal und las vor:
"Hören Sie etwas? Bemerken Sie irgendeine Veränderung im Wasser? Wir befanden uns nun seit etwa zehn Minuten auf der Spitze des Berges Helseggen, zu dem wir aus dem Innern der Lofoten aufgestiegen waren, so dass wir nicht den kleinsten Ausblick auf das Meer gehabt hatten, bis es plötzlich in seiner ungeheuren Ausdehnung vor uns lag. Während der alte Mann sprach, wurde ich mir eines dumpfen, allmählich zunehmenden Getöses bewusst, ähnlich dem Brüllen und Stöhnen einer riesigen Büffelherde auf einer amerikanischen Prärie. Und zu gleicher Zeit bemerkte ich, dass das, was die Seeleute mit 'springendem' Wogengang zu bezeichnen pflegen, sich mit äusserster Schnelligkeit in einen nach Osten treibenden Strom verwandelte."

Hier musste Larsson, dessen Gedanken leicht abzulenken sind, lächeln, denn es fielen ihm einige Male ein, wo er selbst auf See gearbeitet hatte, Hand gegen Koje, auf einem Tiefwassersegler, und auf der vierten oder fünften Reise entdeckte er, dass zu den Räumen des Kapitäns eine Badekammer gehörte mit einer Wanne, hinter dem Salon gelegen und ziemlich genau unter jener Stelle, wo sich auf dem ungeschützten Achterdeck das Ruderrad befand.

Wenn nun Larsson bei schwerem Wetter zu steuern hatte, gar noch bei Nacht und in klatschenden Regenböen und wie die Seeleute es nennen "grünes Wasser" das tiefergelegene Hauptdeck überflutete, massive Wasserschichten also, und nicht nur Spritzwasser, dann stellte sich der nässetriefende, in das milde Licht des Kompasses starrende Larsson vor, er befände sich unterhalb der Stelle, wo er stand, nämlich in jener Wanne liegend, die selbstverständlich mit heissem Wasser gefüllt wäre, das aber nun auch in Antwort auf die brüllende See draussen unruhig hin und her schwappen würde, aber alles eben in kleinerem Massstab, und dadurch würde die Sache, gewürzt mit einem wohligen Rest ausgesperrter Gefahr, nicht nur erträglich, sondern fast angenehm erscheinen. Und jetzt, mit dem Buch in der Hand, fällt Larsson ein, dass beim Schwimmen in den Wellen ja niemand seekrank wird, und vielleicht beim Liegen in einer wassergefüllten Wanne auch nicht, und womöglich wäre es eine gute, der Passagierschiffahrt vorzuschlagende Einrichtung ... .

"Was ist?", fragte Herr Friedrich. "Ach so, ja," sagte Larsson, also weiter im Text:
"Während ich hinblickte, wuchs die Strömung mit reissender, ungeheurer Schnelligkeit. Mit jedem Augenblick nahm ihr gigantisches Ungestüm zu. In fünf Minuten war die ganze See bis Vurrgh hin zu unbezähmbarer Wut aufgepeitscht, doch zwischen Moskoe und der Küste raste der Aufruhr am wildesten. Hier narbte und zerfurchte sich das gewaltige Wasserbett in tausend gegeneinander wütende Kanäle, brach sich plötzlich mit krampfhaften Zuckungen - toste, brodelte, zischte, wirbelte in riesenhaften, unzählbaren Strudeln und schoss mit einer Schnelligkeit nach Osten, die man sonst nur bei wilden Wasserstürzen findet".

Larsson goss sich und Herrn Friedrich vom heissen Punsch nach, und ein Duft von Zimt, Gewürznelken und einer Spur Ingwer verbreitete sich im Raum.
"Wenige Minuten später erlitt die Szene wieder eine vollkommene Veränderung," fuhr Larsson fort, "die Oberfläche wurde im allgemeinen ruhiger, und die Strudel verschwanden einer nach dem anderen, während mächtige Streifen von Schaum an Stellen sichtbar wurden, an denen man bis jetzt noch keinen wahrgenommen hatte. Die Streifen breiteten sich allmählich weithin nach allen Richtungen aus, verbanden sich miteinander und nahmen die wirbelnden Bewegungen der verschwundenen Strudel an, als wollten sie einen neuen grösseren hervorbringen. Plötzlich - ganz plötzlich - nahm dieser deutlich und bestimmt Gestalt an in einem Umkreis, der mehr als eine Meile Durchmesser hatte. Den Rand des Wirbels bildete ein breiter Gürtel von schimmernder Gischt; doch nicht das kleinste Teilchen davon geriet in den Schlund des fürchterlichen Trichters, dessen Inneres, so weit das Auge es ergründen konnte, eine ebene, glänzende, kohlschwarze Wassermauer war, die mit dem Horizont einen Winkel von fünfundvierzig Grad bildete und mit schwindelnder Hast immerfort in der Runde herumraste und dabei mit grauenhafter Stimme in den Sturm hinein schrie und brüllte, grässlicher, als der mächtige Katarakt des Niagara in seiner Todesangst zum Himmel schreit."

Gabriele hatte schon eine ganze Weile oben auf der Treppe gestanden und zugehört, und als nun Herr Friedrich die Schöpfkelle aus dem Punschtopf zog und sich eben daran machen wollte, in der Fotoschale einen Strudel zu erzeugen, beugte sie sich vor und spuckte zielsicher in die armselige Meerenge.

"Das nennt man eine Störung", sagte Herr Friedrich gutmütig, was aber Gabriele erst recht aufbrachte und zu einem Monolog anregte über die verwandschaftliche Nähe der Behaglichkeit zu ihrer hässlichen Schwester, der Trägheit, und dass den beiden Herren als zweite Haut bald Schlafröcke wachsen würden, Zipfelmützen und Pantoffeln und die nutzlosen Ansichten in Gefahr seien, ihre Frische zu verlieren und Hausstaub anzusetzen.

Im Stillen bedauerte Larsson, dass er ohne den Unterschied zwischen Kleinkariertheit und Understatement gründlicher zu behandeln, Gabriele einmal erzählt hatte, Herr Friedrich habe seine ozeanographische Laufbahn mit intensiven Forschungen über die Eigenschwingungen eines heimatlichen Meeres begonnen, dass man das Schwäbische nennt, was auch unter Fachkollegen zu Irritationen geführt hatte. Herrn Friedrichs Hypothese jedoch, dass der Bodensee ein geeignetes Modell für eingeschlossene Halbbinnenmeere wie die Ostsee oder - mit Einschränkung - die Nordsee darstelle, hatte sich glänzend bestätigt. Störungen durch Ärmelkanal beziehungsweise Skagerrak konnten für die mathematische Behandlung der in kaum merklichem Rhythmus schwingenden Wassermassen von Nordsee und Baltischem Meer ebenso vernachlässigt werden, wie der Zufluss des Alpenrheins für die langsamen Oszillationen des Bodensees.

Wie dem auch sei, im Hause Larsson gingen die Wogen hoch, und mitten in der Nacht klingelte mein Telefon, und Larsson, am anderen Ende, bat mich, ihm Lederkleidung, Nierengurt und Regenkombination zu leihen, denn die eigenen Sachen waren ihm zu eng geworden, aber sonst sei er noch ganz der alte, und er wollte nun leibhaftig zu den Lofoten aufbrechen und zwar, was die Landstrecken anging, mit dem Motorrad, seiner Moto Guzzi, durch Wind und Wetter.

Ich bemühte mich, aus meiner Stimme jeden Ausdruck von Gereiztheit, Unglaube, Belustigung oder Rührung herauszuhalten und sagte ziemlich trocken zu. Larsson blieb jedoch bei seinem Vorsatz und besuchte mich zum Frühstück, und danach begleitete ich ihn zur Schleuse, wo er bei Kapitän Stegemanns Nautischem Dienst die Seekarte Nr. 71, von der Insel Varoy bis Südspitze Lofoten kaufte.

Landseitig entsprach die Karte noch dem Stand der Ausgabe von 1909, aber die Seezeichen und Kompassabweichungen waren nach dem neuesten Stand eingetragen, wofür ein frischer norwegischer Stempel bürgte.

Die "Prinsesse Ragnhild" sollte gegen Mittag ablegen, aber es verzögerte sich alles. Regen fiel, mal in weichen Tröpfchenschleiern, mal in feinen Nadelstreifen. Der Kai stand voll von Lastwagen mit nassglänzenden Planen, von Anhängern, Trailern und Containern. Sattelschlepper mit gelben Blinklampen rangierten spritzend hin und her und beförderten die Fracht nach und nach die Laderampe hinauf und in den Schiffsbauch hinein.

Ich fand Larsson und die Guzzi in einem toten Winkel neben der Rampe. Man hatte ihn aus dem Weg gescheucht, ihm aber trotz fehlender Reservierung einen Platz in Aussicht gestellt. Nur musste erst einmal alles andere verstaut sein.

Das Wasser lief Larsson aus den Haaren in den Kragen seiner Waterproof-Kombi, die eigentlich meine war. Ich spannte den Schirm auf und hielt ihn über mich und Larsson, aber Larsson sagte: "Lass das!" Er sah blass aus. Ein Mann in orangenem Ölzeug machte Zeichen von der Rampe herüber. Larsson liess die Guzzi an, winkte noch einmal und fuhr ins Schiffsinnere. Die Ladeklappe schloss sich, die Leinen wurden losgeworfen, klatschten ins Wasser, wurden eingeholt. Die "Prinsesse Ragnhild" tutete "dreimal kurz", schob sich nach diesem Signal mit dem Heck voran vom Anleger weg, wandte mir, sich drehend, erst ihr grünes, dann ihr rotes Auge zu, dann die Hecklaterne und verschwamm kurz darauf in einer Schauerbö. Für einen Augenblick hatte ich geglaubt, eine winkende Silhouette an der Reling zu sehen. Ich schwenkte für alle Fälle den Schirm und wandte mich zum Gehen. Die Sattelschlepper hatten sich davon gemacht. Ein Kormoran sass auf einem Dalben und schlug mit den Flügeln, das konnte man hören.





<-Wasserassoziationen
von Hartmut Böhme

Folgt man den Assoziationen zum Wasser - und Assoziationen in ihrem Hin- und Herströmen, Auf- und Absteigen bewegen sich selbst ähnlich dem Wasser - und treibt man hinweg über die Grenzen der Wissensdisziplinen und Praktiken, so entsteht ein zwar unsystematischer, doch unwiderstehlicher Eindruck: Es gibt kein Gefühl, keine Kunst, kein Sprechen, kein Handeln, keine gesellschaftliche Einrichtung, keinen Raum auf dieser Erde, der nicht materiell oder symbolisch, direkt oder indirekt mit dem Wasser zu tun hat. Ursache für diese Unerschöpflichkeit des Wassers als Reservoir kultureller Symbolwelten ist der Reichtum und die Evidenz seiner Erscheinungen:

Wasser tritt aus der Erde als Quelle, bewegt sich als Fluss, steht als See, ist in ewiger Ruhe und endloser Bewegtheit als Meer. Es verwandelt sich zu Eis oder zu Dampf; es bewegt sich aufwärts durch Verdunstung und abwärts als Regen, Schnee oder Hagel; es fliegt als Wolke. Es ist der Samen, der die Erde befruchtet. Es spritzt, rauscht, sprüht, gurgelt, gluckert, wirbelt, stürzt, brandet, rollt, rieselt, zischt, wogt, sickert, kräuselt, murmelt, spiegelt, quillt, tröpfelt, brandet ... Es ist farblos und kann alle Farben annehmen. Im Durst weckt es das ursprünglichste Verlangen, rinnt erquickend durch die Kehle; es wird probiert, schlückchenweise getrunken, hinuntergestürzt. Es lässt Enge und Weite des Leibes spüren; es weckt beim Schwimmen die Ahnung davon, was Schweben, Gleiten, Schwerelosigkeit sind. Im Wasser wohnt der Embryo. Wasser reinigt Körper und Dinge, ja Seele und Geist. Wassertaufe. Wasser löst auf und verbindet, es grenzt ab und vereinigt. In den Übergängen zwischen Flüssigem und Festem bildet es seltsame Zonen: schleimig, schmierig, quallig, glitschig, schlammig, moorig, matschig - Aggregate, ohne die wir kaum wüssten, was z.B. Ekel ist. Es öffnet Weite im Anblick des Meeres und bildet als Quelle oder Bach die Mitte des locus amoenus. Es ist formlos, passt sich jeder Form an; es ist weich, aber stärker als Stein. So bildet es selbst Formen: Täler, Küsten, Grotten. Es gestaltet Landschaften und Lebensformen durch extremen Mangel (Wüsten) oder periodischen Überfluss (Regenzeit). Es ängstigt, bedroht, verletzt und zerstört den Menschen und seine Einrichtungen durch Überschwemmungen, Sturmfluten, Hagelschlag. Symbolische Wasser-Katastrophen lagern tief im kollektiven Gedächtnis: Sintflut, Atlantis, Titanic. So enthält das Wasser den Tod und gebiert alles Leben.

Der "Urgrund" ist das Wasser, erklärte Thales vor 2500 Jahren; "Wasser ist Leben", sagen die Ökologen heute. Wasser ist Krankheit (z. B. Wassersucht) und Wasser heilt: Hydrotherapie, Brunnenkuren. Das weiss man seit Hippokrates. Seit den Flusskulturen Mesopotamiens, Ägyptens oder Chinas fordert das Wasser den menschlichen Erfindungsgeist heraus:
Flussregulierung, Dammbau, Bewässerungsanlagen, Kanalisation, Schiffsbau, Navigation, Fischereitechnik. Im Kampf mit dem Wasser bilden sich die heroischen Innovationen der Kultur: Tiphys, der mythische Erfinder des Schiffs; Odysseus, der Heros, der den Übergang einer binnenländischen zu einer thalassalen Kultur markiert; Kolumbus, mit dem die ozeanische Stufe der Geschichte anhebt.

Das Wasser als Verkehrsweg, als natürliche Strasse des Handels: vom Flusshandel zum Übersee- und Welthandel. Das Wasser als Medium der Macht: Seemilitär, Flottenpolitik, Seekriege: Salamis, Trafalgar, Skagerrak. Das kolonialistische Zeitalter: Wasserpolitik, Beherrschung der Ferne jenseits des Meeres. Das Wasser als Bollwerk gegen Feinde oder als strategische Basis der Macht: Venedig im 13-16. Jahrhundert, England im 17.-19. Jahrhundert, die USA im 20. Jahrhundert. jeweils ist diejenige Macht die führende, die hinsichtlich des Wassers die avanciertesten Strategien realisiert. Unterwasser: Reich der Tiefe, des Geheimnisses, des Abgrunds. Von der Mythologie des Tauchers bis zur Realisierung von "20 000 Meilen unter dem Meer" (J. Verne): Atom-U-Boote, Strömungsphysik, Optimierung der Kriegsschiffe. Überwachtes Wasser: Luftaufklärung, Satelliten, Echolot, Mikrowellensensoren, Hydrophone, Erfassung sämtlicher ziviler und militärischer Schiffsbewegungen auf allen Meeren dieser Erde.

Das Wasser und seine Schätze: die eingefrorenen Süsswasserreservoirs der Antarktis; die Nahrungsressourcen; die ungeheuren unterseeischen Rohstoffreserven: Manganknollen, das im Meerwasser gelöste Gold, das Erdgas der Nordsee. Das Wasser und das Recht: Wassernutzungsordnungen in antiken Städten; Fischereirecht im Mittelalter; das Recht der freien Meere seit Hugo Grotius im 17. Jahrhundert; die binnenstaatliche und internationale Verrechtlichung des gesamten Wassers dieser Erde heute. Dagegen die Seeräuber, Meerschäumer, Korsaren, Kaperfahrer, Flibustiers, merchant-adventurers; die Kämpfer um die Pole im ewigen Eis, die Wal-Fänger. Sie alle haben ihre eigenen Heroen hervorgebracht, die in mythischen und literarischen Erinnerungen der Völker überleben.

Das Wasser und das Göttliche: Urstoff der Schöpfung; Chaos, von Gott besiegt. Die Götter und Göttinnen der Meere und Flüsse; die Quellnymphen, Nixen, Sirenen, Melusinen, Undinen. Auch sie unvergesslich. Rhein-Romantik, Loreley. Wasser und Weiblichkeit: Zieht "das Ewig-Weibliche uns hinan" oder nicht vielmehr hinab, in den Strudel, den Abgrund, die Tiefe, den Tod im Wasser? Eros des Wassers. Das Wasser, das Unbewusste und die Träume: "Des Menschen Seele gleicht dem Wasser" (Goethe). Das Wasser und die Zeit: Du steigst nicht zweimal in denselben Fluss, sagt Heraklit. Die Künste: Wasser und Gartenkunst, Händels Wassermusik. Wasser in der Landschaftsmalerei; Wasser-Lyrik.




E R D E

Freiburg 1991


<-Heinrich von Ofterdingen
von Novalis

Nach einigen Tagereisen kamen sie an ein Dorf, am Fusse einiger spitzen Hügel, die von tiefen Schluchten unterbrochen waren. Die Gegend war übrigens fruchtbar und angenehm, ohngeachtet die Rücken der Hügel ein totes, abschreckendes Ansehn hatten. Das Wirtshaus war reinlich, die Leute bereitwillig, und eine Menge Menschen, teils Reisende, teils blosse Trinkgäste, sassen in der Stube, und unterhielten sich von allerhand Dingen.

Unsre Reisenden gesellten sich zu ihnen, und mischten sich in die Gespräche. Die Aufmerksamkeit der Gäste war vorzüglich auf einen alten Mann gerichtet, der in fremder Tracht an einem Tische sass, und freundlich die neugierigen Fragen beantwortete, die an ihn geschahen. Er kam aus fremden Landen, hatte sich heute früh die Gegend umher genau betrachtet, und erzählte nun von seinem Gewerbe und seinen heutigen Entdeckungen. Die Leute nannten ihn einen Schatzgräber. Er sprach aber sehr bescheiden von seinen Kenntnissen und seiner Macht, doch trugen seine Erzählungen das Gepräge der Seltsamkeit und Neuheit. Er erzählte, dass er aus Böhmen gebürtig sei. Von Jugend auf habe er eine heftige Neugierde gehabt, zu wissen, was in den Bergen verborgen sein müsse, wo das Wasser in den Quellen herkomme, und wo das Gold und das Silber und die köstlichen Steine gefunden würden, die den Menschen so unwiderstehlich an sich zögen! Er habe in der nahen Klosterkirche oft diese festen Lichter an den Bildern und Reliquien betrachtet, und nur gewünscht, dass sie zu ihm reden könnten, um ihm von ihrer geheimnisvollen Herkunft zu erzählen. Er habe wohl zuweilen gehört, dass sie aus weit entlegenen Ländern kämen; doch habe er immer gedacht, warum es nicht auch in diesen Gegenden solche Schätze und Kleinodien geben könne. Die Berge seien doch nicht umsonst so weit in ihrem Umfange und erhaben und so fest verwahrt; auch habe es ihn verdünkt, wie wenn er zuweilen auf den Gebirgen glänzende und flimmernde Steine gefunden hätte. Er sei fleissig in den Felsenritzen und Höhlen umhergeklettert, und habe sich mit unaussprechlichen Vergnügen in diesen uralten Hallen und Gewölben umgesehen. - Endlich sei ihm einmal ein Reisender begegnet, der zu ihm gesagt, er müsse ein Bergmann werden, da könne er die Befriedigung seiner Neugier finden. In Böhmen gäbe es Bergwerke. Er solle nur immer an dem Flusse hinuntergehen, nach zehn bis zwölf Tagen werde er in Eula sein, und dort dürfe er nur sprechen, dass er gerne ein Bergmann werden wolle. Er habe sich dies nicht zweimal sagen lassen und sich gleich anderntags auf den Weg gemacht. "Nach einem beschwerlichen Gange von mehreren Tagen", fuhr er fort, "kam ich nach Eula. Ich kann euch nicht sagen, wie herrlich mir zu Mute ward, als ich von einem Hügel die Haufen von Steinen erblickte, die mit grünen Gebüschen durchwachsen waren, auf denen bretterne Hütten standen, und als ich aus dem Tal unten die Rauchwolken über den Wald heraufziehen sah. Ein fernes Getöse vermehrte meine Erwartungen, und mit unglaublicher Neugierde und voll stiller Andacht stand ich bald auf einem solchen Haufen, den man Halde nennt, vor den dunklen Tiefen, die im Innern der Hütten steil in den Berg hineinführten. Ich eilte nach dem Tale und begegnete bald einigen schwarzgekleideten Männern mit Lampen, die ich nicht mit Unrecht für Bergleute hielt, und mit schüchterner Angstlichkeit ihnen mein Anliegen vortrug. Sie hörten mich freundlich an, und sagten mir, dass ich nur hinunter nach den Schmelzhütten gehn und nach dem Steiger fragen sollte, welcher den Anführer und Meister unter ihnen vorstellt; dieser werde mir Bescheid geben, ob ich angenommen werden möge. Sie meinten, dass ich meinen Wunsch wohl erreichen würde, und lehrten mich den üblichen Gruss 'Glück auf' womit ich den Steiger anreden sollte. Voll fröhlicher Erwartung setzte ich meinen Weg fort und konnte nicht aufhören, den neuen bedeutungsvollen Gruss mir ständig zu wiederholen. Ich fand einen alten, ehrwürdigen Mann, der mich mit viel Freundlichkeit empfing, und nachdem ich ihm meine Geschichte erzählt, und ihm meine grosse Lust, eine seltne, geheimnisvolle Kunst zu erlernen, bezeugt hatte, bereitwillig versprach, mir meinen Wunsch zu gewähren. Ich schien ihm zu gefallen, und er behielt mich in seinem Hause. Den Augenblick konnte ich kaum erwarten, wo ich in die Grube fahren und mich in der reizenden Tracht sehn würde. Noch denselben Abend brachte er mir ein Grubenkleid, und erklärte mir den Gebrauch einiger Werkzeuge, die in einer Kammer aufbewahrt waren.

Abends kamen Bergleute zu ihm, und ich verfehlte kein Wort von ihren Gesprächen, so unverständlich und fremd mir sowohl die Sprache, als der grösste Teil des Inhalts ihrer Erzählungen vorkam. Das wenige jedoch, was ich zu begreifen glaubte, erhöhte die Lebhaftigkeit meiner Neugierde und beschäftigte mich des Nachts in seltsamen Träumen. Ich erwachte beizeiten und fand mich bei meinem neuen Wirte ein, bei dem sich allmählich die Bergleute versammelten, um seine Verordnungen zu vernehmen. Eine Nebenstube war zu einer kleinen Kapelle vorgerichtet. Ein Mönch erschien und las eine Messe, nachher sprach er ein feierliches Gebet, worin er den Himmel anrief, die Bergleute in seine heilige Obhut zu nehmen, sie bei ihren gefährlichen Arbeiten zu unterstützen, vor Anfechtungen und Tücken böser Geister sie zu schützen, und ihnen reiche Anbrüche zu bescheren. Ich hatte nie mit mehr Inbrunst gebetet, und nie die hohe Bedeutung der Messe lebhafter empfunden. Meine künftigen Genossen kamen mir wie unterirdische Helden vor, die tausend Gefahren zu überwinden hätten, aber auch ein beneidenswertes Glück an ihren wunderbaren Kenntnissen besässen, und in dem ernsten, stillen Umgange mit den uralten Felsensöhnen der Natur, in ihren dunklen, wunderbaren Kammern, zum Empfängnis himmlischer Gaben und zur freudigen Erhebung über die Welt und ihre Bedrängnisse ausgerüstet würden. Der Steiger gab mir nach geendigtem Gottesdienst eine Lampe und ein kleines hölzernes Kruzifix, und ging mit mir nach dem Schachte, wie wir die schroffen Eingänge in die unterirdischen Gänge zu nennen pflegen. Er lehrte mich die Art des Hinabsteigens, machte mich mit den notwendigen Vorsichtigkeitsregeln, sowie mit den Namen der mannigfaltigen Gegenstände und Teile bekannt. Er fuhr voraus, und schurrte auf dem runden Balken hinunter, indem er sich mit der einen Hand an dem einen Seile anhielt, das in einem Knoten an einer Seitenstange fortglitschte, und mit der andern die brennende Lampe trug; ich folgte seinem Beispiel, und wir gelangten so mit ziemlicher Schnelle bald in eine beträchtliche Tiefe. Mir war seltsam feierlich zumute, und das vordere Licht funkelte wie ein glücklicher Stern, der mir den Weg zu den verborgenen Schatzkammern der Natur zeigte. Wir kamen unten in einen Irrgarten von Gängen, und mein freundlicher Meister ward nicht müde, meine neugierigen Fragen zu beantworten, und mich über seine Kunst zu unterrichten. Das Rauschen des Wassers, die Entfernung von der bewohnten Oberfläche, die Dunkelheit und Verschlungenheit der Gänge, und das entfernte Geräusch der arbeitenden Bergleute ergötzte mich ungemein, und ich fühlte nun mit Freuden mich in vollem Besitze dessen, was von jeher mein sehnlichster Wunsch gewesen war. Es lässt sich auch diese volle Befriedigung eines angebornen Wunsches, diese wundersame Freude an Dingen, die ein näheres Verhältnis zu unserm Dasein haben mögen, zu Beschäftigungen, zu denen man von der Wiege an bestimmt und ausgerüstet ist, nicht erklären und beschreiben. Vielleicht dass sie jedem andern gemein, unbedeutend und abschreckend vorgekommen wären; aber mir schienen sie so unentbehrlich zu sein, wie Luft der Brust und die Speise dem Magen. Mein alter Meister freute sich über meine innige Lust, und verhiess mir, dass ich bei diesem Fleiss und dieser Aufmerksamkeit es weit bringen, und ein tüchtiger Bergmann werden würde. Mit welcher Andacht sah ich zum erstem Mal in meinem Leben am sechzehnten März, vor nunmehr fünfundvierzig Jahren, den König der Metalle in zarten Blättchen zwischen den Spalten des Gesteins. Es kam mir vor, als sei er hier wie in festen Gefängnissen eingesperrt und glänze freundlich dem Bergmann entgegen, der mit soviel Gefahren und Mühseligkeiten sich den Weg zu ihm durch die starken Mauern gebrochen, um ihn an das Licht des Tages zu fördern, damit er an königlichen Kronen und Gefässen und an heiligen Reliquien zu Ehren gelangen, und in geachteten und wohlverwahrten Münzen, mit Bildnissen geziert, die Welt beherrschen und leiten möge. ...

Wahrhaftig, das muss ein göttlicher Mann gewesen sein, der den Menschen zuerst die edle Kunst des Bergbaus gelehrt, und in dem Schosse der Felsen dieses ernste Sinnbild des menschlichen Lebens verborgen hat. Hier ist der Gang mächtig und gebrech, aber arm, dort drückt ihn der Felsen in eine armselige, unbedeutende Kluft zusammen, und gerade hier brechen die edelsten Geschicke ein. Andre Gänge verunedlen ihn, bis sich ein verwandter Gang freundlich mit ihm schart, und seinen Wert unendlich erhöht. Oft zerschlägt er sich vor dem Bergmann in tausend Trümmern: aber der Geduldige lässt sich nicht schrecken, er verfolgt ruhig seinen Weg, und sieht seinen Eifer belohnt, indem er ihn bald wieder in neuer Mächtigkeit und Höflichkeit ausrichtet. Oft lockt ihn ein betrügliches Trum aus der wahren Richtung; aber bald erkennt er den falschen Weg, und bricht mit Gewalt querfeldein, bis er den wahren erzführenden Gang wiedergefunden hat. Wie bekannt wird hier nicht der Bergmann mit allen Launen des Zufalls, wie sicher aber auch, dass Eifer und Beständigkeit die einzigen untrüglichen Mittel sind, sie zu bemeistern, und die von ihnen hartnäckig verteidigten Schätze zu heben."

"Es fehlt Euch gewiss nicht", sagte Heinrich, "an ermunternden Liedern. Ich sollte meinen, dass Euch Euer Beruf unwillkürlich zu Gesängen begeistern und die Musik eine willkommne Begleiterin der Bergleute sein müsste."

"Da habt Ihr wahr gesprochen", erwiderte der Alte; "Gesang und Zitherspiel gehört zum Leben des Bergmanns, und kein Stand kann mit mehr Vergnügen die Reize derselben geniessen, als der unsrige. Musik und Tanz sind eigentliche Freuden des Bergmanns; sie sind wie ein fröhliches Gebet, und die Erinnerungen und Hoffnungen desselben helfen die mühsame Arbeit erleichtern und die lange Einsamkeit verkürzen.

Wenn es Euch gefällt, so will ich Euch gleich einen Gesang zum besten geben, der fleissig in meiner Jugend gesungen wurde.

Der ist der Herr der Erde,
Wer ihre Tiefen misst,
Und jeglicher Beschwerde
in ihrem Schoss vergisst.

Wer ihrer Felsenglieder
geheimen Bau versteht,
und unverdrossen nieder
Zu ihrer Werkstatt geht.

Er ist mit ihr verbündet,
Und inniglich vertraut,
Und wird von ihr entzündet,
Als wär sie seine Braut.

Er sieht ihr alleTage
Mit neuer Liebe zu,
Und scheut nicht Fleiss und Plage;
Sie lässt ihm keine Ruh.

Die mächtigen Geschichten
Der längst verflossnen Zeit
Ist sie ihm zu berichten
Mit Freundlichkeit bereit.

Der Vorwelt heilge Lüfte
Umwehn sein Angesicht,
Und in die Nacht der Klüfte
Strahlt ihm ein ewges Licht.

Er trifft auf allen Wegen
Ein wohlbekanntes Land,
Und gern kommt sie entgegen
Den Werken seiner Hand.

Ihm folgen die Gewässer
Hülfreich den Berg hinauf,
Und alle Felsenschlösser
Tun ihre Schätz' ihm auf.

Er führt des Goldes Ströme
In seines Königs Haus,
Und schmückt die Diademe
Mit edlen Steinen aus.

Zwar reicht er treu dem König
den glückbegabten Arm,
Doch fragt er nach ihm wenig,
Und bleibt mit Freuden arm.

Sie mögen sich erwürgen
am Fuss um Gut und Geld,
Er bleibt auf den Gebürgen
Der frohe Herr der Welt."

(und später wird im Gespräch festgestellt:)

"Ihr seid beinah verkehrte Astrologen. Wenn diese den Himmel unverwandt betrachten und seine unermesslichen Räume durchirren: so wendet ihr Euren Blick auf den Erdboden, und erforscht seinen Bau. Jene studieren die Kräfte und Einflüsse der Gestirne, und ihr untersucht die Kräfte der Felsen und Berge, und die mannigfaltigen Wirkungen der Erd- und Steinschichten. Jenen ist der Himmel das Buch der Zukunft, während euch die Erde die Denkmale der Urwelt zeigt."




<-Vorbemerkung zu "Die Ethik des Schlamms"
von Peter Buck

Im Jahre 1865 verfasste John Ruskin ein Rollenspiel (wie wir heute sagen würden) mit dem Titel "The Ethik of Dust" (Band XVIII der Gesamtausgabe "The Works of John Ruskin, herausgegeben von T. Cook und A. Wedderburn, George Allen Verlag, London 1905). In zehn Kapiteln entwickelt er eine Mineralogie und nutzt die in diesem Zusammenhang behandelten Inhalte zur Thematisierung ethischer und religiöser Lebensfragen. Am Ende dieses pädagogisch wie fachdidaktisch höchst lesenswerten Textes fordert ein "älterer Lehrer von unberechenbarem Alter" die Schülerin Mary ("für die jederman, der alte Lehrer eingeschlossen, Ehrfurcht hegen") auf, eine Passage aus dem 5. Band seines Werkes "Modern Painters" (Band VII der Gesamtausgabe) vorzulesen. (Im "The Law of Help" überschriebenen Kapitel, aus dem der vorgelesene Text stammt, befasst sich Ruskin mit dem Problem der Ganzheit eines Gemäldes.)

Sein Rollenspiel "The Ethic of Dust" charakterisiert Ruskin im Vorwort selbst folgendermassen: "Die nachfolgenden Vorlesungen wurden - in ihrem Wesenskern - wirklich gehalten, in einer Mädchenschule (weit draussen auf dem Lande) im Zusammenhang mit verschiedenen Versuchen, die Möglichkeit einer besseren Einführung des praktischen Zeichnens im modernen Lehrplan der Mädchenerziehung zu erproben. ... Man wird sofort sehen, dass diese Vorlesungen nicht als Einführung in die Mineralogie gedacht waren. Ihr Zweck war lediglich, den Geist der jungen Mädchen, die bereit sind, ernsthaft und systematisch zu arbeiten, anzuregen und ihr lebendiges Interesse an ihren Lerngegenstand zu wecken." Wir können uns vorstellen, dass dieser Text auch heute noch die von Ruskin erhoffte Wirkung entfaltet.


Die Ethik des Schlamms
von John Ruskin

Komposition könnte man am besten definieren als die Hilfe, die jedes Detail in einem Gemälde durch alle anderen erfährt. ...
Von allen Gesetzen des Weltalls das erste - ein zweiter Name für Leben heisst: "Hilfe". Ein zweiter Name für Sterben heisst: "Trennung". Herrschen und Zusammenwirken, in bezug auf alle Dinge, bilden die Gesetze des Lebens. Gesetzlosigkeit (Anarchie) und Gegnerschaft (Konkurrenz), in bezug auf alle Dinge, bilden die Gesetze des Verfalls.

Vielleicht das beste Beispiel von der innersten Natur und Kraft der Dinge, das sich anführen lässt, ist das Beispiel von den möglichen Gestaltungen, die der Staub zu unseren Füssen anzunehmen vermag. Man kann sich schwerlich etwas absolut Unreineres vorstellen (wenn man von der tierischen Verwesung absieht) als den Schmutz und Schlamm eines vielbenützten Pfads im Weichbild einer Fabrikstadt. Ich sage nicht Strassenschmutz, weil er tierischen Unrat enthält. Man nehme an einem Regentage von solchem Fabrikspfad einige Unzen Schlamm. Er enthält in den meisten Fällen Lehm, Russ, ein wenig Sand und Wassser. Alle Bestandteile führen unter einander einen hilflosen Krieg und zerstören gegenseitig ihre Natur und Kraft, indem eins das andere in einem wilden Wettkampf bei jedem Fusstritt zu verdrängen strebt. Sand spritzt vom Lehm weg, Lehm aus Wasser und der Russ mischt sich in Alles und verunreinigt das Ganze. Stellen wir uns vor, dass man dieser Unze Schmutz vollkommene Ruhe gestattete und dass die Bestandttheile sich zusammenstellen, Gleiches zu Gleichem, so dass die Atome in möglichst nahe Beziehung treten.

Der Lehm beginne. Aus ihm wird allmählig, indem er sich von allem Fremdartigen frei macht, eine weisse Thonerde, aus der man mit Hilfe eingepresster Flammengluth Porzellan machen kann. Aber diese künstliche Gestaltung ist nicht das Beste. Man überlasse die weisse Tonerde ihrem eigenen Einheitsinstinkt; dann wird sie nicht nur weiss, sondern sie klärt sich; nicht nur dass sie sich klärt, sie verhärtet sich, gestaltet sich dermassen, dass sie auf wunderbare Weise mit dem Licht verfährt, die herrlichsten blauen Strahlen -aus ihm sammelt, die übrigen zurückweist. Man nennt dies alsdann einen Saphir.

Dies ist Lehm in seiner höchsten Vollendung. Nun wollen wir auf gleiche Weise den Sand sich ruhig gestalten lassen. Auch aus ihm wird zuerst eine weisse Erde, die sich klärt und verhärtet; schliesslich reiht sie sich geheimnisvoll in unendlich feine Parallellinien, welche die Kraft besitzen, nicht nur die blauen, sondern auch die rothen, grünen und purpurnen Strahlen in höchster Schönheit, wie sie sich auf keiner anderen Substanz zeigen, zu reflektieren. Man nennt dies einen Opal.

Lassen wir dann den Russ seine Arbeit thun. Er kann sich nicht sofort weiss machen. Aber statt den Muth sinken zu lassen, versucht er es mehr und mehr und wird schliesslich hell-licht und das härteste Ding der Welt. Anstelle seiner einstmaligen Schwärze erlangt er die Kraft, die Sonnenstrahlen - herrlicher als jede andere harte Substanz -, alle auf einmal zu reflektieren. Man nennt dies alsdann einen Diamant.

Schliesslich reinigt sich das Wasser, oder es vereinigt sich, zufrieden wenn es die Form eines Tautropfens annehmen kann. Wenn wir es jedoch vollkommen entwickelt wissen wollen, so kritallisiert es sich sternenförmig.

Und statt der Unze Schlamm, die uns national-ökonomische Konkurrenz gab, erlangen wir durch rationalökonomische Zusammenwirkung einen Saphir, einen Opal und einen Diamanten, eingesetzt in einen Schneestern.




<-Wind, Sand und Sterne
von Antoine de Saint Exupéry

Wir bewohnen einen Wandelstern. Manchmal zeigt er uns seine Herkunft; ein Teich, der mit dem Meer in Verbindung steht, lässt uns verborgene Verwandtschaften ahnen. Aber ich habe als Flieger noch mehrere dieser Zeichen kennengelernt.

An der Saharaküste zwischen Cap Juby und Cisneros überfliegt man von Zeit zu Zeit Tafelberge in Form von Kegelstümpfen, deren Breiten zwischen einigen hundert Schritten und dreissig Kilometern schwanken. Ihre Höhe ist auffallend gleichmässig und beträgt dreihundert Meter. Wie die Höhe, so ist auch die Farbe, die Bodenbeschaffenheit und die Form des Abfalls die gleiche. Die Säulen eines alten Tempels, die aus dem Sande ragen, weisen die Spuren der zusammengebrochenen Fluchtlinie auf; gerade so zeugen auch diese einsamen Pfeiler von einer grossen Hochfläche, die sie einst vereinigte.

In den ersten Jahren der Linie Casablanca-Dakar, als die Motoren noch unzuverlässig waren, zwangen uns Motorstörungen, Nachforschungen und Hilfsunternehmungen oft, im Aufstandsgebiet zu landen. Sand ist aber tückisch; man hält ihn für fest und sinkt ein. Auch die alten Salinen, die so fest scheinen wie Asphalt und unter dem Schuh hart aufklingen, geben manchmal unter dem Gewicht der Räder nach, und dann öffnet sich eine weisse Salzkruste über einem tückischen, schwarzen Sumpf. Darum suchten wir nach Möglichkeit auf den ebenen Oberflächen der Tafelberge zu landen, die keine tückischen Gefahren bargen.

Diese Sicherheit verdanken sie dem Vorhandensein eines festeren, grobkörnigen Sandes, einer Anhäufung kleiner Muschelschalen. Oben sind diese noch ziemlich lose, wenn man aber einen der Grate hinabsteigt, kann man beobachten, wie sie sich immer stärker verkitten. In der ältesten Ablagerung am Fuss der Bergmasse bilden sie schon reinen Kalkstein. Zur Zeit, als Serre und Reine bei den Aufständischen gefangen waren, ging ich einmal auf einem dieser Notlandeplätze nieder, um einen mauretanischen Unterhändler abzusetzen. Ehe ich abflog, schaute ich mit ihm aus, ob auch ein Weg da war, auf dem er hinuntergelangen konnte. Aber unsere Tafel endete überall in einem Steilabfall, der senkrecht in die Tiefe ging mit Falten wie ein Vorhang. Ein Abstieg erschien undenkbar.

Und doch blieb ich noch ein wenig dort, ehe ich aufstieg, um eine andere Landungsstelle zu suchen. Ich empfand eine vielleicht kindliche Freude, mit meinen Spuren ein Land zu zeichnen, das noch nie ein Wesen, Mensch oder Tier, entweiht hatte. Kein Mauretanier hätte je diese Festung bezwingen können, kein Europäer hatte das Land durchforscht. Ich beschritt also völlig jungfräulichen Boden. Als erstes liess ich den Muschelstaub wie edles Gold von einer Hand in die andere gleiten. Als erster störte ich das Schweigen dieses Ortes. Auf diesem Block, der, wie eine Eisscholle, solange er steht, keinen Grashalm hervorgebracht hat, war ich wie ein vom Winde verwehtes Samenkorn, der erste Zeuge des Lebens.

Schon leuchtete ein Stern, und ich sah ihn an. Ich dachte, wie die weisse Fläche, auf der ich mich befand, seit Hunderttausenden von Jahren nur den Sternen dargeboten war, ein fleckenloses Tuch unter den reinen Himmel ausgebreitet.

Da durchfuhr es mich wie einen Forscher im Augenblick einer grossen Entdeckung: ich sah auf diesem Tuch kaum zwanzig Meter von mir einen schwarzen Kiesel. Hier stand ich, auf einer dreihundert Meter dicken Schicht von Muschelschalen, die in ihrer gewaltigen Höhe als bündiger Beweis dem Vorhandensein irgendeines Steines widersprachen. Unten, in unterirdischen Tiefen, da mochten Kieselsteine schlafen, die von den langsamen Bewegungen der Erde gehoben wurden. Aber welches Wunder liess einen von ihnen zu dieser viel zu jungen Oberfläche steigen? Mit klopfendem Herzen hob ich den Fund auf: ein harter, schwarzer Stein von Faustgrösse, schwer wie Metall und tropfenförmig:

Auf ein Tuch, das man unter einem Apfelbaum ausbreitet, fallen Äpfel - ein Tuch unter Sternen kann nur Staub von Gestirnen erhalten. Kein Meteor hat je seine Herkunft so deutlich dargetan wie dieser schwarze Stein.

Mir kam, als ich wieder aufsah, die Einsicht, dass von dem Himmelsbaum sicher noch mehr Früchte gefallen waren. Sie mussten noch an der Stelle liegen, wo sie hingefallen waren, denn seit Hunderttausenden von Jahren hat sie nichts gestört. Sie gingen ja mit anderen Stoffen keine Verbindung ein. Ich machte mich auf die Suche, meine Vermutung zu überprüfen. Und sie stimmte. Ich fand Steine, so etwa einen auf den Hektar. Alle sahen aus wie versteinte Lava und waren hart wie Diamanten und schwarz wie Kohle. Meine Felstafel war wie ein Niederschlagsmesser für fallende Steine. Ich erlebte so gleichsam eine packende Zeitrafferaufnahme des langsamen Feuerregens, der aus dem Weltraum auf die Erde niedergeht.




<-Vision von der Erde nach einem Herzinfarkt 1944
von C. G. Jung

"Es schien mir, als befände ich mich hoch oben im Weltraum. Weit unter mir sah ich die Erdkugel in herrlich blaues Licht getaucht. Ich sah das tiefblaue Meer und die Kontinente. Tief unter meinen Füssen lag Ceylon, und vor mir lag der Subkontinent von Indien. Mein Blickfeld umfasste nicht die ganze Erde, aber ihre Kugelgestalt war deutlich sichtbar, und ihre Kontinente schimmerten silbern durch das wunderbare blaue Licht. An manchen Stellen schien die Erdkugel farbig oder dunkelgrün gefleckt wie oxydiertes Silber. 'Links' lag in der Ferne eine weite Ausdehnung - die rotgelbe Wüste Arabiens. Es war, wie wenn dort das Silber der Erde eine rotgelbe Tönung angenommen hätte. Dann kam das Rote Meer, und ganz weit hinten, gleichsam 'links oben', konnte ich gerade noch einen Zipfel des Mittelmeers erblicken. Mein Blick war vor allem dorthin gerichtet. Alles Andere erschien nur undeutlich. Zwar sah ich auch die Schneeberge des Himalaya, aber dort war es dunstig oder wolkig. Nach 'rechts' blickte ich nicht. Ich wusste, dass ich im Begriff war, von der Erde wegzugehen.

Später habe ich mich erkundigt, wie hoch im Raume man sich befinden müsse, um einen Blick von solcher Weite zu haben. Es sind etwa 1500 km! Der Anblick der Erde aus dieser Höhe war das Herrlichste und Zauberhafteste, was ich je erlebt hatte."




L U F T

Zug 1992


<-Ballade vom Wind
von Werner Bergengruen

Preist den Wind! Gott gab dem Winde
oberhalb der Erdenrinde
alles in sein Eigentum,
alle Meere, alle Länder,
gab ihm Masken und Gewänder:
Tramontana und Samum,
Zephyr, Blizzard, Föhn und Bora,
Mistral, Eurus und Monsun,
Hurrikan, Passat und Ora
und Tornado und Taifun.

Schuf ihn zum Herold und Herrn der Gezeiten,
liess ihm Willkür und gab ihm Gesetze,
Sternenbilder heraufzugeleiten
und dem Gewitter den Weg zu bereiten
wies ihm Rennbahn und Ruheplätze.

Wälderdurchbrauser und Steppendurchschweifer,
dunkler Bläser und heller Pfeifer,
hetzt er Schwalbe und Kormoran,
wühlt in den Mühlen der jagenden Rosse,
schleudert er Drachen, Schiffe, Geschosse,
Adler und Geier aus ihrer Bahn.

Kerzenverlöscher und Flammenschürer,
Nebelzerteiler und Wolkenführer,
schäumiger Wellen johlender Freier,
Trinker der Tränen, Zerreisser der Schleier,
rauchblau, schwärzlich und hagelweiss,
Tücherbauscher, Seelenberauscher,
kindlicher Spieler und zorniger Greis.

Ungebändigt im Springen und Streunen,
reisst die Dächer er von den Scheunen
und von den Herzen die Schwermut los
kühner Beflügler, ewiger Dränger,
mächtiger Löser und Kettensprenger,
Felsenrüttler und Wipfelbeuger,
grosser Zerstörer und grösserer Zeuger,
Flötenruf und Posaunenstoss,
reisiger Feger des Himmelshauses,
Abbild des pfingstlichen Geistgebrauses -
preiset den Wind! Der Wind ist gross.

Als der alte Ruhelose,
Segelmacher, Seebefahrer
früh am Sankt Josephitag
auf dem letzten Bette lag,
und die junge Krankenschwester
mit der weissen Flügelhaube
sich zu ihm herniederbeugte,
fuhr erschrocken sie zurück.
Von den bartumstarrten Lippen
sprang ihrs wie ein Stoss entgegen,
und der Haube weisse Flügel
flatterten im Schneegewölk.
Wars ein Aufschrei, dem die Laute
nicht mehr sich gefügig zeigten?
Wars ein Seufzer, wars ein Hauch?
Schreie nicht noch Seufzer haben
solche Kraft und solche Wildheit.
Nein, die ruhelose Seele
schied sich ungestüm vom Leibe,
und die Schwester schlug ein Kreuz.
Schloss ihm mit geübten Händen
sanft die wasserblauen Augen,
öffnete den Fensterspalt.

Hui! Da schoss es durch das Zimmer
aus des Bettes Ecke her.
Bilder klirrten an den Wänden,
Glasgefässe auf dem Tisch.
Mit Gefauche und Gezisch
stiess es an die Spiegelscheibe,
trübte sie für Augenblicke.
Wie ein eingeflogner Vogel
prallte es von Wand zu Wand,
bis es blind das Fenster fand.

Draussen heulten die Gefährten,
Totengeister, Wirbelwinde,
Wolkenreiter, Wasserfurcher
ihrem endlich Heimgekehrten
tausendstimmig zum Empfang.
In den Telegraphendrähten
brauste wilder Märzgesang
dass die Fahnen an den Stangen,
Hemden sich am Seile blähten,
vom Gesims die Regentraufen,
Schindeln von den Dächern sprangen.
Fetzen, Staub und Kehrichthaufen
wirbelten aus ihrer Ruh.
Und wie leichte Sommerfäden
bogen sich die Lindenäste.
Zweige brachen, Blitzableiter
rasselten und Fensterläden,
Türen schlugen krachend zu.

Die vertrauten Sturmgeschwister,
Wasserfurcher, Wolkenreiter,
Wirbelwinde, Totengeister
stoben weiter.
Und sie fauchten in Spiralen
um ergraute Kathedralen,
rannten auf den Orgelboden,
griffen, rasende Rhapsoden,
in die Pfeifen und Register,
jagten aus den Wolkenhöhen
immer wilder, immer gröber
weisslichgraue Regenböen,
Sonnenstrahlen, Schneegestöber,
Hagelschlossen vor sich her
zausten Schiffe in den Häfen,
peitschten das geliebte Meer,
tobten um der Berge Schläfen,
stürzten sich auf Bruch und Forsten,
dass die schwarzen Tannenborsten
tief sich bogen, hoch sich sträubten.
Ohne Pause und Erlahmen
liefen sie durch Sumpf und Heiden,
durch das bleiche Gräserhaar,
griffen sie nach Nuss und Weiden,
dass zu schäumendem Besamen
herrlich Gold und Silber stäubten!

Und der alte Ruhelose,
Segelmacher und Matrose
jagte mit der Geisterschar
aller Gräberwelt zu Häupten,
dem Lebendigen zum Preise,
wie es vor dem Anfang war.

Also trieben sie die Reise,
trunken, als ein toller Schwall,
fuhren sie in Windgottsweise
jauchzend um den Erdenball.




<-Bericht über die am Fusse und auf dem Gipfel des Puy-de-Dôme angestellten Barometerbeobachtungen
von Blaise Pascal

Pascal (1623-1662) brachte die Frage, ob ein Abscheu vor dem leeren Raum (Horror vacui) oder der Luftdruck das Aufsteigen der Flüssigkeiten verursache, zur Entscheidung. Er liess nämlich den Torricelli'schen Versuch auf dem fast 1000 m hohen Puy-de-Dôme wiederholen und erstattete über das Ergebnis den berühmt gewordenen Bericht, dem die hier mitgeteilten Briefe entnommen sind.

Pascal an * * * [1]

Ich würde die unausgesetzte Tätigkeit, die Ihre Geschäfte mit sich bringen, nicht unterbrechen, um Sie mit physikalischen Problemen zu unterhalten, wenn ich nicht wüsste, dass sie Ihnen in Ihren Mussestunden Erholung gewähren. Was ich Ihnen jetzt mitteile, ist nur eine Fortsetzung der Gespräche, die wir miteinander in bezug auf das Vakuum geführt haben. Wie Sie wissen, haben alle Philosophen an dem Grundsatz festgehalten, die Natur verabscheue es. Ich habe in meiner Abhandlung über das Vakuum diese Meinung zu zerstören gesucht und glaube, dass die Erfahrungstatsachen, die ich bezüglich dieser Fragen herangezogen habe, klar erkennen lassen, dass die Natur einen beliebig grossen, von aller Materie leeren Raum zulassen kann und in Wirklichkeit auch zulässt. Ich bin jetzt damit beschäftigt, Tatsachen aufzusuchen, die entscheiden lassen, ob die Wirkungen, die man dem Horror vacui zuschreibt, auf ihn zurückgeführt werden können, oder durch die Schwere und den Druck der Luft veranlasst werden. Ich habe nun einen Versuch ausgedacht, der genau ausgeführt allein genügen würde, diese zu entscheiden. Der Versuch würde darin bestehen, das Vakuum in der bekannten Weise [2] mehrere Male an einem Tage in derselben Röhre und mit demselben Quecksilber hervorzurufen, das eine Mal am Fusse, das andere Mal auf dem Gipfel eines Berges von wenigstens 5-600 Toisen [3] Höhe, um zu prüfen, ob die Höhe des in der Röhre schwebenden Quecksilbers in beiden Fällen die gleiche oder verschieden ist. Ihr erkennt zweifelsohne schon, dass dieser Versuch die Frage entscheiden würde. Wäre nämlich die Quecksilbersäule auf dem Gipfel kürzer als am Fusse des Berges, so würde daraus notwendig folgen, dass einzig und allein der Luftdruck das Quecksilber in der Schwebe hält, und nicht ein Horror vacui. Es ist nämlich leicht ersichtlich, dass am Fusse des Berges eine grössere Luftmenge einen Druck ausübt als auf dem Gipfel, während kein Grund zu der Annahme vorliegt, dass die Natur in der unteren Region einen grösseren Abscheu vor der Leere empfinden sollte als in der oberen.

Die Ausführung dieses Versuches ist nun mit mancherlei Schwierigkeiten verknüpft. Man müsste zu diesem Zwecke einen hinreichend hohen Berg wählen, der sich in der Nähe einer Stadt befände. Dort müsste dann ferner jemand imstande sein, die erforderliche Sorgfalt auf diesen Versuch zu verwenden. Da es nun selten sich treffen wird, einmal ausserhalb Paris jemanden zu finden der sich hierzu eignet des ferneren einen Ort, für den die Bedingungen zutreffen, so schätze ich mich glücklich, in meinem Falle sowohl die Person als den Ort gefunden zu haben, da unser Clermont am Fusse des 974 m hohen Puy-de-Dôme liegt, und da ich ferner hoffe, dass Sie die Güte haben werden, diesen Versuch selbst zu machen.

* * * an Pascal. [4]

Endlich habe ich den Versuch angestellt, den Sie so lange gewünscht haben. Ich erstatte Ihnen nachstehend einen ausführlichen und genauen Bericht.

Der letzte Samstag war sehr unbeständig. Da das Wetter jedoch schön zu werden versprach, und der Gipfel des Puy-de-Dôme sich erblicken liess, entschloss ich mich zur Besteigung, um den Versuch dort anzustellen. Ich benachrichtigte daher mehrere angesehene Personen Clermonts, die mich gebeten hatten, ihnen den Tag, an dem ich mein Vorhaben ausführen würde, anzuzeigen.

Zuerst goss ich in ein Gefäss 16 Pfund Quecksilber; darauf nahm ich zwei Glasröhren von gleicher Dicke und 4 Fuss Länge, die an einem Ende luftdicht verschlossen, am anderen offen waren. Mit jeder Röhre stellte ich in bekannter Weise das Vakuum her und zwar in demselben Gefäss. Nachdem ich dann die beiden Röhren einander genähert hatte, ohne sie aus dem Gefäss herauszunehmen, zeigte es sich, dass das Quecksilber, das in jeder geblieben war, sich im gleichem Niveau befand, und dass die Höhe der Quecksilbersäulen, von der Oberfläche des in dem Gefäss befindlichen Quecksilbers gemessen, 26 Zoll 3½ Linien [5]
betrug. Ich wiederholte dieses Experiment an dem gleichen Orte mit eben denselben Röhren, demselben Quecksilber und dem gleichen Gefäss noch zweimal. Immer zeigte es sich, dass das Quecksilber beider Röhren dasselbe Niveau innehielt, und dass die Höhe die gleiche war, wie das erste Mal.

Darauf liess ich die eine Röhre in ihrem Gefässe, ohne den Versuch zu unterbrechen; ich merkte die Höhe der Quecksilbersäule auf dem Glase an und bat jemanden, sorgfältig und unausgesetzt während des ganzen Tages darauf zu achten, ob eine Änderung einträte. Mit der anderen Röhre und einem Teile desselben Quecksilbers begab ich mich in Begleitung mehrerer Personen auf den Gipfel des Puy-de-Dôme und stellte dort, 500 Toisen oberhalb des ersten Ortes, in der gleichen Art denselben Versuch an, den ich vorher gemacht hatte. Es zeigte sich, dass die Höhe der Quecksilbersäule in dieser Röhre nur 23 Zoll 2 Linien betrug, während sie in Clermont in derselben Röhre 26 Zoll 3½ Linien betragen hatte, so dass der Unterschied in der Höhe der Quecksilbersäulen bei diesen beiden Versuchen sich auf 3 Zoll 1½ Linien belief. Dies erfüllte uns alle mit Bewunderung und Erstaunen und überraschte uns dermassen, dass wir, um uns von der Richtigkeit zu überzeugen, den Versuch noch fünfmal sehr sorgfältig an verschiedenen Stellen des Gipfels wiederholten, sowohl unter Dach in einer kleinen Kapelle, die sich dort befindet, als unter freiem Himmel an geschützter Stelle, sowie im Winde, während klares Wetter herrschte, und bei einem Regenschauer. Immer zeigte sich bei all diesen Versuchen. dass die Quecksilbersäule eine Höhe von 23 Zoll 2 Linien innehielt.

Später stellte ich beim Abstieg denselben Versuch mit den gleichen Apparaten an, und zwar 150 Toisen oberhalb Clermonts. Dort fand ich, dass die Höhe der Quecksilbersäule 25 Zoll betrug. Dies verschaffte uns keine geringe Genugtuung, da wir sahen, dass die Höhe der Quecksilbersäule sich entsprechend der Höhe des Ortes vermindert.

Endlich, nach Clermont zurückgekehrt, fand ich daselbst an dem Apparat, den ich dort unverändert zurückgelassen, denselben Stand der Quecksilbersäule wie bei meinem Aufbruch, nämlich 26 Zoll 3½ Linien. Die Person, die zur Beobachtung zurückgeblieben war, berichtete uns, das während des ganzen Tages darin keine Änderung eingetreten sei, obgleich das Wetter sehr unbeständig gewesen wäre.

Ich wiederholte darauf den Versuch mit der Röhre, die ich auf dem Puy-de-Dôme benutzt hatte, und zwar in dem Gefässe, in dem sich die erste Röhre noch befand. Es zeigte sich, dass das Quecksilber in beiden Röhren das gleiche Niveau innehielt, und zwar eine Höhe von 26 Zoll 3½ Linien, wie am Morgen in derselben Röhre und während des ganzen Tages in derjenigen Röhre, die in unveränderter Stellung geblieben war.

Am folgenden Tage wurde mir von einer Seite der Vorschlag gemacht, meinen Versuch am Fusse und auf der Spitze des höchsten Turmes Clermonts zu wiederholen und zu erproben, ob in diesem Falle ein Unterschied bemerkbar sei. Um der Wissbegierde zu genügen, stellte ich noch am selben Tage das Experiment in einem Hause an, das sich am Fusse des Turmes befand. Wir fanden dort die Höhe der Quecksilbersäule gleich 26 Zoll 3 Linien. Darauf wiederholte ich den Versuch auf der Spitze des Turmes, 20 Toisen über seinem Fusse. Dort betrug die Höhe des Quecksilbers 26 Zoll 1 Linie, war also um 2 Linien geringer.


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<- [1] Pascal an seinen Schwager Perier, am 15.11.1647 (Anm. der Red.)
<- [2 Das heisst durch Erzeugung der Torricelli'schen Leere, in einer mit Quecksilber gefüllten Röhre
<- [3] Die Toise oder der französische Klafter = 6 franz. Fuss = 1,949 m (also 1000-1200m - Red.)
<- [4] Perier an Pascal, am 22.9.1648 (Anm. der Red.)
<- [5] 1 frz. Zoll (27 mm) hat 12 Linien, 1 Linie misst also etwa 2 mm (Anm. der Red.)




<-Der Kondor
von Adalbert Stifter

(Drei Menschen, ein Pionier der Luftfahrt, seine Gefährtin Cornelia und ein alter, wissenschaftlich interessierter Begleiter unternehmen eine utopische Ballonfahrt in die Stratosphäre.)

In frühester Morgendämmerung, um jeder unberufenen Beobachtung zu entgehen, ward die Auffahrt veranstaltet. ... Es war ein banger Augenblick für die umstehenden Teilnehmer, als der unscheinbare Taffet zu einer riesenhaften Kugel anschwoll und die mächtigen Taue straff spannte, mit denen sie an die Erde gebunden war. Seltsame Instrumente und Vorrichtungen wurden gebracht und in die Fächer des Schiffes geschnallt.

Alle waren sie nun in Bereitschaft, die Maschine in Ordnung. Einen Blick noch tat Cornelia auf die Bäume des Gartens, die ins Morgengrau vermummt umherstanden und zusahen - dann erscholl aus dem Munde ihres Begleiters der Ruf: "Nun lasst im Namen Gottes den braven Kondor fliegen - löst die Taue!" Es geschah, und von den tausend unsichtbaren Armen der Luft gefasst und gedrängt, erzitterte der Riesenbau der Kugel und schwankte eine Sekunde - dann sachte aufsteigend zog er das Schiffchen los vom mütterlichen Grunde der Erde, und mit jedem Atemzuge an Schnelligkeit gewinnend, schoss er endlich pfeilschnell senkrecht in den Morgenstrom des Lichts empor, und im Momente flogen auch auf seine Wölbung und in das Tauwerk die Flammen der Morgensonne, dass Cornelia erschrak und meinte, der ganze Ballon brenne; denn wie glühende Stäbe schnitten sich die Linien der Schnüre aus dem indigoblauen Himmel, und seine Rundung flammte wie eine riesenhafte Sonne. Die zurücktretende Erde war noch ganz schwarz und unentwirrbar, in Finsternis verrinnend. Weit im Westen auf einer Nebelbank lag der erblassende Mond.

So schwebten sie höher und höher, immer mehr und mehr an Rundsicht gewinnend. Zwei Herzen, und vielleicht auch das dritte alte, pochten der Grösse des Augenblicks entgegen.

Die Erhabenheit begann nun allgemach ihre Pergamente auseinanderzurollen - und der Begriff des Raumes fing an mit seiner Urgewalt zu wirken. Die Schiffenden stiegen eben einem Archipel von Wolken entgegen, die der Erde in demselben Augenblicke ihre Morgenrosen sandten, hier oben aber weiss schimmernde Eisländer waren, in den furchtbar blauen Bächen der Luft schwimmend und mit Schlünden und Spalten dem Schiffe entgegenstarrend. Und wie sie näher kamen, regten und rührten sich die Eisländer als weisse, wallende Nebel. In diesem Augenblicke ging auf der Erde die Sonne auf, und diese Erde wurde wieder weithin sichtbar. Es war noch das gewohnte Mutterantlitz, wie wir es von hohen Bergen sehen, nur lieblich schön errötend unter dem Strahlennetze der Morgensonne.

"Wie weit, Coloman?" fragte der Luftschiffer.

"Fast Montblancs Höhe", antwortete der alte Mann, der am andern Ende des Schiffchens sass, "wohl über vierzehntausend Fuss, Mylord."

"Es ist gut."

Cornelia sah bei dieser Rede behutsam über Bord des Schiffes und tauchte ihre Blicke senkrecht nieder durch den luftigen Abgrund auf die liebe verlassene, nunmehr schimmernde Erde, ob sie etwa bekannte Stellen entdecken möge - aber siehe, alles war fremd, und die vertraute Wohnlichkeit derselben war schon nicht mehr sichtbar und mithin auch nicht die Fäden, die uns an ein teures, kleines Fleckchen binden, das wir Heimat nennen. Wie grosse Schatten zogen die Wälder gegen den Horizont hinaus - ein wunderliches Bauwerk von Gebirgen wie wimmelnde Wogen ging in die Breite und lief gegen fahle Flecken ab, wahrscheinlich Gefilde. Nur ein Strom war deutlich sichtbar, ein dünner, zitternder Silberfaden, wie sie oft im Spätherbste auf dunkler Heide spinnen. Über dem Ganzen schien ein sonderbar gelbes Licht zu schweben.

....

Der Ballon zog mit einem sanften Luftstrome westwärts, ohne weiter zu steigen; denn schon über zwanzig Minuten fiel das Quecksilber in der Röhre gar nicht mehr, beide Männer arbeiteten mit ihren Instrumenten.

Die Stille wurde nur unterbrochen durch eintönige Laute der Männer, wie der eine diktierte, der andere schrieb. Am Horizonte tauchten jetzt in nebelhafter Ferne ungeheure schimmernde Schneefelder auf, die sich Cornelia nicht enträtseln konnte. "Es ist das Mittelmeer, verehrtes Fräulein", sagte Coloman; "wir wollen hier nur noch einige Luftproben in unsere Fächer schöpfen und die Elektrizität prüfen; dann sollen Sie den Spiegel noch viel schöner sehen, nicht mehr silbern, sondern wie lauter blitzendes Gold."

Hierauf fing der Ältere an, Säcke mit Sand, die im Schiffe standen, über Bord zu leeren. Der Kondor wiegte sich in seinem Bade, und wie mit den prächtigen Schwingen seines Namensgenossen hob er sich langsam und feierlich in den höchsten Äther- und hier nun änderte sich die Szene schnell und überwältigend.

Der erste Blick Cornelias war wieder auf die Erde - diese aber war nicht mehr das wohlbekannte Vaterhaus: in einem fremden, goldnen Rauche lodernd, taumelte sie gleichsam zurück, an ihrer äussersten Stirn das Mittelmeer wie ein schmales, gleissendes Goldband tragend, überschwimmend in unbekannte, phantastische Massen. Erschrocken wandte die Jungfrau ihr Auge zurück, als hätte sie ein Ungeheuer erblickt- aber auch um das Schiff herum wallten weithin weisse, dünne, sich dehnende und regende Leichentücher - von der Erde gesehen - Silberschäfchen des Himmels. - Zu diesem Himmel floh nun ihr Blick - aber siehe, er war gar nicht mehr da: das ganze Himmelsgewölbe, die schöne blaue Glocke unserer Erde, war ein ganz schwarzer Abgrund geworden, ohne Mass und Grenze in die Tiefe gehend - jenes Labsal, das wir unten so gedankenlos geniessen, war hier oben völlig verschwunden, die Fülle und Flut des Lichtes auf der schönen Erde. Wie zum Hohne wurden alle Sterne sichtbar winzige, ohnmächtige Goldpunkte, verloren durch die Öde gestreut- und endlich die Sonne, ein drohendes Gestirn ohne Wärme, ohne Strahlen, eine scharfgeschnittene Scheibe aus wallendem, blähendem, weissgeschmolzenem Metalle: so glotzte sie mit vernichtendem Glanze aus dem Schlunde - und doch nicht einen Hauch des Lichtes festhaltend in diesen wesenlosen Räumen; nur auf dem Ballon und dem Schiffe starrte ein grelles Licht, die Maschine gespenstig von der umgebenden Nacht abhebend und die Gesichter totenartig zeichnend wie in einer Laterna magica.

Und dennoch - die Phantasie begriff es kaum - dennoch war es unsere zarte, liebe Luft, in der sie schifften - dieselbe Luft, die morgen die Wangen eines Säuglings fächelt. Der Ballon kam, wie der Alte bemerkte, in den obern umgekehrten Passatstrom und musste mit fürchterlicher Schnelligkeit dahingehen, was das ungemeine Schiefhängen des Schiffes bewies und das gewaltige Rütteln und Zerren an dem Taffet, der dessen ungeachtet keinen stärkern Laut gab als das Wimmern eines Kindes; denn auch das Reich des Klanges war hier oben aus - und wenn das Schiff sich von der Sonne wendete, so war nichts, nichts da als die entsetzlichen Sterne, wie Geister, die bei Tage umgehen....

Später tat der Jüngling einen jähen Zug an einer grünseidnen Schnur und wie ein Riesenfalke stiess der Kondor hundert Klafter senkrecht nieder in der Luft - und sank dann langsamer immer mehr und mehr.





F E U E R

Leipzig 1993


<-Feuer
von Robert Jungk

Meine früheste Erinnerung an Feuer ist Begeisterung und Schreck. Eine Kerzenflamme leuchtet auf in einem dunklen Raum. Ich greife nach der flackernden Schönheit und schreie auf vor Schmerz. Noch lauter tönt der Angstruf der Mutter. Nie zuvor- und auch nie später- habe ich ihre Stimme so verzweifelt, so ausser sich gehört. Sie brennt sich in mein Inneres, in mein Gedächtnis. Wann immer etwas loht, leuchtet, glüht bin ich angezogen und abgestossen zugleich, will es besitzen und weiss, dass ich es nicht einmal für einen Augenblick berühren kann ohne bestraft zu werden.

Bis in meine Kindheitsträume hinein verfolgten mich die allabendlichen Höllenphantasien des Hausmädchens Helene, die mit dem Fegefeuer genauso vertraut schien wie mit ihren Herdflammen. In ihren Erzählungen züngelte es purpurrot und organgegelb. Die ganz schlimmen Sünder wurden von grellen Blitzen verzehrt, und wenn ich mich wieder einmal schuldig fühlte, dann wurde mir jedes Gewitter zum drohenden Strafgericht, erwartete ich bis in den Traum hinein stockenden Herzens, dass die zuckenden Himmelsbrände auf mich herabfallen würden.

Aber nein, ich kam noch einmal davon. Und beim Aufwachen am Morgen sah ich dann als erstes an der Zimmerdecke das heitere Spiel der Lichtkringel: die Welt war herrlich, sie glitzerte und sprühte und verströmte satte Wärme. Es war eine Lust zu leben im Goldlicht der guten Sonne.

Lange habe ich mir Gott mit einem Sonnenhaupt vorgestellt. Er war der Glanz, der alles von ihm Geschaffene über sich selbst erhob. Wer ihm zu lange ins Antlitz sah, musste bald geblendet die Augen schliessen, wer sich zu lange seiner Strahlung aussetzte, wurde verwirrt. Und doch lebte alles von dieser Kraft, die täglich das Dunkel überwand, die Kälte vertrieb, das Schlafende weckte.

Als ich viele Jahre später in Nepal erlebte, wie die ersten Strahlen des beginnenden Tages über den Schneegipfeln der Himalayakette von freudeschreienden Kindern mit Dutzenden kleiner Holzfeuer begrüsst wurden, prägte sich mir abermals die Doppelnatur dieses segensreichen, dieses bedrohlichen Elements ein. Unversehens hatte das flatternde weisse Gewand eines der kleinen Sonnenverehrer Feuer gefangen und im Nu war er zur brüllenden Fackel geworden. Bis er sich mit Hilfe seiner Freunde den gierigen Zähnen und Zungen der Flammen entziehen konnte schienen Ewigkeiten zu vergehen, Zeit genug für eine Vision, die mich in Abständen seither immer wieder heimsucht.

Ich stellte mir eine Welt ohne Feuer vor, eine Zukunft in der Licht und Wärme ausschliesslich von der Sonne käme, eine Zeit, in der die Nacht wieder ganz der Dunkelheit und Kälte gehören würde, eine Menschheit, welche für den frechen Diebstahl des Prometheus zwar zuerst leiden müsste, dann aber den neuen Zustand nicht nur ertragen, sondern sogar begrüssen könnte. Weil mit dem Verlöschen des Feuers auch ein Verlöschen der Gefahren, die von ihm ausgingen, verbunden wäre.

Es war kein Zufall, dass diese antihistorische Vorstellung, diese unvernünftige Sehnsucht nach Rückkehr in eine risikoärmere feuerlose Vorvergangenheit zum ersten Mal an einem ganz bestimmten Zeitpunkt von mir Besitz ergriff. Es geschah auf der Rückreise von jenem Ort der Erde, an dem der schrecklichste und langwährendste Brand der Geschichte gewütet hatte: Hiroshima. Wochen hatte ich an diesem Ort der Verdammnis verbracht, war den Spuren des Unheils gefolgt, hatte in zur Erinnerung bewahrte Häuflein von Asche gestarrt, die von hohen Hitzegraden zu Klumpen eingeschmolzenen Überreste menschlicher Artefakte in der Hand gehalten, in einer Mischung von Mitleid und Widerwillen die scheusslichen Brandwülste auf der Haut der bedauernswerten Überlebenden berührt, hatte stundenlang ihre bestürzenden Berichte über jenen infernalischen Tag des Untergangs gehört, die ich zwar sprachlich nicht verstand, aber durch Geste und Tonfall um so eindringlicher erfuhr. War das die Strafe für die Entwendung des Feuers aus göttlicher Hut, die in so vielen verschiedenen Mythen berichtet wird? War es eine Warnung, dass noch Schlimmeres bevorstände, wenn es nicht gelänge, dieses unheimliche Element endlich ganz zu beherrschen?

Seit mindestens zweihunderttausend Jahren spielt der Mensch mit dem Feuer. Alle anderen Lebewesen haben stets das Weite gesucht, sobald sie Brand witterten. Aber dieses aufrechtgehende, stets besonders gefährdete und daher auch besonders gefährliche Wesen griff nach den flammenden Ästen, die ein Blitz entzündet hatte und nährte das unersättliche Lichtmonster mit Holz oder trockenen Blättern, weil es Wärme hergab, weil es das Fleisch der Jagdbeute schmackhafter und leichter verdaulich machte, weil es gewisse "Steine" weich und formbar machte.

Lange bevor unsere fernen Vorfahren wussten wie sie selber Feuer machen konnten, lernten sie, es zu hüten. Schwerer fiel es ihnen, sich vor ihm zu hüten. Denn die gefangene Flamme brach immer wieder aus und rächte sich an ihrem Meister. Aus kleinen Rodungsfeuern entstanden gewaltige Wald- und Präriebrände, die Tage und Wochen wüteten, ehe sich ihre Wut legte. Selbst das milde Licht der Kerzen konnte, unversehens zu wilder Brunst entartend, Haus und Dorf und Stadt in Asche legen. Kein anderes Element ist mit so vielen negativen Eigenschaftswörtern beschrieben worden. Böse, zerstörerisch, heimtückisch, ungezügelt, verzehrend, unstet, wild, mörderisch ist das Feuer.

Dass der Teufel in einem Flammenmeer haust, dass die Drachen Feuer speien, dass die Dämonen Geschöpfe der Glut sind und die Monster der Einbildung in schwelende Rauchwolken gehüllt sind - wie könnte es anders sein? Die Gewalt die, nur vorübergehend domestiziert, stets auf ihre Stunde wartet, wird durch das schnell und überraschend Entzündbare ebenso sehr symbolisiert wie der Zorn.

Weil er all das, was das Feuer anrichten kann, auch sich selber zutraut, fühlt sich der Mensch ihm verwandt. Und da er allein mit dem Wissen um die in ihm angelegte Destruktivität nicht leben kann, verleiht er den Flammen auch höhere Eigenschaften. Rein sind sie und heilig. Kräfte der Verwandlung darf man ihnen zuschreiben. Energie symbolisieren sie und Fortschritt. Mit Leidenschaft und Tatendrang werden sie assoziiert. Wären die Zivilisationen der nördlichen Erdhälfte überhaupt entstanden, wenn die Menschen ohne Licht und Wärme ihr kümmerliches Schattenleben in eisigem Klima hätten fristen müssen?

Gegen Ende des zweiten Jahrtausends nicht länger an eine Klippe geschmiedet und der täglichen Folter ausgesetzt, sondern nun vor ein ordentliches Gericht zitiert, um sich zu verantworten, würde Prometheus auf den Vorwurf, dass er der Urvater des fast unvermeidlich erscheinenden Untergangs der Erde im Atomfeuer menschengemachter Waffen sei, antworten können, er habe nur das Beste gewollt, und die Menschen haben ihm lange genug recht gegeben.

In der Tat war der in vielen Mythen beschriebene archetypische Raub des Feuers, das heimliche Geschenk des Gottesverräters an die nackten, schwachen Zweibeiner, die Antriebskraft für ihre Loslösung aus dem Kreislauf, dem seit Jahrmillionen ewig gleichen von Tag zu Tag, von Jahreszeit zu Jahreszeit sich wiederholenden kosmischen Zyklus. Von nun an konnten sie die Nacht erleuchten, ohne auf den Anbruch des Tages zu warten, wurden sie unabhängig von den Launen des Klimas, mehr noch, fanden sie eine Antriebsquelle für ein zweites künstliches Universum mechanischer Instrumente, die ihre körperlichen Kräfte zehnfach, hundertfach, tausendfach verstärkten.

Wollte man das, was die Menschen in naivem Stolz, der seither von skeptischer Sorge getrübt wird, Fortschritt nennen, in einem Symbol gültig darstellen, es müsste eine lohende Flamme sein.

Und doch wäre in einem solchen Bild ein entscheidendes Merkmal des Rebellenfanals nur indirekt angedeutet: die Tatsache der Zähmung eines wilden Elements, seiner Formbarkeit und Verfügbarkeit. Der Besitz des Feuers wurde erst dann zu Machtbesitz, als man es dauerhaft horten und nach Belieben anzünden konnte. Das Wissen vom wiederholbaren Entfachen, um die zahllosen Möglichkeiten der Umwandlung und Anordnung dieser universellen Energiequelle, ist das dauerhaftere Geschenk des Prometheus, der nicht nur listig war, sondern auch intelligent, einfallsreich, fähig zur kritischen Betrachtung und phantasievollen Erfindung. Seinen Körper hat Zeus an den Felsen schmieden können, seinen Geist konnte er nicht fesseln.

Seit das Feuer der Naturerkenntnis, weitergegeben von Generation zu Generation, in uns flackert, haben wir die Natur degradiert und als Brennstoff behandelt, der unserer Erkenntnis, unserem Formbedürfnis, unserem Herstellungs- und Machtdrang zur Verfügung steht. In Denken und Einbildung über dem Kosmos stehend, physisch aber immer noch von seinen Gesetzen mitbestimmt, in Wahrheit von Luft und Erde und Wasser und dem fernen ungezwungenen Himmelsfeuer der Sonne abhängig wie in dunkler Vorzeit, beginnen wir heute, Prometheus mit anderen Augen zu sehen.

Wie oft wiederholt sich diese Situation in der Geschichte der Menschheit: man möchte das Rad gerne zurückdrehen und kann es nicht mehr. Der Rückweg ins gewohnte, gefahrenlose Gestern ist abgeschnitten. Es gibt nur ein Weitersteigen, das angesichts der gewachsenen Risiken nicht mehr begeistert blindes Vorausstürmen sein sollte, sondern Schritt um Schritt überlegt und einfallsreich.

Wir sind gezwungen, Götter zu werden. Denn als Besitzer der ihnen entwendeten Flamme müssen wir auch die höheren Gaben des Schöpfens und Bewahrens, der Übersicht und Einsicht erlangen. Gelingt uns das nicht, dann sind wir dem Feuer nicht gewachsen und es wird uns verzehren.

Ist Prometheus denn nicht die Verkörperung der Hybris? Der in kosmischen Zeitmassen gesehen kecke und bedenkenlose Sünder wider die erst teilweise verstandenen Zusammenhänge der Schöpfung? Wird nicht "Zeus" Symbol einer über zu kurz greifender Intelligenz stehenden Einsicht - schliesslich recht behalten? Werden wir Menschen, die dem Verführer folgten, weil er uns ein kurzfristig eminent nützliches, langfristig aber verhängnisvolles Geschenk machte, nicht bereuen, diesen Weg gegangen zu sein?

Da der Besitz des Feuers und der Macht, die es verleiht, die Beschenkten zwar lebensfähiger aber zugleich auch lebensgefährdeter und lebensgefährdender machte, "sandte Zeus den Hermes, um den Menschen die für das Zusammenleben über die physischen Voraussetzungen hinaus notwendige Ordnung zu geben". In Anwendung dieses mythischen Vorgangs auf die wissenschaftlich-technisch geprägte Gesellschaft folgert Klaus Meyer-Abich: "Energieversorgungssysteme setzen nach dieser Geschichte eine soziale Ordnung und Entwicklung voraus. Die sozialen Voraussetzungen, ohne die auch ein hinreichendes Energieangebot noch nicht segensreich ist, sind - wie in dem Mythos des Prometheus - heute wieder problematisch." In der Tat wird versucht, das in der technischen Zivilisation allgegenwärtige, wenn auch den Augen kaum mehr sichtbare Feuer der auf vielfache Weise erzeugten Antriebsenergien nicht nur mechanisch von aussen, sondern auch gesellschaftlich von innen zu kontrollieren. Ein Unterfangen, das nur gelingen kann, wenn es aus einem radikalen Umfeld kommt.

Der Gebrauch des Feuers durch die Kinder des Prometheus, von den primitivsten Anwendungen der Urvölker bis zu den kompliziertesten der Menschen unseres Jahrhunderts, war fast ganz auf den unmittelbaren Nutzeffekt gerichtet. Dass es auch Nebenwirkungen gab, vom beizenden Rauch der Höhlenfeuer bis zu den schwarzen, zeitweise den Himmel verdunkelnden Schwaden der Fabrikschornsteine, war bekannt, konnte aber hingenommen werden. Mit der gewaltigen Wirkungssteigerung der neuen und neuesten Energieerzeuger wurden jedoch die Seiteneffekte immer unerträglicher. Das tausend- bis millionenfach mächtigere "Feuer", das die moderne Technik antreibt, muss - und kann - mit stärkeren und andersartigen Massnahmen gebändigt werden als bisher.

Diese Einsicht setzt sich bei den Entscheidungsträgern in Behörden und im industriellen Management nur sehr langsam durch. Erst durch Schockerlebnisse wie das lange geleugnete Waldsterben oder die zunächst verharmlosten Spätschäden der radioaktiven Strahlung ist es den heutigen Benutzern des industriell erzeugten Feuers klargeworden, dass moderne Energieerzeugung auf Umwelt und Menschen unvergleichlich mehr Rücksicht nehmen muss als bisher.

Der zwingend gewordene Respekt vor dem Leben, den schon Albert Schweitzer forderte, gründet sich aber auf ganz andere Motive als jene engstirnige Erfolgsmentalität, die bisher fast ausschliesslich die Haltung der prometheischen Menschen bestimmte. Hier ist eine andere, weniger vordergründige, bisher nur in der Symbolik begriffene Eigenschaft des Feuers ins Spiel zu bringen: seine Affinität zur Liebe.

In seiner "Psychoanalyse des Feuers" hat Gaston Bachelard die Anziehungskraft der Flamme aus ihrer sexuellen Symbolik zu erklären versucht. Die älteste Methode, Feuer zu machen, das Aneinanderreiben zweier Hölzer, erzeugt Hitze, die sich steigernd schliesslich lichterloher, jegliche Trennung auflösender Brand wird. Die Sprache weiss um diesen Zusammenhang, denn nirgends wird die Metaphorik des Feuers so vielfältig und oft verwendet wie in der Beschreibung der Geschlechtsliebe. Zwei Menschen "fangen Feuer", "glühen füreinander"', sind ganz "Feuer und Flamme", "gehen füreinander durchs Feuer" "verzehren sich" und sind "erfüllt von Glanz", der nicht nur ihre Gemüter und Gesichter erhellt, sondern auch auf ihre Umgebung ausstrahlt.

Hier wird das Feuer zum leuchtenden Symbol der Vereinigung, die Leben zeugt, austrägt und gebiert. Die immer aufs neue entzündete Leidenschaft kennt nicht nur die Wonne des Verschmelzens, sondern auch die Wärme der gegenseitigen Geborgenheit, nicht nur das grelle Licht der Ekstase, sondern auch die ruhige Glut sanfter Zärtlichkeit

Dass aus dem Feuer der Passion, in dem ein Paar verschmilzt, der Schöpfungsakt werden kann, der neues Leben hervorbringt, öffnet den Blick für eine andere Perspektive in der Betrachtung. die uns hier beschäftigt Die Alchemisten haben sehr wohl begriffen, wie äussere und innere Welt einander entsprechen. Chemische Mutationen, die ihre Laborflammen herbeiführen sollten, waren nur die sichtbaren Manifestationen zugleich angestrebter seelischer Erhitzung und Wandlung. So ist Liebe, wenn sie vom oberflächlichen "frottement" zur tiefergreifenden seelischen Berührung fortschreitet, ein Prozess nicht mehr rückgängig zu machender Veränderung: aus der Berührung zweier Gegenwärtiger entsteht ein Zukünftiges im Geistigen, im Körperlichen, in beiden zugleich.

Nicht Zerstörer müssen die Erben des Prometheus sein, sie können durch die Flammenkraft der Liebe die Flammenkraft der industriellen Energie zähmen. Erst dann besässen sie das Feuer wirklich. Erst dann würden aus ehrgeizigen Kreaturen verantwortungsvolle Kreaturen.

Wer aber Schöpfer wird, muss höhere Verantwortung für seine Schöpfung tragen. Was aus Trieb, Instinkt und Phantasie entflammte, will abgekühlt und verfestigt, von gottgleichem Wissen erhalten und geleitet werden. In der jüdischen Mystik wird ausser dem Gott der Bibel ein noch höherer grenzenloser, unfassbarer Gott vermutet: En-Soph. Ihn in Worten zu beschreiben gilt als unmöglich. Nur indirekt gibt er sich zu erkennen. Seine Heiligkeit und Grösse ist an keinerlei Form gebunden. Sie gibt sich jedoch als "göttliches Feuer" kund, das nur Engel, Propheten und Mystiker in Augenblicken der Erleuchtung wahrnehmen können. Die Erscheinung wird "Kavod" genannt und kann sich auch als mahnende innere Stimme offenbaren. Dieser strahlende Gott, der sich schon in der Bibel als brennender Dornbusch, als wandernde Feuersäule manifestiert, wird als Quelle jener Gebote gesehen, deren Licht die Sterblichen durch die Dunkelheit ihres Schicksals leitet. Wie die Spitzen der Flammen so hell werden, dass sie schliesslich unsichtbar sind, löst sich die fassbare Erscheinung eines höheren Wesens in einer umfassenderen Spiritualität auf. Sie ist für Religiöse spürbar, alles Leben ist stets von ihr umhüllt und durchdrungen. Aufklärung, Säkularisierung und ihre Wirkungen auf die etablierten Konfessionen haben solche Vorstellungen lange verdrängt. Die unsteten "Feuer des Glaubens" verloren an Leuchtkraft, wurden verdrängt durch die kalten Scheinwerferkegel begrenzter aber wissenschaftlich fundierter Erkenntnisse.

Doch der bereits angedeutete Missbrauch der durch sie gewonnenen Macht hat in unseren Tagen zum Nachdenken und Umdenken geführt. Am inneren wie am äusseren Horizont taucht nun ein Leitstern auf, der zwar stets vorhanden war, aber durch seine Regelmässigkeit und Zuverlässigkeit zur gewohnten Erscheinung geworden, kaum tiefere Faszination ausstrahlte: die Sonne.

Ihre Wiederentdeckung nicht nur als unerschöpfliche, unersetzbare Energiequelle, sondern als Symbol einer neuen Epoche wird, so hoffen viele, die Jahrtausendwende prägen.

In ihrem einflussreichen Buch "The Politics of the Solar Age" ("Die Politik des Sonnenzeitalters") versucht die in Florida lebende Volkswirtschaftlerin Hazel Henderson das kosmische Feuer an unserem Himmelszelt als Symbol einer heraufkommenden Zeitwende zu interpretieren. Für sie ist die Sonne nicht nur ein neues Zugpferd, das den festgefahrenen Karren der Energiewirtschaft aus dem Dreck ziehen soll, sondern die gemeinsame Bezugsgrösse für eine Fülle notwendiger Weltanschaulicher Veränderungen. Im Zeichen des "Menschensterns" solle eine andere, dem Leben der Menschen, der Tiere, der Pflanzen sowie der unbeschädigten Weiterexistenz von Luft, Wasser und Erde zuträglichere Zivilisation entstehen.

Diese Ankündigung der Wiederkehr einer einst von fast allen Kulturen als göttlich verehrten Naturerscheinung zu gesellschaftlicher Bedeutung entspricht dem Zeitgeist des zu Ende gehenden zwanzigsten Jahrhunderts. Im Dunkel der Hoffnungslosigkeit strahlt jeder Funke überhell. Wie sehr erst dieser gewaltige Feuerball, ohne dessen Existenz die Erde und ihre Bewohner schnell zum Tode verurteilt wären.

Der englische Astrophysiker und Romanautor Fred Hoyle hat in seiner Erzählung "Die schwarze Wolke" gezeigt, dass schon eine auf drei Tage ausgedehnte Sonnenfinsternis die Menschheit und ihre Lebenssphäre schweren, kaum wiedergutzumachenden Schäden aussetzen würde. Was geschähe aber, wenn die Sonne auf längere Zeit, vielleicht sogar für immer erloschen bliebe?

Der Wissenschaftsjournalist Joachim W. Ekrutt hat diese Hypothese vom Verschwinden des "kosmischen Feuers" auf beklemmende Weise entwickelt: "Die Menschen sind zunächst ungläubig. Besorgt blicken sie immer wieder zum Himmel, um wenigstens einen Schein von Helligkeit zu entdecken - vergebens. In allen Ballungsgebieten menschlicher Ansiedlungen kommt es zu Verkehrschaos. Als die Dunkelheit andauert und die Wissenschaftler erklären, dass auch sie vor einem Rätsel stehen, bricht auf der Welt Panik aus. Die Temperaturen fallen rapide. Deshalb klettert der Stromverbrauch schnell über die Leistungsgrenze der Elektrizitätsnetze. Sie fallen aus - und mit ihnen die Nachrichtenverbindungen in aller Welt."

"Kein Mensch erfährt mehr durch die Mittel der modernen Kommunikation, was nun wirklich geschieht. Jeder verkriecht sich, wenn er nur kann. Überall wird es totenstill." "Weil keine Wärme mehr auf die Erde strömt, kondensiert der Wasserdampf der Lufthülle und schlägt sich nieder, am ersten Tag als Regen, am zweiten wahrscheinlich schon als Schnee. In den Tropen kommt es wie Sturzfluten vom Himmel, in den Wüsten fallen wenigstens einige Tropfen - global sind es mehrere Zentimeter Niederschlag. Spätestens am dritten Tag ist die gesamte Erdoberfläche von einer dünnen Eisschicht überzogen." "Menschen und Tiere sterben an Erfrierungen, mit jedem Tag mehr. Bereits am Ende der zweiten Woche nachdem die Sonne verschwand, ist alles höhere Leben erloschen..."

Die erst viele Monate nach der Niederschrift dieser Vision veröffentlichten Szenarien westlicher Wissenschaftler über den "nuklearen Winter" haben solche Entwicklungen als realistische Prognosen geschildert. Sollten als Folge von Atombombardements aus Asche und Trümmern entstandene Wolken möglicherweise wochenlang den Tag in Nacht verwandeln, so wären die dann noch Überlebenden dem Kälte- und Hungertod ausgesetzt.

Dies wäre dann paradoxerweise die Folge der durch brillante wissenschaftliche und technische Leistungen möglich gewordenen Nachahmung himmlischer Naturvorgänge in irdischen Waffenlaboratorien. Der Traum, die "Sonne vom Himmel zu holen", kann zum Alptraum nie wieder gutzumachender Vernichtung werden. Es ist eine ganz andere Art der Heimholung, die der wachsenden Zahl der ein "Sonnenzeitalter" Herbeisehnenden vorschwebt. Ich habe versucht, in vielen Ländern und mehreren Erdteilen diese den gegenwärtigen Zuständen vorauseilenden kennenzulernen. Dabei bin ich mitten in Westeuropa auf Gemeinden einer neuen Sonnenreligion gestossen, habe auf internationalen Konferenzen die alle Differenzen zwischen West und Ost, Nord und Süd überwindenden Pioniere der Solartechnik getroffen, erfuhr, dass Bastler und Philosophen, Nationalökonomen und Künstler, Architekten und Biologen, Bauern und Städter, Physiker und Historiker, Techniker und Soziologen alle auf ihre Weise, oft ohne voneinander zu wissen, am Heraufkommen einer solaren Zivilisation arbeiten.

Sogar am Rande von Los Alamos in Neu-Mexico, dem Geburtsort der Atombomben arbeiten Forscher, Architekten und Ingenieure - "solar freaks"' ("Sonnen-Narren"), wie sie sich nennen - an Modellen für Häuser, die allein durch die Wärme des unversieglichen himmlischen "Herdes" geheizt werden können. Sie legen "Sonnenteiche" an, die natürlich gewonnene Wärme speichern, und vor allem - auch das gehört zu ihrer Arbeit- sie denken, entwerfen, diskutieren bewusst in eine ganz andere Richtung als ihre Nachbarn in den Waffenlaboratorien.

Die Erkenntnis, dass im nächsten Jahrtausend die Quellen, in denen Sonnenfeuer gespeichert ist, die Kohlenlager, die Erdölvorräte, die Wälder und auch das erste spät als Kraftquell entdeckte Uran nicht mehr ausreichen werden, um die Energieversorgung der Ururenkel des Prometheus zu gewährleisten, spielt gewiss eine Rolle in ihren Überlegungen. Doch mindestens so sehr bewegt sie die Frage, ob der private oder nationale Besitz solcher Ressourcen noch erlaubt sein dürfte. "Die Sonne gehört allen. Niemand, kein einzelner und keine Gruppe, kann sie für sich in Beschlag nehmen. Daher wird es auch keine Kriege um ihren Besitz geben. Im Gegenteil: Wir wollen geschart um dieses grosse Licht lernen, einander zu helfen."

Das sind Sätze wie man sie jetzt schon an dem Ort hören kann, von dem aus die grosse Furcht in die Welt getragen wurde: im neugegründeten "Solar Energy Laboratory," von Los Alamos. Und das sind nicht nur Worte, sondern tägliche Praxis, die durch den Kontrast zum nahen "Weapons Lab" besonders auffällt. Dort: strengste Geheimhaltung. Hier (nur ein paar hundert Meter entfernt): kein Zaun, keine Kontrolle, keine Zensur, kein Geheimnis, internationale Zusammenarbeit - auch mit Kollegen in kommunistischen Staaten - ist selbstverständlich. So ist Professor Balcomb, der Leiter der Sonnen-Versuchsstätte, monatelang in China herumgereist, hat dort gelehrt, hat dort gelernt, und es gibt regen Erfahrungsaustausch mit Interessierten - Fachleuten wie Bürgern - in zahlreichen Ländern der Erde. Man berät sich, man stützt einander, man regt sich gegenseitig an und entwickelt Neues, ein menschlicher Energiekreis, gespeist von Freundschaft in einer Zeit des eiskalten Klimas zwischen den Völkern. Das Feuer der Erkenntnis paart sich endlich mit dem Feuer der Liebe.

Jagdish Kapur, den ich auf einer Solarkonferenz in England zum ersten Male traf, ist ein sehr erfolgreicher indischer Unternehmer. Seine Sonnenfarmen unweit von New-Delhi sind ein Modell für die Länder der Dritten Welt geworden, die durch Nutzung des "Himmelsfeuers" der Armut und der Abhängigkeit von den Grossunternehmen der Industrieländer entrinnen könnten.

Aber Kapurs Hauptinteresse gilt dem Studium der alten Sonnenreligionen, deren Kultstätten in Irak, Ägypten, Persien, Japan, Mexiko, Guatemala, Peru, Griechenland, Italien, Grossbritannien, Irland, Frankreich und Deutschland er besucht hat. Besondere Aufmerksamkeit widmet er den asiatischen Feueranbetern, weil sie die innere Flamme, das Licht des Göttlichen im Menschen, mit der Verehrung der physisch sichtbaren und fühlbaren Glut verbinden. Kapur ist überzeugt, dass Surya, der Sonnengott der Inder, der als Zentrum des Universums, als ständig, ewig wirkender Schöpfer und Erhalter alles Lebens Tag um Tag von allen Bewohnem des Planeten wahrgenommen wird, unter den verschiedensten Namen und Vorstellungen Träger einer neuen zukunftsweisenden Hoffnung sein könnte.

Der verwirrenden Fülle aufkommender und wieder vergehender philosophischer und religiöser Leitbilder hält er die seit Menschengedenken dauernde Präsenz des Himmelslichts entgegen. Stets begleitet ihn ein Zitat aus einer der heiligen Schriften Indiens: "Von allem, was ist, allem, was war und sein wird, was sich bewegt oder still bleibt, ist die Sonne Anfang und Ende." Und er zitiert mitten im Wirbel eines typisch westlichen Konferenzcocktails, bei dem Menschen aller Nationen durcheinanderreden, mit ruhiger Stimme einen Satz aus den Upanischaden: "Die Sonne ist die sichtbar gewordene Gottheit, das Auge der Welt, der Schöpfer des Tages, die Quelle der Zeit, Herr der Winde und des Feuers und aller anderen Götter, die nur Teile von ihm sind."

Der amerikanische Kulturphilosoph Lewis Mumford freilich sieht auch die Kehrseite dieser Herrlichkeit: "Aus der fruchtbaren vielköpfigen Götterfamilie ... war der Sonnengott in Ägypten der vorherrschende geworden, und eine neue Autorität des Königtums stützte sich nicht allein auf brutale Gewalt, sondern auf den Anspruch, die ewige Macht und Ordnung des Kosmos zu vertreten."

Mit der kopernikanischen Wende, so meint er, sei die Sonne zum "Symbol zentralisierter Macht" und "zum vollendeten Vorbild für alle menschlichen Institutionen" geworden. "Im Sinne der neuen Gottheit müssen alle komplexen Phänomene auf das Messbare, das Wiederholbare, das Vorhersagbare, das letztlich Kontrollierbare reduziert werden."

Mumford, der Anti-Prometheus unserer Tage, wirft eine entscheidende Frage auf: "Welches Naturgesetz verlangt die zunehmende Verwendung von Energie als ein Gesetz organischer Existenz? Die Antwort lautet: Kein solches Gesetz existiert. In den komplizierten Interaktionen, die das Leben auf der Erde möglich machen, ist Energie in allen ihren Formen natürlich ein unentbehrlicher Bestandteil, aber nicht der einzige Faktor ... Zu viel Energie schadet dem Leben genauso wie zu wenig." Blendung und Erleuchtung wohnen dicht beieinander. Die Flammen vermögen zu wärmen wie zu schmerzen. Von allen Elementen ist Feuer das widersprüchlichste, das gefährlichste, das lockendste und abstossendste. Aus ihm entsprangen die Erde und die Planeten und in ihm werden sie schhesslich vergehen. In Zeiten des Chaos und der vermeintlichen Aussichtslosigkeit wird ein solches Ende oft heimlich herbeigesehnt. In einer gewaltigen reinigenden Flamme, so meint man, werde die Welt der Sünder und Verbrecher verbrennen, verflucht von einem enttäuschten Gott, der seiner Schöpfung und ihren Geschöpfen nicht mehr beistehen kann.

Diesem Mythos des Untergangs stelle ich das Bild jenes jungen Indianers gegenüber, das über meinem Schreibtisch hängt. Es ist ein simpler Holzschnitt, der zeigt, wie ein von seinem durch das plötzliche Ausbleiben des Himmelslichts zutiefst erschrockenen Stamm entsandter Bote aus alten Trümmern und neuen Bestandteilen eine andere Sonne zusammensetzt.

Ein solches beispielhaftes Handeln entspricht dem Wesen des lebendigen Organismus, der wie Ludwig von Bartalanffy es formuliert hat, "eher einer Flamme ähnlich (ist) ... als einer Maschine mit festen Strukturen." Es sei, so meint er, eine grundlegende Eigenschaft aller lebenden Systeme, dass sie sich im ständigen Wechsel ihrer Komponenten erhalten. Zellen sterben ab und werden wieder durch neue ersetzt. Vergehen und Entstehen charakterisiere alle offenen Systeme. "Eine Flamme z.B. ist ein einfaches Beispiel eines physikalischen Systems, das 'offen' ist", schreibt der Begründer der Systemforschung. "Daher der alte Vergleich zwischen Feuer und Leben." Das Leben zu bewahren, die offene Flamme zu hüten, das heisst unter aufmerksamer ständiger Kontrolle zu halten, dies ist die heilige Pflicht und das eigenste Interesse aller verantwortungsbewussten Menschen. Ihr seien auch diese Zeilen gewidmet.




<-Das Feuer
von James Krüss

Hörst du, wie die Flammen flüstern,
knicken, knacken, krachen, knistern,
wie das Feuer rauscht und saust,
brodelt, brutzelt, brennt und braust?

Siehst du, wie die Flammen lecken,
züngeln und die Zunge blecken,
wie das Feuer tanzt und zuckt,
trockne Hölzer schlingt und schluckt?

Riechst du, wie die Flammen rauchen,
brenzlig, brutzlig, brandig schmauchen,
wie das Feuer rot und schwarz, duftet,
schmeckt nach Pech und Harz?

Fühlst du, wie die Flammen schwärmen,
Glut aushauchen, wohlig wärmen,
wie das Feuer, flackrig-wild,
dich in warme Wellen hüllt?

Hörst du, wie es leiser knackt?
Siehst du, wie es matter flackt?
Riechst du, wie der Rauch verzieht?
Fühlst du, wie die Wärme flieht?

Kleiner wird der Feuersbraus:
Ein kleines Knistern,
ein feines Flüstern,
ein schwaches Züngeln,
ein dünnes Ringeln -
aus.




<-Quellenangaben



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