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Hildegard Bußmann - Michael Soostmeyer

Die Tragweite des pädagogischen und didaktischen Ansatzes bei Martin Wagenschein

Versuch einer Würdigung


Martin Wagenschein, geb. am 3. Dezember 1896, zum einhundertsten Geburtstag zugedacht.

Er ist zu Ostern 1988 nach langem und schwerem Leiden im Alter von 91 Jahren gestorben. Seine Frau Wera Wagenschein folgte ihrem Gatten am 23. Juli 1988.


Zu den Autoren

Hildegard Bußmann, Dr. phil., Jahrgang 1940, Studium der Kunstgeschichte, Germanistik und Philosophie, Promotion 1969 an der Freien Universität Berlin in Kunstgeschichte, Tätigkeiten im Kunsthandel und Verlagswesen. 1971/72 Kontaktstudium in Bildungsforschung und Bildungsökonomie an der Technischen Universität bei Prof. Edding. Mitarbeit an einem Forschungsprojekt des BMBW über "Integration von beruflicher und allgemeiner Bildung im europäischen Vergleich" in Berlin (1973-1975). Ab 1975 freie Journalistin mit Schwerpunkt Bildungspolitik / Pädagogik / Familienpolitik für Hörfunk und Printmedien. Seit 1988 Redakteurin beim Süddeutschen Rundfunk, seit 1990 Chefredakteurin Kultur im Hörfunk des Süddeutschen Rundfunks, Stuttgart. Mitautorin bei "Integration beruflicher und allgemeiner Bildung" 1975 und "Unser Kind geht auf die Waldorfschule", Rowohlt 1989.

Michael Soostmeyer, Dipl. päd., Dr. päd., Prof. Jahrgang 1943; Lehre als Maschinenschlosser; Tätigkeit als Technischer Zeichner und Detailkonstrukteur; Mittlere Reife und Hochschulreife auf dem zweiten Bildungsweg; Studium für das Lehramt an der Grund- und Hauptschule, der Physik, der Mathematik, der Philosophie und der Erziehungswissenschaften. Erste Staatsprüfung 1971, Diplomexamen 1973, Promotion zum Doktor der Erziehungswissenschaften 1977, Habilitation 1982 an der Universität Essen, Forschungsschwerpunkte: Didaktik des Sachunterrichts, Genetischer Unterricht, Kommunikations- und Informationsmedien, Lehrplantheorie und -praxis. Neben vielen Aufsätzen Buchveröffentlichungen: "Problemorientiertes Lernen im Sachunterricht" UTB 837 und "Zur Sache Sachunterricht", Studien zur Pädagogik der Schule, Bd. 14, Frankfurt a. M., Bern, New York, Paris, 1988, 1992, überarb. Aufl. 1997.


Unterrichtsbeispiel: Öl im und auf dem Wasser

Als ich (M. S.) einen Tropfen Öl in ein Glas einträufele, das mit Wasser gefüllt ist, sagt der neunjährige Andreas: "Das Öl drückt sich vom Wasser ab.", nachdem der Öltropfen nach dem Eintauchen an dessen Oberfläche gelangt ist. Julian, gleichen Alters, will den Sachverhalt genauer fassen: "Das drückt sich nicht ab, das vermischt sich nicht mit der Substanz. Das ist auch wie eine Haut." Das Entstehen der Ölhaut wird von Sarah, ebenfalls neun Jahre alt, wie folgt beschrieben: "Die Öltropfen fallen ins Wasser 'rein, sie kommen nach oben, zerplatzen, werden größer und dann rund."
Kristina ergänzt: "Und unten setzen sich so kleine Ringe ab." Dietmar beschreibt seine Beobachtungen ergänzend: "Und manchmal stoßen die Ölflecken aneinander, schlagen zusammen und dann werden die immer größer." Monika führt kleinere Ölflecken aneinander und beobachtet, wie sie jeweils zu größeren "zusammenschlagen". Sie merkt an: "Öl verbindet sich nur mit Öl, beides ist ja gleich und hat dasselbe Häutchen."
Weiterhin merken die Kinder an, dass sich das Öl nur an der Wasseroberfläche sammelt. Diese Phänomene vergleichen sie spontan mit einem Ölteppich, der bei Ölkatastrophen auf der Meeresoberfläche entsteht. Sie unternehmen den Versuch, das Öl mit einem Gefäß abzuschöpfen, mit dem Ziel, eine Methode zu erfinden, die beim Abschöpfen des Öls von der Wasseroberfläche tauglich ist.

Wenden wir uns nun der Interpretation der Kinderäußerungen zu: Die animistische Ausdrucksweise von Andreas schreibt dem Öl die Fähigkeit zu, sich irgendwo von abdrücken zu können. Eine Fähigkeit, die eigentlich nur belebten Wesen zukommt. Julian erklärt allgemeiner und abstrakter, ohne voluntaristische, animistische oder anthropomorphe Vorstellungsbilder zu benutzen. Die Verwendung des Wortes "Substanz" macht deutlich, dass es sich nach der Ansicht des Kindes um einen flüssigen Stoff in einem ganz allgemeinem Sinne handelt. Für Julian muss offensichtlich noch geprüft werden, ob dieser Stoff überhaupt Wasser ist. Voreilige Schlussfolgerungen will er nicht ziehen. Er sucht so eine Möglichkeit, die Frage zu beantworten, mit welchen anderen Flüssigkeiten sich Öl auch nicht vermischt. Da er treffende Ausdrücke benutzt, ist ihm der Vorgang des Vermischens beider Substanzen einsichtig geworden. Wäre dies nicht der Fall, beschriebe er das Abgrenzen der Flüssigkeiten gegeneinander eher durch das naheliegende "Abdrücken".

Die Analogie zur "Bildung einer Haut" an der Substanzoberfläche lässt darauf schließen, dass Julian diesen Vorgang verinnerlicht hat und so stets darauf zurückgreifen kann, um andere Phänomene durch die Verknüpfung mit diesem Bekannten und Durchdachten zu verstehen.

Melanie beschreibt den Vorgang der Lachenbildung auf der Wasseroberfläche wie folgt:

"Wenn ein Öltropfen ins Wasser kommt und da drin ist, hat er eine kugelige Form. Auf der Oberfläche des Wassers ist er nur noch als runder Ölfleck zu sehen, er wird ganz flach und dünn."

Sie beschreibt, dass sich die Kugelform des Öltropfens zu einem immer größer werdenden Ölfleck zu einer Fläche - auflöst. Weiterhin bemerken die Kinder, dass Ölflecken zusammenstoßen und sich zu einem größeren vereinen. Sie sehen es als selbstverständlich an, dass sich Gleiches mit Gleichem vermischt. Diese Idee des Kindes erinnert an die Vorstellungen von Empedokles aus Akragras (490-430 v. Chr.), der die Vier-Elemente-Theorie des griechischen Altertums begründete. Jan stellt fest: "Hier machen die Häutchen mit, sie sind ja gleich."

Deutlich wird das Bestreben der Kinder, die Elemente ihres Wissens aufeinander zu beziehen und in einen sinnvollen Verstehenszusammenhang einzubergen. Julia stellt fest, dass das Öl immer oben auf dem Wasser schwimmt und wird darin von einigen Kindern bekräftigt. Frank stellt fest, dass auf einer Suppe das Öl (gemeint ist das flüssige Fett) immer oben schwimme.

"Aber" - Pause - "das ist nicht immer so.", stellt Bianca heraus. Verwunderung zwischen den Kindern. "Darf ich einmal ein wenig Öl haben und einen kleinen Teller?", fragt sie und reibt eine Untertasse mit Öl ein. Es entsteht ein dünner Ölfilm. Auf ihn träufelt sie ein wenig Wasser und verweist auf die unbestreitbare Tatsache, dass die Wassertropfen, die sich auf dem Öl gebildet haben, nun "oben" bleiben und nicht unter das Öl "kriechen".

Kornelia, die die ganze Zeit schweigt, fragt, ob sie ein Spülmittel in das Glas gießen darf. Auf die Frage, warum sie das wolle, antwortet sie:
"Beim Spülen klappt das, Spüli macht Öl und Wasser gleich." Im Anschluss an die Frage: 'Meinst du, dass das Wasser zu Öl geworden ist oder das Öl zu Wasser?', entsteht eine kleine Pause: "Nein, ich meine das so, ich meine, die Häutchen von Öl und dem Wasser, die werden gleich, so dass sie sich nun vertragen."

Der Versuch wird durchgeführt, den Kindern ist die Beziehung zwischen dem Öl, dem Wasser und der Seifenlösung klar. Nachdem sie die von Bianca mit dem Öl behandelte Untertasse in der entstandenen Lauge gespült haben, sprechen sie das Spülen von verschmutztem Geschirr, das Waschen ölverschmierter Wäsche an. Sie reiben sich das Öl auf die Hände, verweisen auf das von Bianca produzierte Phänomen des "Schwimmens von Wasser auf einem Ölfilm" auch auf der eigenen Haut, welche der "Gleichmacherei" des Spülmittels widersteht.

Es sei hier auf eine Analogie aus der Geschichte der Chemie verwiesen:
Für Newton stellte ein Lösungsmittel, das zwischen zwei Körpern eine Reaktion ermöglicht, einen "Vermittler", eine "middle nature" dar. Die "ungeselligen" Partikeln werden durch die Vermittlung eines Dritten, der "middle nature", "gesellig" gemacht, wie Isabelle Stengers im Zuge einer Textanalyse darstellt. [1] Die heutige Chemie kennt den Begriff des Lösungsvermittlers bei bestimmten Lösungsvorgängen.

Weitere Kinderäußerungen verweisen auf fettverschmierte Hände, auf Salben und Cremes. Lisa verweist auf die Tatsache, dass Gelee, wenn man ihn auf ein mit Butter bestrichenes Brot zu verteilen sucht, sich immer wieder zusammenzieht, so wie das Wasser auf der Untertasse, die mit Öl bestrichen wurde. Bianca stellte fest: "Gelee ist ja beinahe so wie Wasser, nur nicht ganz so flüssig, aber fester als Öl."

Die Kinder werden nicht satt, gleichartige und verwandte Phänomene zu diskutieren. Es wird beinahe die ganze Lebenswirklichkeit der Kinder in bezug auf die geleeartigen, viskösen und pastösen Stoffe oder der Flüssigkeiten, die einen "Gedächtniseffekt" zeigen, zur Sprache gebracht.

Frank: "Himbeersirup fließt ganz anders, da muss man, wenn man aufhören will, die Flasche so rumdrehen", das Kind macht die Drehbewegung vor, "sonst hört der nicht auf herauszukommen." Angela: "Der Honig macht das auch, der ,schwuppt' wieder zurück, wenn der Tropfen ,runterfällt'." Jörg stellt fest: "Tapetenkleister, der fließt ganz doof, den musst du sogar abschneiden, der reißt sonst alles mit." - "Und Uhu macht das auch." stellt Stefan fest. Heike bemerkt: "Kaltes Öl, das fließt so ganz schwer, das will gar nicht aus der Flasche raus. Das hab ich im Winter gesehen. Im Sommer, wenn das Öl wärmer ist, dann fließt es schon besser aber noch nicht so gut wie Wasser. Heißes Öl in der Pfanne ist ganz spritzig, das will nur so weg, da musst du aufpassen. Wenn das Öl wärmer wird, dann wird das immer flüssiger; das bleibt nicht gleich, wenn das immer heißer wird, das kann sogar qualmen!" Nach einer Pause, die anderen Kinder haben bislang aufmerksam mitvollzogen, was Heike sagt, stellt Maria fest: "Palmin, das ist ja sogar hart, wenn man's anfasst. Das macht dann genau dasselbe wie das Öl, so wie die Heike gesagt hat." Damit eröffnen diese beiden Kinder einen neuen Abschnitt in der Diskussion, die sich dem Zusammenhang zwischen Verhalten von Substanzen in Relation zur Temperatur widmet.

Ich nenne im Folgenden lediglich einige Stoffe, die die Kinder in der soeben dargestellten Weise besprachen: Wackelpudding, Speichel, Grießbrei, Gele, Gelees, Reinigungsmittel, Mineralöle, Margarine, Butter, Fette, Farben und pastöse Stoffe wie Salben und Cremes.

Ein wenig später versuchen sie, ihre Hände einmal lediglich mit Leitungswasser und einmal mit der Spüllauge zu reinigen. "Mit dem Spüli klappt das, [...] das Öl macht dann mit [...], [...] Seife [...] geht natürlich auch [...]." so lauten die Kinderkommentare.

Der Vergleich der Ölflecken auf dem Wasser mit dem Ölteppich bei Katastrophen führte die Kinder zu eigenen Hypothesen. Sie versuchen, wie sie das Wasser vom Öl befreien können. Dabei greifen sie auf weitere Schüsseln und eine Pipette zurück, die in Griffnähe sind. Nun schöpfen sie das Öl mit Hilfe einer zweiten Schüssel ab und saugen es mit Hilfe einer Pipette auf. Immer wieder versuchen sie, das Öl herauszubekommen und werden nicht müde, es weiter zu tun, in der Hoffnung, es irgendwann vollständig vom Wasser zu trennen. Bekanntlich bleiben bei solchen Versuchen immer leidige Reste.

Entscheidend bleibt: Die Kinder hatten, durch Zweck-Mittel-Überlegungen angeregt, Funktionstests durchgeführt. Sie konnten somit ihre eigenen Meinungen und Hypothesen auswerten. Diese zielbewusste Handlung kann nicht mehr als Versuch-Irrtum-Lösungen gekennzeichnet werden.


Unterrichtsbeispiel: Lichtbrechung und andere Phänomene

Als ich (M. S.) in ein Einweckglas, das zu etwa dreiviertel mit Wasser gefüllt war, ein Messer stecke, machen die Kinder Beobachtungen, die sie erstaunten:

"Das Messer wird größer." - "Das Messer wird krumm." - "Das Messer hat jetzt einen Knick." Maximilian stellt fest: "Der Knick läuft am Messer lang, wenn man das Messer langsam reintaucht". - "Man meint, das Messer wird Stückchen für Stückchen geknickt und dann gerade gezogen über Wasser und unter Wasser. Aber das gibt ja keine Figur wie eine Banane.'

Als nun ein Lineal ins Wasser gesenkt werden sollte, erwartete ein Mädchen, Julia:

"Das Lineal verschwindet fast. Jetzt ist es kleiner, es wird dünner." - "Nein kürzer!", wirft Anja ein. Auf Nachfrage teilte Julia mit, dass es bei verschiedenen Gegenständen auch unterschiedliche Phänomene erwarte: Die Ursache für das Größer- oder Kleinerwerden, für das Verschwinden, für die Krümmung oder für den Knick liegt also an den Eigenschaften der Gegenstände und nicht an der Krümmung des Glasgefäßes oder am Wasser. Anja meint: "Ich meine, das alles wird kürzer am Lineal."

Ich gestehe, dass ich Anja zuerst nicht verstanden habe und dass mir ihre Aussage diffus vorkam. Unter der Nummer 77 seiner Sammlung: Kinder auf dem Wege zur Physik: "Der Maßstab macht mit", gibt Wagenschein die Erinnerung seiner Frau Wera wieder. Dort heißt es: "Als ein Kind von etwa vier Jahren schräg in das Halblitermaß blickend, das, wie sie wusste, innen schwarze Striche trug, die in gleichen Abständen bis zum Rand aufstiegen; das aber nun mit Wasser halb gefüllt war, so dass die obersten drei Striche noch im Trockenen saßen, die unteren alle unter Wasser getaucht, sah es: dass die eingetauchten Striche enger aneinanderliegen als die oben in der Luft. Sie erklärte sich das damals so: Die da unten, die sitzen alle gedrückt und bedrückt im Wasser. Was sich aber oben herausgeschafft hat, das atmet auf. Wenn man aufatmet wird man größer." [2]

Ich konnte bei Anja allerdings die animistische Deutung auch bei Nachfrage nicht erfahren. Anja war zu diesem Zeitpunkt bereits neun Jahre alt.

Die Brechung ist also keineswegs ein Phänomen, das die Kinder ausschließlich an die Wechselwirkung der Gegenstände mit dem Wasser koppeln. Das Phänomen wird den Gegenständen zugeordnet, die in das Wasser gehalten werden. Die Zentimetereinteilung eines Lineals staucht sich; sie wird dadurch "Gegenstand" der produktiven kindlichen Sachauseinandersetzung.

Die anderen Kinder jedoch widersprechen heftig. Sie tauchen unterschiedliche Gegenstände teils gleichzeitig in das Wasser und stellen fest: "Es wird größer und jetzt ganz schief." - "Jetzt geht es links rum, weil die Kurve in dem Glas auch links rum geht." Es wird also die Krümmung des Glases als Erklärung erneut aufgegriffen. Da die Kinder nicht von oben auf das Wasser schauten, sondern seitlich durch das Glas, sah es in der Tat so aus, als ob das Lineal der Krümmung des Glases folge. Ein kurzer Disput über die Drehrichtung - links oder rechts herum wurde schnell entschieden: "So wie man's gerade sieht." Dieses Problem scheint jetzt nicht wichtig.

Die Kinder wechselten ihre Perspektiven auf das Phänomen sie blickten nun von oben auf die Versuchsanordnung und wiesen nun auf die Grenzfläche zwischen Wasser und Luft. Sebastian merkt an: "Der Knick geht nach oben." Nadine sagt: "Das Messer ist nach oben gebogen, an der Luft knickt's anders." Zum Nachweis zieht sie ihre Hand am Handgelenk extrem nach oben in die Richtung des Unterarmes und legt den anderen Zeigefinger in Höhe des Handknöchels, an dem der "Knick" der Hand in Relation zum Unterarm ist.

Diese zauberhaften Aussagen und gestischen Hinweise der Kinder können gar nicht hoch genug veranschlagt werden. Martin Wagenschein hat in mehreren Aufsätzen und Vorträgen auf diese Phänomene verwiesen. In dieser Arbeit sind ebenfalls einige wunderschöne Beispiele für kindliches Denkhandeln, die das Ringen um eine individuelle Sinnkonstruktion, mit der sich das Kind in eine als richtig empfundene Beziehung setzt, ebenso widerspiegeln, wie der Gewinn intersubjektiver Sinnkonstruktionen im gemeinsamen Diskurs um die Sache.

Zum Verständnis der Leserschaft, die sich als physikalisch nicht beschlagen weiß: Sie sollten an dieser Stelle den Versuch einmal selbst durchführen, wie auch den nachfolgenden, wo bewusst ein Glasgefäß genommen wird, das nicht gerundet ist und daher die Vergrößerungswirkung nicht aufweist!

Frederick hatte die ganze Zeit verschiedene Blickrichtungen ausprobiert und währenddessen überlegt. Die Erkenntnis bricht dann aus ihm heraus: "Es liegt an dem Wasser." Kirsten stellt fest: "Der Knick ist nur dann zu sehen, wenn das Lineal schräg ins Wasser gesteckt wird."

Mehmed äußert sich dann wie folgt: "Es liegt wahrscheinlich an der Wasseroberfläche, dass sich das Messer spiegelt. Man sagt dazu ja auch Wasserspiegelfläche oder so. Das Messer spiegelt sich, wenn man es schräg hereinführt. Das ist so 'was' wie eine optische Täuschung."

Wagenschein sagt dazu: "Das physikalische Kausaldenken ist erreicht, wenn man bei einer Erscheinung sieht, 'wo sie herkommt' oder 'womit sie regelmäßig zusammenhängt', wenn also die Isolierung der beiden ,Variablen', der Blick für das physikalisch Wesentliche, das, ,worauf es ankommt', das, 'womit es zu tun hat', erreicht ist [...]." [3]

Der Junge hat erkannt, dass der Knick durch die Brechung des Lichts entstanden ist. Er sagt zwar noch nicht Brechung, sondern Spiegelung, aber er meint das "Umgeleitetwerden" der Lichtstrahlen, so dass man einen Knick sieht, der gar nicht vorhanden ist - also eine optische Täuschung. Ihm ist noch nicht bewusst, dass es sich um Lichtstrahlen handelt, wie man in seiner weiteren Erklärung sehen kann: "Das Messer spiegelt sich an der Wasseroberfläche, spiegelt wieder zurück, und darum sieht das so aus." Dennoch konnte er die Bedingungen, unter denen das Phänomen zu sehen ist: das schräge Einführen des Gegenstandes und eine Ursache, benennen: Die Brechung der Lichtstrahlen an der Wasseroberfläche. Dieser Gedanke war seine, wenngleich im kommunikativen Kontext gewonnene, individuelle Sinnkonstruktion. Seine kommunikativen Fähigkeiten und der Sachbezug waren so stark ausgebildet, dass er den anderen Kindern seine Meinung verständlich zu erklären vermochte. [4]

Piaget fasst die soziale Dimension solch kindlicher Rede wie folgt:

"Das soziale Bedürfnis, am Denken der anderen teilzunehmen, das unsere mitzuteilen und zu überzeugen, steht am Anfang unseres Bedürfnisses der Verifikation. Der Beweis ist aus der Diskussion entstanden [...]." [5]

Mit einem Glasgefäß ohne Rundungen wurde der Versuch noch einmal wiederholt. Die Kinder lösten sich in bezug auf das Phänomen der Brechung von der Krümmung des Gefäßes und kamen zu der Erkenntnis: "Das liegt nicht an dem Glas." Ein anderer Schüler bemerkte noch: "Das sieht so aus, als ob das Lineal abgeschnitten wäre." Mit seiner konjunktivischen Beschreibung drückt das Kind aus, dass der Knick in Wirklichkeit nicht vorhanden ist. Als es den Finger am Lineal entlanggleitend in das Wasser eintaucht, stellt es wiederum nüchtern fest:

"Der Finger knickt auch, aber nicht wirklich, er müsste ja weh tun, wenn das wirklich so wäre. Das ist also eine optische Täuschung."

Man könnte nun annehmen, das Problem sei zumindest in einem ersten Ansatz geklärt. Weit gefehlt! Die Kinder bemerkten die Temperaturunterschiede einmal zum Klassenraum und zum anderen zum vorherigen Versuch mit dem Einweckglas (das Wasser dort war wärmer als das in der Küvette, die später mit Leitungswasser gefüllt wurde). Sofort vermuten die Kinder, dass der Temperaturunterschied zwischen dem Raum und dem Wasser als Ursache für das Phänomen anzusehen ist. Sie können noch nicht wissen, ob die Temperaturdifferenz "die unterschiedliche Wärme (gemeint ist natürlich der Temperaturunterschied) schuld daran ist, oder nicht" (wörtl.) und lassen somit alle Eindrücke und Wahrnehmungen in das Ringen um die Sache einfließen. Natürlich haben die Kinder, wenngleich unbewusst, eine wichtige und alltäglich erkennbare Variable der optischen Aktivität erkannt.

Der nicht naturwissenschaftliche Leser vergegenwärtige sich eines kurzen Augenblickes einer Autofahrt über eine von der Sonne beschienenen Straße und des "Flimmerns" das die erwärmte Luft auslöst, die sich knapp über dem Boden bewegt. Vergleichbare Phänomene liegen vor, wenn beispielsweise sehr stark erwärmtes Wasser in kaltes Wasser gegossen wird. Dort sieht man Schlieren im Wasser. Kinder sprechen dann von "zwei Wässern, die sich jetzt vertragen müssen". Die optische Aktivität eines Mediums ist temperaturabhängig und die Idee der beiden Wässer ist nicht so ohne weiteres von der Hand zu weisen. Kinder sprechen oftmals von unterschiedlichen "Wässern" und dies nicht ganz zu unrecht. Denken wir einmal daran, dass die Temperatur des Wassers sich erheblich auf seine chemische Reaktionsfähigkeit auswirkt. Zucker, in eiskaltes Wasser verrührt, löst sich nicht so schnell wie in warmem Wasser und aus einer erwärmten Mineralwasserflasche sprudelt das Wasser wesentlich aufschäumender heraus als aus einer eisgekühlten Flasche. Wir sahen bereits, dass die Kinder das Verhalten von Substanzen in Relation zu ihrer Temperatur bedenken.

Im Verlauf der weitergehenden Untersuchungen der genannten Phänomene wurde das Wasser aus dem Einweckglas und der Küvette ausgetauscht und die Unabhängigkeit der Erscheinungen von Temperaturdifferenz (in den hier bedeutsamen Grenzen) herausgearbeitet. Die Kinder stellten weiterhin Analogien zu einer Lupe bei dem Einweckglas fest und entdeckten die Lupenwirkung bei einigen Wassertropfen, die auf einem beschriebenen Blatt entstanden waren und dort die Buchstaben vergrößerten.

Eine Wenn-Dann-Erklärung der besonderen Art liefert Richard: "Um so weiter man weggeht, um so dicker wird er (der Finger im Wasser)", und beschreibt damit das Verhältnis der Nähe des Beobachters zum betrachteten Phänomen. Ihm ging es also schon um meßbare Größen, die miteinander verknüpft werden können. Die anderen Kinder stellten danach kleine Versuche zur "Lupenwirkung" eines Einweckglases an, das mit Wasser gefüllt ist.

Man kann Knolls folgende Aussage nur sehr bedingt nachvollziehen, wenn man liest:

"Am Anfang der Entwicklung der Beobachtungsfähigkeit beim Kinde herrscht eine ganzheitliche Auffassung vor [...]. Das Beobachtete wird nach äußeren Gesichtspunkten eingeteilt, Wesentliches und Unwesentliches gleich stark beachtet [...]" [6]

Denn woher sollen die Kinder wissen, was das Wesentliche vom Unwesentlichen unterscheidet, sie müssen das erst noch lernen. Ferner ist in dieser Aussage der Begriff der Ganzheitlichkeit völlig unklar. Meiner Erfahrung nach ist die kindliche Sicht der Dinge durchaus gestalthaft und differenziert. Die vorangegangenen Kinderäußerungen zeigen dies zudem auch sehr eindrucksvoll.

Wagenschein ist da wesentlich umsichtiger, wenn er feststellt:

"So kommt es [...] vor, dass Kinder scharf beobachten, wie das schräg ins Wasser hängende Ruder eines Bootes, von weitem und seitlich angesehen, nach oben abgeknickt 'ist', während eine ganze Gruppe von Studenten den Anblick umgekehrt erinnert (nach unten geknickt), weil sie nichts anderes mehr wissen als eine Lehrbuchfigur, und dabei einen (allerdings beteiligten) ,Lichtstrahl' mit dem Ruder selbst verwechseln [...]" [7]

Beeindruckend sowie gestalthaft und differenziert finde ich das experimentell-analogisierende Vorgehen zweier Jungen. Es geht hierbei um den Versuch einer Erklärung eines Phänomens durch die Rückführung auf etwas Vertrautes - um den Urakt aller Naturforschung. Besonders schön ist das Wechselspiel zwischen der Benutzung eines mechanischen Erklärungsmodelles und dem Experiment. Für Grundschüler scheint die Welt der Mechanik real, andere Phänomene müssen mit Hilfe mechanischer Begriffe und Ideen geklärt oder auf mechanische Phänomene zurückgeführt werden. Zusätzlich bedarf es mehrerer entsprechender Versuche und Probehandlungen, die die Argumentation stützen, dass eine "optische Täuschung" vorliegen müsse, weil das mechanische Erklärungsmodell nicht greift.

Von einem Mitschüler auf die Analogie zur Banane angesprochen: "Was meintest du eigentlich mit der Banane, wir haben dich nicht verstanden?", sagt Maximilian: "Ich meine das so, wenn das Messer so langsam in das Wasser geht, sieht das so aus, als wäre es Stückchen für Stückchen geknickt." Seine beiden Zeigefinger bewegen sich während seiner Darlegungen aufeinander zu; ihre Distanz wird immer geringer; sie geht gegen Null. Das Kind deutet damit an, dass es eine unendliche Anzahl kontinuierlich und dicht aufeinanderfolgender Knicke meint. "Dann aber unter Wasser ist das Messer grade und über dem Wasser auch, das wird also nicht geknickt." Seine Rede wird von den anderen Kindern nicht ganz verstanden. "Wie meinst du das?" - "Das hab' ich nicht verstanden." Maximilian steht auf und holt die Lasche eines Schnellhefters. "Das stecke ich mal darein (in das Wasser). Das knickt auch, wie das Messer. Seht ihr das? (Zustimmung) Guckt mal unter Wasser ist er gerade, drüber auch! (Zustimmung) Das knickt nicht richtig. Das mach' ich jetzt mit der Hand." Er nimmt die Lasche und knickt sie gleichsinnig Stückchen für Stückchen mit dem für ihn kleinstmöglichen Abstand. Es entsteht in der Tat eine "bananen"-förmige Krümmung der Lasche.

"Das meine ich!" Er demonstriert mit überzeugender Miene die verformte Lasche den anderen Kindern und greift bei seiner Argumentation auf dieses nun allen vertraute mechanische Phänomen zurück: "Das ist aber beim Wasser nicht so, das geht da sofort wieder weg [...]." Der Zeigefinger berührt die Wasseroberfläche, dort wo das Messer zu knicken scheint. Auf den Gesichtern der anderen Kinder zeigt sich Verständnis, sie lächeln. Erinnern wir uns daran: Das Lächeln eines Kindes ist, so Wagenschein, in seiner wunderschönen Sprache, "das Zeichen Geistes".[8] Wir werden diesem Phänomen im Unterricht immer gewahr, wenn die Kinder etwas verstanden haben oder wenn sie etwas wiedererkennen. In einer Grundschule, die ich häufig besuche, haben es sich die Lehrerinnen zu eigen gemacht, über einen gewissen Zeitraum hinweg Musikmotive in den Pausen abzuspielen. Während eines Wandertages im Spätfrühling passierten wir mit einer der Schulklassen aus dieser Schule eine kleine Ansiedlung. Aus einem der Häuser erschallte der "Frühling" aus dem Zyklus "Die Jahreszeiten" von Antonio Vivaldi. Auf vielen Gesichtern der Kinder lag ein Lächeln, als sie das Motiv mitsummten. Die Freude, dieses Motiv wiedererkannt zu haben, war in den Kindergesichtern ganz deutlich zu sehen. Hier liegt keine Schwärmerei hinsichtlich kindlicher Denk- und Wahrnehmungen vor! Hans Aebli, gewiss unverdächtig in dieser Hinsicht, spricht im Kontext mit der Begriffsbildung von der Freude, die uns ergreift, wenn wir beispielsweise durch einen Begriff etwas wiedererkennen.

"Der Begriff dient daher der Identifikation eines bestimmten Phänomens. Das verschafft dem Menschen einmal eine gewisse Befriedigung. Es ist die Befriedigung des 'Das kenn' ich ja', die theoretische Schwester des 'Den kenn' ich auch'. Indessen beruht diese Befriedigung wahrscheinlich auf der Tatsache, dass der Mensch die identifizierte Erscheinung auch erfolgreich zu behandeln vermag, dass er ihr besser gewachsen ist, als der neuen, unverstandenen Erscheinung." [9]

Dirk hat inzwischen Kunstbast, der beim Verpacken von Geschenken oder Blumen benutzt wird sowie eine Schere herangeholt. Er streckt den Bast und das Stück wird gerade. Er legt den Bast zwischen die Schneide der Schere und den Daumen, so wie er das in einem Blumenladen gesehen hat, wie sich später herausstellt und zieht den Bast hindurch. Bekanntlich entstehen Locken oder Spiralen. "Meinst du das so? Da kann man hören, dass Stückchen für Stückchen bricht!" Es zeigt sich Neugierde, aber auch leichtes Unverständnis bei den anderen Kindern. Dirk wiederholt den Vorgang und zieht den Bast noch einmal durch, nachdem er um Ruhe gebeten hat. Man hört ein leichtes Knistern des Bastes. "Ich meine, da bricht's jetzt ein wenig. Das bleibt (er meint die fortlaufenden Knicke) nur mehr (stärker gekrümmt, M. S.) als eine Banane, aber das ist ja auch ein Band für Geschenke, und das knistert." Sandra ergänzt zustimmend: "[...] und das macht das Wasser nicht", nachdem sie ein Stückchen Bast in das Wasser getaucht hatte und es lediglich benetzt - aber nicht verbogen - nach dem Herausziehen wieder vorfand.

"Das Seltsame fordert uns heraus, und wir fordern ihm das Einfache ab." [10]

Dabei verläuft der Weg nicht zwingend vom Einfachen zum Schwierigen, sondern von dem Punkt aus, der bei uns einen Denkprozess auslöst.

"[...] ein Erstaunen über Ungewöhnliches, Unerwartetes, Seltenes, und der Wunsch, es einzuordnen. Diesen Drang haben alle gesunden Kinder [...]. Der Weg, sich dem Problem und mit ihm der Lösung zu nähern, läuft dazu meist in genau umgekehrter Richtung." [11]

Hier ist das Seltsame, das optische Phänomen und das Einfache, die mechanische Analogie dazu. Nur führt die Nutzung dieser Analogie dazu, dass der Knick als "nicht-wirklich" (nicht mechanisch existent) erkannt und als "optische Täuschung" entlarvt wird.

Wagenschein hat in seiner Sammlung von Kinderaussagen ebenfalls eine Sentenz, die eindeutig eine mechanische Erklärung unterstellt. Das Kind wollte den Bruch als unwirklich beweisen:

"Man könnte meinen, der Stab breche ab, wenn er ins Wasser kommt, und nachher sei er wieder ganz. Das kann aber nicht sein. Eisen kann nicht bloß so abbrechen. Und dann wieder so aneinander hin. Das müsste zuerst zum Schlosser." [12]

Es wird deutlich:

"Man muss versuchen, in das Fühlen und Denken der Kinder gleichsam 'einzutauchen', um das Wesen ihres Wünschens, Fragens, Staunens, Spielens zu erfassen. Dabei schmilzt zwangsläufig die in der empirischen Forschung weithin übliche Distanz zwischen Subjekt und Objekt der Untersuchung. Beide sind in einer engen, manchmal gar intimen Interaktion miteinander verbunden, die zudem häufig in einen Kontext erzieherischer Verantwortung eingebettet ist." [13]

Ganz in diesem einfühlsamen Sinne hat Wagenschein herausgestellt, dass die von ihm gesammelten Kinderhandlungen auf "gemeinverständliche und unbestrittene" Grundlagen zielen, die für kognitiv höhere Formen des Weltverstehens bedeutsam sind. Er sieht die Kindergeschichten unter den folgenden Prinzipien: "Wiederholbarkeit, Erhaltung und Ordnung". Diese Zuordnung zeigt sehr eindeutig, dass hier ein Ansatz für die grundlegende Bildung im Zusammenhang erzieherischer Verantwortung vorliegt. Wagenschein schreibt: [14]

"a) Das physikalische Reale und Wahre muss öffentlich wiederholbar sein, demonstrierbar jederzeit von jedermann reproduzierbar; ein demokratischer Grundsatz [...].

b) Erhaltungssätze (wie sie später in der Physik heißen, etwa: Erhaltung der Masse, Erhaltung der Energie) sind dem Menschen offenbar von Kind an ein Bedürfnis [...]. Man sieht sie hier entspringen aus der Hoffnung, dass 'nichts wegkomme', dass alles ,'irgendwo geblieben sein müsse'; und umgekehrt: dass alles 'irgendwo herkomme', weil aus nichts nichts werden kann (ex nihilo nihil fit).
Diese fixe Idee ist verwandt mit der vorigen, der Forderung nach Wiederholbarkeit, insofern gehofft wird, dass man scheinbar Verschwundenes in irgendeiner Form 'wieder holen' kann.

Beide Postulate, a) und b), kommen aus der Sorge um die Sicherheit. Zauberei ist unerwünscht geworden [...].

c) Das Ungewohnte, Unstimmige, Ausgefallene, Absonderliche, Seltsame soll eingefügt werden können, 'in die Reihe gebracht' des Gewohnten, seiner Befremdung entkleidet; in der Hoffnung, darunter einen vertrauten Kern zu entdecken: Reduktion des Vielerlei auf weniges Selbstverständliches. (Dass dies gelingt, wenn auch in Grenzen, erzeugt in späteren Stadien des Verstehens das, was wohl wirklich das philosophische 'Staunen' genannt werden kann.)"


Die oben genannten und andere Beispiele verdeutlichen sehr eindringlich, wie das Grundschulkind allmählich die Befähigung zur kumulativen Konstruktion des Wissens mit Hilfe selbstgewählter Konzepte und Vorstellungen erwirbt. Unbedingte Grundlagen hierfür sind aber - und das muss hier noch einmal mit Nachdruck herausgestellt werden - die episodischen Erfahrungen, die Einzelkristalle des Verstehens.

Es lohnt an dieser Stelle - wie auch an anderen Stellen - über den Begriff der Einzelkristalle des Verstehens [15] bei Martin Wagenschein und über die Befunde der Harvard-Studie in der Sicht Jerome Saul Bruners nachzudenken. Wenn die Harvard-Studie vom Übergang des Denkens vom "episodischen Empirismus" zum "kumulativen Konstruktivismus" [16] spricht, dann meint sie damit die zunehmende Befähigung des Kindes, sein Wissen auf höherem Niveau unter gleichzeitiger Beibehaltung des Umfanges zu synthetisieren und die Stabilität der kognitiven Struktur, des Wissenskörpers, zu verbessern. Die naturwissenschaftliche Metapher von den Einzelkristallen des Verstehens bei Wagenschein kennzeichnet exakt diesen Sachverhalt: Aus "episodischen Erfahrungen" heraus und im Zuge von Kumulationen, wenn sie hinreichend ähnlich sind, wächst das Verstehen, das nun in der Lage ist, das jeweils Neue durch das Bekannte und Vertraute in sinnvoller Weise auf das eigene Wissen zu beziehen. [17]

Bruner formuliert in einem vergleichbaren Sinne:

"Damit jemand fähig ist, die Anwendbarkeit oder Nichtanwendbarkeit zu erkennen, um dadurch seine eigene Lernfähigkeit zu erweitern, muss er für sich die generelle Art der Erscheinung, mit der er umgeht, geklärt haben. Je fundamentaler und grundlegender der Gedanke ist, den er gelernt hat, um so größer wird schon per definitionem dessen Anwendungsbreite gegenüber neuen Problemen sein." [18]

Diese Übereinstimmung in den Aussagen Wagenscheins und Bruners ist nicht zufällig: Exemplarische oder repräsentative Probleme und Phänomene, die den Weg in die Wissenschaften weisen, finden wir in den Gedanken beider Wissenschaftler vor, wenn wir Begriffe wie "fundamental ideas und key concepts" [19] bei Bruner und Begriffe wie "Fundamentales, Elementares, Aufschließendes" bei Wagenschein lesen. [20]

Beiden Erziehungswissenschaftlern geht es in diesem Kontext nicht allein um die disziplinbezogenen Valenzen dieser Begriffe, sie bevorzugen beide den Weg des entdeckenden Lernens und setzen auf die Autopoiesis des Kindes, die letztlich die wissenschaftliche Erfahrung oder die Erfahrung kognitiven Handelns und Denkens als "conditio humana" und als "Personalisierung des Wissens" [21], sowie als "Spiegel des Ganzen, der geistigen Welt" und als die "Humanisierung der mathematischen Naturwissenschaft und ihre In-Eins-Setzung mit den künstlerischen und religiösen Grundkräften des Menschen" [22] begreift.

Das Faszinierende dieser Konvergenz liegt darin, dass Bruner und Wagenschein zwar nicht von entgegengesetzten Positionen, aber in unterschiedlichen Forschungskontexten arbeiteten und aus verschiedenen Forschungstraditionen stammen.

Mehr noch: Während Wagenschein seine Aussagen vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen in der Odenwaldschule - einer Schule mit besonderer pädagogischer Prägung - trifft, formuliert Bruner seine These von der Personalisierung des Wissens vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen mit Kindern in einem Slumgebiet einer amerikanischen Großstadt und versieht sie mit der pädagogischen Grundforderung, dass der Unterricht eben durch diese Personalisierung den Kindern "Hoffnung" geben soll und kann.

Diese Konvergenz wiederum schafft Vertrauen in die "subjektiven Sinnkonstruktionen" beider Wissenschaftler und in die intersubjektive Gültigkeit didaktischer und pädagogischer Aussagensysteme, die es nun in der science community auszuhandeln gilt. Da Bruner und Wagenschein sich und ihre Arbeiten nicht kannten, kann man ganz offensichtlich von einer gemeinsamen Filiation beider Wissenschaftler ausgehen.

Bevor wir auf Martin Wagenschein näher eingehen, soll ein Beispiel von Friedrich Copei aus dem Heimatkundeunterricht der Volksschule dargestellt werden, das die Bedeutung grundlegender Ideen sehr gut illustriert:

"In der Heimatkunde ist am Ende des dritten Schuljahres der Heimatort mit seiner bergigen Umgebung in der diesem Alter möglichen Weise erwandert und erforscht, er ist erst im Sandkasten, dann in der Projektion auf die Wandtafel dargestellt; nun sind die Kinder so weit, dass sie ihre Landschaft auf der Heimatkarte wiedererkennen und Einzelheiten aus dieser Karte herauslesen. Wie sie die Berge und Hügel einzeln nach der Karte benennen, fällt ihnen auf, dass bei dem Namen jedes Berges eine Zahl steht, und sie vermuten sofort richtig, dass das die Höhenangaben sind. Da fragt ein Schüler, wie man denn die Berge gemessen habe. Der Lehrer erkennt sofort, dass die durch diese Frage entstandene Situation glückliche. Unterrichtssituation genutzt werden muss, er gibt den Weg seiner eigenen Überlegungen auf und ermuntert die Schüler, ihre Meinungen zu der Frage zu äußern. Eine erste Vermutung geht in die falsche, allerdings nicht unerwartete Richtung: man müsse ein langes Seil nehmen und an den Berg legen. Aber schon wenden Schüler ein, ein Seil von dieser Länge gäbe es nicht. Nun wollen sie streckenweise messen. Der Lehrer wendet fragend ein, welchen Abhang sie denn auf diese Weise messen wollten. Da stellt sich eine erste Verlegenheit ein, die aus dem undeutlichen Bewusstsein kommt, dass da eine Schwierigkeit verborgen liege; man merkt, dass man auf diese Weise nicht weiterkommt. Da gibt der Lehrer eine Hilfe. Man solle es im kleinen an den Bergen Versuchen, die im Sandkasten dargestellt sind. Ein Schüler misst zunächst die höchste, steilere Erhebung, indem er das Metermaß an einen Abhang legt, und stellt fest: '15 Zentimeter.' , Der Lehrer fordert auf, auch einmal von der anderen Seite zu messen. Nun sind es aber 17 Zentimeter. 'Also ist der Berg auf der einen Seite 15, auf der anderen Seite 17 Zentimeter hoch?' - ,Ja, weil er hier schräger ist. , Der Lehrer lässt den Irrtum auf sich beruhen und fordert auf, auch einen der flachwelligen vorgelagerten Hügel zu messen. Ein Schüler legt wieder das Maß an und kommt zu dem Ergebnis: '22 Zentimeter. , Aber da stutzt er selbst, und ein anderer ruft ihm dazwischen: 'Dann wäre der Hügel ja höher als der Berg.' Alle merken, dass das nicht stimmen kann. Der Befund der Messung und die vernünftige Überlegung werden noch einmal in Gegensatz gestellt. Die Ratlosigkeit diesem Widerspruch gegenüber steigt. Jetzt erinnert der Lehrer noch einmal an die Messung des höheren Berges: 'Eben habt ihr ja auch denselben Berg einmal mit 15, einmal mit 17 Zentimeter gemessen.' - ,Ja, das kann auch nicht stimmen.' - Nun steigert sich die Verlegenheit von neuem. Der Lehrer formt den Berg noch etwas steiler und meint: 'Wenn wir jetzt messen, müsste er ja noch niedriger geworden sein. Aber ist er denn niedriger geworden?' Da kommt ein Schüler auf die glückliche Lösung. 'Ich weiß es', sagt er, aber er gibt die Antwort nicht mit Worten, sondern mit der Hand: er nimmt das Metermaß und steckt es von der Spitze des Sandberges senkrecht bis auf den Grund. Damit ist der Damm durchbrochen." [23]

Lassen wir nach diesen Beispielen aus der Grundschule Martin Wagenschein weitgehendst selbst zu Worte kommen.

"Das Pendel: Sicherlich ist es richtig, von den Erinnerungen auszugehen, die alle Kinder vom Schaukeln haben. Aber eine kleine Messingkugel an einem dünnen Faden: ist das dasselbe? Für den Physiker schon, für das Kind aber eine Entwürdigung ins Unernste, Puppenstubenhafte hinein. Ich erinnere mich aus der Frühzeit meines Unterrichtens, wie mir das einmal aufging. Also schleppte ich eines Nachmittags einen kopfgroßen Felsbrocken in die Schule und hängte ihn an einem dicken Seil an der 5 Meter hohen Decke auf. Anderntags in der Physikstunde sagte ich gar nichts und ließ nur das schwere Pendel von der Seite her ins Blickfeld schwingen. Wie langsam! Das bloße Zusehen macht ruhig. Von selbst lockt es die Jungen und Mädchen von ihren Plätzen. Sie umstehen dicht und respektvoll den gefährlichen Schwingungsraum. Zu sagen ist nichts. Die Fühlung bedarf keiner Aufforderung, sie bedarf nur der Zeit, die die Schule sich so selten nehmen darf. Alle Köpfe gehen mit, auf und ab, hin und her. Das leise Anlaufen, der sausende Sturm durch die Mitte - ein aufgefangener Fall -, drüben der zögernde Aufstieg bis zum Umkehrpunkt; er kommt nicht ganz so hoch wie er war, der Brocken. Die vertraute Schaukel ist jetzt objektiviert, ein Gegenüber geworden. Sie schaukelt sich allein, fast unermüdlich, ohne dass einer sie antreibt, ihrer selbst ganz sicher. Das bloße Anschauen lenkt den Sinn aufs Maßvolle. Dieses Pendel trägt das Maß seines Schwingens, seines besonders langsamen Schwingens, in sich. Warum schwingt das lange Pendel so langsam? Es ist zu spüren: Die Zahl nähert sich, das Gesetz. - Am großen Pendel sieht man Fragen, die das kleine eilige nie erregt, zum ersten Mal: der rätselhafte höchste Punkt, an dem der Felsbrocken umkehrt. In diesem Augenblick: bewegt er sich da oder nicht? Hält er da, oder? Wie lange währt die Pause der Bewegungslosigkeit? - Ist diese Frage einmal gesehen, so beginnt ein nicht vorauszusehendes Gespräch in der Umgangssprache, versteht sich, noch nicht in der Sprache der Physik. Der Lehrer braucht gar nichts zu sagen. Höchstens am Ende kann er zusammenfassen: Es ist ein Stillstand ohne Dauer; das, was der Physiker einen 'Zeitpunkt' nennt. Kürzer als jeder Augenblick, kleiner als jeder Moment, unter aller Zahl. Seine Dauer ist Null. Da steht ein Körper und steht doch nicht still - so etwas gibt es also."'

"Diese einführende Betrachtung die ich hier andeute, schließt nicht nur nicht aus, dass wir danach zur Pendelformel kommen: Im Gegenteil, das Anschauen erschließt erst die Sache, so dass sie redet, und die Schüler, dass sie 'dabei' sind. Eile verdirbt alles."
[24]

Dies ist eine Geschichte, die der Physiker und Pädagoge Martin Wagenschein in seine wie er es nennt pädagogische Autobiographie aufgenommen hat, die 1983 unter dem Titel Erinnerung für Morgen erschienen ist. Sie beleuchtet Denken und Handeln, Erfahrungen und Einsichten eines Mannes, der ein sechsundneunzigjähriges Leben hindurch sich damit auseinandergesetzt hat, naturwissenschaftliches Beobachten, Fragen und Deuten so zu unterrichten, dass eine ernsthafte Verständigkeit für die Naturwissenschaften zur Allgemeinbildung aller werden kann. Es ist eine gewaltige Aufgabe, wenn man an die triste Wirklichkeit in unseren Schulen und in unseren Erwachsenenköpfen denkt.

Er beschreibt sie so: "Ich sah meine Aufgabe: Vom Vorrang des Verstehens zu überzeugen, und dass dieses Verstehen zu geschehen habe, als ein Hervorgehen des wissenschaftlichen aus dem kindlichen und dem jugendlichen Suchen und Finden, Denken und Entdecken; wie auch aus der Jugend der Wissenschaft. Und zwar zur Rettung der Spontaneität und Kontinuität. Das ist ein pädagogisches Prinzip, das Genetische." [25]

Martin Wagenschein stellte sich noch in sehr hohem Alter dieser Aufgabe. Mit seiner einzigartigen Fähigkeit in Episoden und durch Aphorismen seinen Standpunkt auch in humorvoller Weise zu klären, erzählt er in seinem Vortrag "Rettet die Phänomene" an der Universität Essen (11. Januar 1979) folgende Geschichte als ein Beispiel, das deutlich zeigt, dass grundlegendes Verstehen von Naturerscheinungen und das "Stehen auf den Phänomenen" besonders für Lehrer der Naturwissenschaften notwendig ist.

Er schreibt: "Physik, eine bezaubernde Wissenschaft, solange sie spüren lässt, wie sie auf Natur-Phänomene sich gründet, um auf diesem Fundament ihr begriffliches Gebäude zu errichten - diese Physik ist in Unterricht und Lehre (die dem Fortschritt der Forschung allzu atemlos folgen) nahe daran, ihr Fundament als Abraum zu missachten oder gar zu verleugnen. Kein Wunder, dass Physik kein beliebtes ,Fach' ist. Was nicht auf den Phänomenen steht, wird nicht verstanden und deshalb schnell vergessen." [26]

In einer seiner Varianten des Vortrages "Rettet die Phänomene" zeigt Wagenschein die Bedeutung des Ausgehens von Phänomenen, des ursprünglichen Verstehens, der wissenschaftstheoretischen Besinnung und der sprachlichen Beschreibungen von Naturphänomenen als Grundlage für verstehendes Lernen.

"Ein Stein, eine polierte Metallfläche, ein stehendes Gewässer, das Wasser im Glas, die eingeschlossene Luft des Zimmers, sie alle machen den Eindruck völliger Ruhe. Wenn Nichts und Niemand eingreift, kein Wind, keine Wärme, kein Stoß, dann blickt man auf eine tote, eine passive Szenerie.- Mit einer Ausnahme: das Wasser, wenn man ihm Zeit lässt, verschwindet es heimlich aus dem Glas, 'verdunstet', erobert den Raum, wenn auch langsam. - Ist es nun von der Luft entführt, oder ist es selber schuld, will es flüchten? - Wir können ja die Luft wegnehmen: Stellen wir das Glas mit dem Wasser unter eine dichte Glocke und pumpen aus ihr die Luft heraus. Dann erleben wir einen überraschenden Ausbruch: Das Wasser, das kalte Wasser beginnt in großen Blasen zu kochen, zu verkochen. Es hat also offenbar nur darauf gewartet, die Luftlast loszuwerden: es will kochen. Wenn wir ihm den Luftdruck wegnehmen, helfen wir ihm zu dem, was es von sich aus anstrebt. Die Ruhe des Teiches ist Täuschung.

Da das Wasser nun bekanntlich auch unter der Last des Luftdruckes trotz ihm, zum Kochen zu bringen ist, nämlich durch Erhitzung, so können wir sagen: es sieht so aus, als werde ein innerer Drang zum Sieden durch Wärme nur unterstützt. Das Wasser hat, fassen wir alles zusammen, allein in sich selber die Tendenz, zu Dampf zu werden.

Aufmerksam geworden, suchen wir nach ähnlichem: Zucker löst sich im Wasser selbsttätig auf. Verschiedene Flüssigkeiten übereinander geschichtet, vermischen sich in tagelanger Heimlichkeit von selber. Dasselbe finden wir bei Gasen. Schließlich, und das ist ja am bekanntesten. Luft, Dampf, alle Gase sind immer auf dem Sprung, jeden Raum zu erobern, den man ihnen öffnet, sei er leer oder von einem anderen Gas besetzt. Sie sind in ständiger Aggression, und wo kein Ausbruch möglich ist, drücken sie gegen die Wand.

Folgt jetzt, als Höhepunkt, noch die Vorführung der Brownschen Bewegung, dann merkt man vielleicht, wie gut dahinein passt, dass heftiges Reiben und Rühren alle Dinge wärmer macht: Der innere Aufruhr kommt von außen.

Dieser rein phänomenologische Lehrgang könnte zeigen:

1. Recht tiefgehende, wenn auch nur vorbereitende Zusammenhänge sind, ohne von Molekülen zu reden, einsichtig zu machen.

2. Schon gewöhnliche Materie zeigt sich hier von einer neuen, einer drohenden Seite. Wir können noch von Glück sagen. Vorsicht ist geboten."
[27]

In einer weiteren Version dieses Vortrages [28] führt er dieses Beispiel weiter:

"Sie (die Vorsicht, M. S.) wird noch dringlicher durch einen zweiten, ebenfalls rein auf Phänomene gestützten Einblick. Er ist zwar künstlich, aber einfach gebaut.

Es geht hier nicht um gewöhnliche Materie wie bei der Brownschen Bewegung, sondern um eine besonders bedrohliche Sorte, radioaktive Stoffe.

Man blickt durch eine gewöhnliche Lupe auf die Schicht eines Materials, das die besondere Eigenschaft hat, an den Stellen, wo man es mit einer Nadel ritzt, einen winzigen Lichtblitz von sich zu geben. Wie es das macht, ist eine Sache für sich, die wir hier nicht zu verstehen brauchen, da wir sie nur benutzen.

Zwischen Lupe und Schicht, auf einem dünnen Draht, ist nun eine winzige Menge eines Radiumsalzes angebracht, und zwar auf der vom Auge abgewandten Seite des Drahtes, nach der Schicht hin also offen. Die Lupe ist auf die Schicht eingestellt. Im Stichdunkeln und mit ausgeruhtem Auge, am besten mitten in der Nacht, sieht man dann etwas ebenso Unvergessliches, wie es die Brownsche Bewegung ist. Nicht torkelnde Sterne, sondern nur aufblitzende und wieder verschwindende, bald hier bald da. Ein flackernder Sternhimmel. - Nun kann man, das ist vorgesehen, während man hineinblickt, das Radiumsalz etwas von der Schicht zurückziehen. Die Sterne werden dann seltener. Schließlich kommen gar keine mehr. Umgekehrt: nähert man das Radiumsalz der Schicht, so nimmt das Flimmern überhand.

Sind das die Atome? fragt das überinformierte Kind. Nein, es sind Lichtblitze ("Szintillationen"). Aber man hat den Eindruck, dass dieses Radiumsalz von selber feinste Trümmer aussprüht, die die Schicht ritzen. Zwar hat man dann nicht gerade Atome gesehen, aber doch sind wir nahe daran. So nahe wie die Fußspur eines Vogels dem Vogel selber ist, der sich für einen Augenblick auf dem Schnee niederließ.

Dieser kleine und billige Atomguckkasten ist natürlich nur ein Anfang in der Erkundung der Radioaktivität. Das Kind wird weiter fragen: Wird das Radium jetzt weniger? - ja, nicht schnell, aber nach vielen Jahren ist es zu merken. Man sieht: jetzt ist das Messen und Rechnen unumgänglich."


Wagenschein hält sich ganz an die vertraute Welt des Sichtbaren, Hörbaren, Fühlbaren und macht in dieser Welt den Zusammenhang zwischen den einzelnen Naturerscheinungen deutlich. Er kommt ohne Modelle dazu. Er vereinfacht dabei aufs äußerste. Auf Überflüssiges wird verzichtet. Statt dessen aber wird der physikalische Zusammenhang zwischen den Erscheinungen mit letzter strenger Denknotwendigkeit aufgebaut. Jeder Schritt ist notwendig und kann nicht anders sein. Das betont Bollnow in seiner Würdigung der Wagenscheinschen Arbeit. [29]

"Vor einigen Jahrzehnten (so erzählt er in einer weiteren Version dieses Vortrages "Rettet die Phänomene" ) war ich jahrelang Gymnasiallehrer und hatte vor mir das Kapitel ,Magnetismus', etwa 15-jährige. Und da ich der Meinung bin, immer schon war, dass Physik eine Naturwissenschaft ist, hatte ich endlich einen richtigen Originalmagneten, Magnetstein von einer seriösen Mineralienhandlung kaufen können. Sechs Mark kostete der damals [...]. Da stand, glaube ich darauf ,Magnetit Arizona attraktiv'. Ich war also froh, diesen Zeugen, den natürlichen Zeugen einer Naturwissenschaft, bei mir zu haben in der Hand und eilte auf die Klasse zu, die auf mich wartete. Und vor der Tür stand eine Studienreferendarin, die bei mir hospitieren musste. Sie wusste, was drankommt und ich sagte zu ihr: ,Gucken sie mal, was ich da habe!' und hielt ihr das hin. Da guckte sie auch, ja, aber sie blickte geringschätzig. Ich war etwas verärgert und sagte, na das ist doch etwas anderes als die albernen Artefakte, die wir im Schrank haben. Diese rechtwinkligen, an den Enden rot und grün angemalten Stahlmagnete. Darauf sagte sie: ,Ich sehe keinen Unterschied.' - ,Ach, Sie sehen keinen Unterschied?' - ,Nein! In beiden sind die Elementarmagnete parallel gerichtet.' Dann sagte sie noch, ehe wir in den Saal einzogen: ,Sie sind aber ein komischer Physiker.' Und das wusste ich ja schon lange. Ich würde es anders ausdrücken. Sie war noch Physiker und ich war schon Physiklehrer. So einfach ist das!" [30]

Sein Buch "Erinnerungen für Morgen" ist ein über seine Lebensgeschichte vermittelter Einstieg in das von ihm entwickelte Prinzip des genetischen Lernens in der Physik und das Verstehen physikalischer Gesetzmäßigkeiten und Zusammenhänge von Grund auf: Längst freilich nicht mehr nur für Kinder, sondern auch für Studenten der Technischen Hochschule in Darmstadt - künftige Physiklehrer, aber auch für andere, die bei ihm Wege zum naturwissenschaftlichen Verstehen finden lernen. Nicht zuletzt hat Wagenschein seine entscheidende Aufsatzsammlung mit dem Titel: "Ursprüngliches Verstehen und Exaktes Denken" [31] versehen.

Wie es in seinem Unterricht zugeht und wie er die kommunikative Grundstruktur des Lernens der Naturwissenschaften sieht, hat er wie folgt beschrieben.

"Wenn man also wirklich verstehen will, dann muss man bis auf den Boden verstehen, bis auf den Grund verstehen, und das gelingt nicht, das kommt kaum vor. Deshalb mache ich mit ihnen Übungen, bei denen ich ihnen sage, ihr müsst versuchen, alles zu vergessen. Ich sage ihnen: Es handelt sich hier um ein Gespräch, nicht um eine Diskussion, also kein Streitgespräch, es handelt sich um eine anhaltende gemeinsame Verständigung der ganzen Gruppe über ein gewisses Problem, für die Klärung, für die Entdeckung, die Lösung dieses Problems. Meine Aufgabe und Absicht ist nicht, sie zu belehren oder gar sie zu prüfen oder gar sie zu beurteilen. Niemand wird eingestuft - Anonymität in vollem Lichte! In den Schulen ist das ja ganz anders, das merke ich bei allen Studenten des ersten, zweiten, dritten Semesters. Wenn einer was an der Tafel macht, zwanzig Leute sitzen, und dann, wenn er fertig ist, guckt er - mich an - immer, immer. Das muss man ihnen dann abgewöhnen. Ich halte mir was vors Gesicht. Fragen, wen meinen Sie denn, wer bin ich denn, auf mich kommt's doch nicht an - immer dasselbe, ein schreckliches Symptom. Es gibt also keine Zwiegespräche auch mit dem Lehrer, sondern was einer sagt, muss immer an alle gerichtet sein. Und das Wichtigste: Sie müssen nur selbst Gedachtes sagen, nicht Gelerntes, nicht, was sie glauben, dass es so ist, weil sie's mal gehabt haben. Am besten wäre es ja, sie wüssten gar nichts, aber das ist nicht zu machen - also stecken sie ihre Kenntnisse hinter einen Vorhang. Es geht überhaupt nicht um Wissen, sondern um Findigkeit. Sie müssen also ganz arm neu anfangen. Das wichtigste ist die folgende Gebotstafel über die Tugenden des Lehrers: Den Mund zu halten, aber zuzuhören; einzugreifen nicht zur Sache, sondern nur zur Ordnung des Gesprächs, etwa: Wovon sprechen wir eigentlich? Oder ich sage: Sagen Sie's doch bitte nochmal, aber mit ihren Worten. Das kann man so fortsetzen, bis sie alle schließlich soweit sind. Es ist eine Pflicht jedes einzelnen Teilnehmers, alles zu sagen, was er selber denkt zu dem Problem. Das schließt ein: Jeder fühlt sich dafür verantwortlich, dass alle verstehen." [32]

Ein Kapitel in Martin Wagenscheins Autobiographie in pädagogischer Absicht - heißt: "Kinder auf dem Weg zur Physik - Erwachsene auf dem Weg von ihr fort." [33]

Eindrucksvoll macht er diesen Befund an folgenden Beispielen deutlich:

"So kommt es [...] vor, dass Kinder scharf beobachten, wie das schräg ins Wasser hängende Ruder eines Bootes, von weitem und seitlich angesehen, nach oben abgeknickt ,ist', während eine ganze Gruppe von Studenten den Anblick umgekehrt erinnert (nach unten geknickt), weil sie nichts anderes mehr wissen als eine Lehrbuchfigur, und dabei einen (allerdings beteiligten) ,Lichtstrahl' mit dem Ruder selbst verwechseln. Das ,Wissen' über das Phänomen trübt das Phänomen. Oder: Johannes, knapp 5, in der Badewanne, sagt zur Mutter: ,Warum wackelt das Wasser noch, wenn ich mich doch gar nicht mehr bewege?' Er entdeckt damit, was wir ,Trägheit' nennen oder ,Beharren' und findet, dass das Wasser noch von selber weiterschaukelt, seltsam. Mit Recht. Auch Aristoteles fand derartiges schwer verständlich. Studenten aber ,denken nicht daran', die gelernte ,Trägheit' in Betracht zu ziehen vor folgender Frage: Man lasse ein Ei über die ebene Tischplatte rollen und stoppe es kurz mit der Fingerkuppe ab, so dass es haltmacht; ist es roh, so setzt es sich nach kurzem Schreck wieder in Bewegung, während das gekochte brav liegen bleibt. Wie das wohl kommt? - Sie fangen an von Molekülen zu reden! Der hilflose Rückgriff auf die gelernte abstrakte molekulare Hinterwelt verdunkelt den Blick auf das unmittelbar vor Augen Liegende. Vor der Schule wache und denkbereite Kinder, nach der Schule ,zu Boden gelernte' (Jakob Burckhardt) Erwachsene?" [34]

Seit 1947 war er in der Ausbildung künftiger Physiklehrer tätig, zunächst als Fachleiter für Physik, seit 1951 als Honorarprofessor in Darmstadt, dann Tübingen und Frankfurt, schließlich wieder Darmstadt. Seine Studenten also dürfen, ja sollen wie die Kinder werden, um im Sinne des Genetischen zu lernen. Hierzu schreibt Wagenschein:

"Das genetische Lehren liegt dem Fachwissenschaftler fern. Er blickt nach vorn, entführt von einer mitreißenden Wissenschaft. Ich war durch mein Studium der wissenschaftlichen Faszination gerade schon nahe genug gekommen, um das zu verstehen. Ich war indes noch nicht gefesselt, noch nicht in eine Standes-Rüstung eingestiegen, als ich zur Pädagogik überlief. Der Fachwissenschaftler lebt viel zu intensiv innerhalb seiner physikalischen Festung, um noch den Kindern zuhören zu können, die auf dem Hang sich hinaufpirschen. - In einem anderen Bild, Hochschulphysiker leben heute fast alle oberhalb der Baumgrenze. Man sollte sie nicht nach den Waldwegen fragen. Es gibt große Ausnahmen. Ich nannte sie schon. Vermutlich würde auch Einstein zu ihnen gehört haben, von dem sein Freund Solovine schreibt: Einstein ging mit Vorliebe von der Entstehung der Begriffe aus. Zu ihrer Klärung benutzte er die Wahrnehmungen, die er bei Kindern machte! Unter den lebenden ist der Zürcher Quantenphysiker Walter Heitler dabei, von den Mathematikern Hans Freudenthal (Utrecht). Übrigens ist die Frage ,Genetisch oder nicht' rein pädagogisch zu entscheiden. Der Lehrer muss dafür sorgen, dass sein Schüler nicht gespalten wird. Kenntnis der Naturwissenschaft und das Anwenden-Können genügen nicht. Man muss auch wissen, wie die Natur dazu gekommen ist und immer wieder dazu kommt, uns in kleinen Andeutungen und unter gewissen Bedingungen dies Wissen anzubieten, das am Ende so ganz anders aussieht als sie selbst." [35]

Dieses Lernen ist nicht einfach ein dialogähnlicher Vorgang zwischen dem angeschauten Naturphänomen, das dem konzentrierten Beobachter seine Rätsel als Frage und auch als Antwort anbietet, und dem nachdenklichen Betrachter, der sich frei gehalten oder frei gemacht hat für die eigene Erfahrung und deren Verarbeitung im eigenen Denken. Erst recht nicht ist es Ergebnis eines Dialogs zwischen dem Schüler (oder Studenten) und seinem Lehrer. Vielmehr ein soziales Geschehen, das sich am Gegenstand naturwissenschaftlicher Beobachtung und Erkenntnis entwickelt und in der Lust an der eigenen Intuition und Findigkeit nicht die Verantwortung vergisst, das eigene Entdecken den anderen im Medium anschaulicher und genauer Sprache verständlich und nacherlebbar zu machen. Herman Nohl, einer der Großen der Pädagogik in unserem Jahrhundert, kein Freund der Naturwissenschaften, hat Wagenschein einmal geschrieben: "Sie sind ja ein Dichter!" - und ihm fortan seine berühmte Zeitschrift: Die Sammlung für seine Beiträge eröffnet. Wagenschein sagt dazu offensichtlich augenzwinkernd: "Ich hatte nichts gegen die - zum Glück private - Übertreibung, zumal Nohl von nun an alles nahm, was ich ihm schickte, auch das Nicht-Dichterische." [36]

Die Fähigkeit, sich mitzuteilen, so dass man verstanden wird, die Entwicklung oder, besser noch, die Bewahrung der eigenen Sprache, in der das Beobachtete und Erkannte die Qualität des subjektiven Erlebens behält, steht in Wagenscheins pädagogischer Entwicklung ganz am Anfang. Im Jahre 1923, als er seine Staatsprüfung für das "Höhere Lehramt" ablegte, stellte er seine schriftliche Hausarbeit unter das Thema: "Förderung der Sprache durch den naturwissenschaftlichen Unterricht". In seiner Umkehrung wurde es zu einem der Lebensthemen Martin Wagenscheins.

In seinem Aufsatz "Abakadabra und der Formelkram" schreibt er :

"Es hat mich schon immer beunruhigt, dass in unserem Zeitalter, (das vielen geradezu geprägt erscheint von den Naturwissenschaften, von ihren Apparaturen nicht nur, sondern auch von ihren Denkformen und Sprechweisen), dass heute diejenigen, die nicht besondere Studien auf diesem Gebiete betrieben haben, die sogenannten Laien also, selten richtige Vorstellungen davon besitzen, was in diesen Wissenschaften eigentlich geschieht und wie sich das kundgibt gerade im Anblick der alltäglichen Naturerscheinungen, gewohnten wie absonderlichen." [37]

Er spricht an anderer Stelle von der Korrumpierung des Naturverstehens und führt Beispiele für den "Erhaltungszustand physikalischer Laienkenntnisse" an:

"[...] da sei ein Teich, schattig, glatt durchsichtig. Es fällt auf, wieviel flacher er aussieht, als man ihn vom Baden kennt, besonders hinten. Badende, die im Wasser stehen, haben merkwürdig kurze Beine. Und das Schilf, wie es aus dem Wasser herauswächst, zeigt einen Knick, wo es keinen hat. Das Wasser täuscht. Der zuständige Lehrbuchsatz, der dies alles erklären soll [...]. ,Ein Lichtstrahl, der aus dem dichteren ins dünnere Medium übergeht, wird vom Einfallslot weggebrochen.' Gespräche mit Erwachsenen lassen erkennen, dass dieser früher einmal gelernte Satz, wenn nicht überhaupt abgestoßen wie ein körperfremdes Organ, keine Verbindung mehr mit jenen Täuschungseffekten des Wassers aufnehmen kann. Die Sonne scheint nicht - wieso Lichtstrahlen? Und gar aus dem Wasser heraus? Vor allem dieses ,Einfallslot' erscheint glatt erfunden, ein ärgerliches Kunstprodukt [...]. Die Befremdungen steigern sich, wenn Zahlen, Größenbezeichnungen, Einheiten, Formeln aus der Erinnerung auftauchen. Ein aufgeräumter Literat [...] kann sich dann etwa so äußern: 'Beschleunigung, ja ich erinnere mich. Und war da nicht etwas wie Zentimeter/Sekunde hoch minus zwei?' (Sehen Sie, ich weiß es noch!) Aber sagen Sie selbst: Was für ein Wahnsinn! Und gar noch eine Zeit im Quadrat, das gibt es ja gar nicht." [38]

Bei der Suche nach Abhilfe, nach Aufhebung der Trennung zwischen Muttersprache und Fachterminologie und nach Kontinuität zwischen dem ursprünglichen Verstehen und dem exakten Denken schreibt Wagenschein:

"Wie ich aus eigener Erfahrung weiß, gibt es zwei Wege, die im Grunde wesensgleich sind: 1. mit Kindern sprechen, besser noch: ihnen zuzuhören; 2. in den Originalberichten lesen jener alten - in Wahrheit jungen Genies [...].

Der anfängliche Entdecker lebt ja in der Notwendigkeit, das Neue im Gespräch mit anderen (Unwissenden, Zweiflern, Leichtgläubigen) sich und ihnen klarzumachen, noch ohne Fachsprache. Er ist immer auch Didaktiker. Hören wir ein Stück Galilei (aus seinen ,Sternenboten') über die von vielen Menschen immer wieder bewunderte, doch selten verstandene zarte Aufhellung der ganzen Mondscheibe gerade zur Zeit der schmalsten Sichel [...]: ,Solange der Mond [...] nicht weit von der Sonne sich befindet, ist seine Kugel nicht nur auf der Seite, wo sie mit leuchtenden Hörnern geschmückt ist, für uns sichtbar, sondern [...] wir sehen, dass nicht nur der äußerste Saum des finsteren Teils mit einer gleichsam unsicheren Helligkeit leuchtet, sondern dass das volle Antlitz des Mondes [...] von einem gewissen gar nicht schwachen Licht aufgehellt wird [...]. Solange nämlich der Mond um Neumond unter der Sonne steht, sieht er die Oberfläche der Sonne ausgesetzten und von lebhaften Strahlen erleuchteten Erdhalbkugel voll und empfängt das von ihr zurückgeworfene Licht."


Wagenschein interpretiert: "Gleichsam unsichere Helligkeit", sagt er. "Das ist nicht physikalische Sprache, noch nicht. Aber es ist genaue Beschreibung der Ungenauigkeit des Lichtsaums, den wir sehen. Schließlich sagt er sogar ,Antlitz', das ,volle Antlitz des Mondes'. Physikalisch gesprochen, hieße es, ,seine gesamte Erde zugewandte Oberfläche'. Aber sein, des Mondes ,Antlitz': das kennen wir von Kind an, und es sieht uns immer noch an. So heißt es auch später: ,sieht er'; der Mond sieht die von der Sonne erleuchtete Erde. Galilei weiß, dass der Mond nicht sieht. Aber indem er ihn sehen lässt, hilft er uns hinauf, dass wir von ihm aus sehen [...]. Kein Fachwort, vertrauenerweckend." Die zweite Hilfe charakterisiert er so: "Auf Kinder hören, wenn sie von sich aus zur Sache denken. Was sie alles sehen. Wie genau sie sehen. Wie sie treffendere Worte finden als die Physik. Wie sie andere Worte finden als die Standardausdrücke der Physik. Wie sie deuten. Sie entdecken und verstehen, indem sie verbinden. Wie sie eingreifen (experimentieren). Wie sie miteinander diskutieren [...]." [39]

In einem anderen Zusammenhang formuliert Wagenschein den Sachverhalt wie folgt. (Er spricht hier einen großen, etwa 1 Meter langen magnetisierten Eisenstab an, der an einem waagerecht hängenden Faden hängt und sich dann sich allmählich in Nord-Süd-Richtung einpendelt. M. S., vgl. hierzu den Aufsatz: "Das große Spüreisen"):

"Wahrscheinlich haben die Knaben mit mir herumgestanden um unsere Drehschaukel, meist schweigend, versunken, guckend, wie die gar nicht aufhören will. Dazwischen Rufe, etwa: ,Die kanns net losse!' (nämlich immer wieder über's Ziel hinauszuschießen; ein Ziel hat sie, das sieht man). Und zuletzt (aufatmend, sich aufrichtend, einander ansehend): ,Ewwe isses so weit!' oder ,Ewwe hat se ihr Ruh'!' Und welch einladender 'Einstieg' zum Begriff der 'Trägheit' ist diese große magnetische Horizontal-Schaukel; viel besser als das allzu gewohnte Pendel: 'Was will sie nun eigentlich? Ruhen oder schwingen? Will sie Ruh', oder will sie dies gerade nicht? Oder muss sie etwas tun, was sie gar nicht von sich aus will?' (So würde ich selber reden, wenn sonst keiner etwas sagte). Solcher ,'Animismus' musste den traditionellen Physiklehrer wohl aufbringen. Er würde einwenden: solche mystischen Redewendungen sind in einer exakten Wissenschaft rücksichtslos zu verabschieden! Ich würde antworten: Die Muttersprache führt zur Fachsprache, ohne zu verstummen. Die Umgangssprache wird nicht überwunden sondern überbaut. (Zwei Sprachen stehen am Ende zur Verfügung.) Für mich gab es nie einen 'Abschied', und ich meine, es sollte ihn für keinen Lernenden geben. Ich war zeitlebens immer zugleich drinnen und draußen geblieben, in der Physik und außerhalb ihrer, ein Grenzbewohner. Und musste nicht gerade dies der Pädagoge immer leisten: In der Schwebe zu sein zwischen Fachwissenschaft und Laientum, zwischen Phänomen und Begriff, Wissenschaft und Unbefangenheit, in sich selber zu Hause und (soweit das möglich ist) im Schüler."[40]

Zur Brechung des Lichtes und zur Kindersprache verweist er auf ein zwölfjähriges Mädchen, das spontan sagt: "Der Grund täuscht auch! Und durch das täuscht das auch! Weil der Grund weiter oben ist, dann kommt der Stab auch weiter rauf, dann meint man, er müsse abbrechen. Kurz: Die Knickung des Stabes ist als Hebung verstanden, zwei Phänomene sind in Verbindung gebracht, ein Elementarakt jedes kreativen Verstehens." [41]

Zur Kindersprache merkt er weiterhin an: "Man bemerkt, dass Kinder gern so sprechen, als wären die Dinge, die wir Erwachsenen, wenn wir genau sein wollen, ,unbelebt' nennen. Wesen ,wie du und ich'. ,Das Eisen geht zum Magneten, weil es dahin möchte. " sagt ein Sechsjähriger, und ihm ist es noch ziemlich ernst damit [...]. Solche Sprechweisen wie aus Gespensterfurcht autoritär verscheuchen zu wollen, wäre töricht, zumal die Kinder selber in einem gewissen Alter sich in einer rührenden Weise zu berichtigen anfangen: ,Man könnte meinen', sagt ein Zwölfjähriger, 'das Eisen rieche es, wenn der Magnet kommt. Aber so kann man nicht sagen [...]. Das können nur die Menschen."

"Und ein Neunjähriger: ,Da fließt's allein mit dem Gewicht, wies auch im Bach fließt, weil alles Wasser nach unten will.' Der Junge: 'Ja, ich sagte halt so. Ich weiß, dass das Wasser nicht denkt. - Wir sagen halt so, weil's halt leichter zum Denken ist'. Damit hat dieser Junge etwas sehr Wichtiges ausgesprochen, für jeden Unterricht, auch an Ältere, ja, an Studenten. Es gibt keinen Grund, das animistische Reden zu verpönen. Im Gegenteil. Man sollte es nutzen. Es hilft, sich hineinzuversetzen. Es hindert die Verfremdung. Animistische Rede ist teilnehmende Rede."
[42]

Ein weiteres ebenfalls wunderschönes Beispiel stellt Wagenschein in bezug auf das Phänomen der Schallausbreitung in Siegfried Thiels "Unterrichtsprotokollen" (Tonbandaufnahmen) von Gruppengesprächen in einer Grundschule (Versuchsschule der Tübinger Universität) von 1969: "Grundschulkinder zwischen Umgangserfahrung und Naturwissenschaft" (S. 90-180) dar:

"Neunjährige sprechen miteinander über befremdende Naturvorgänge, die sie vor sich haben und an denen sie herumprobieren (etwa jene Schallverspätung): munter, unbefangen, intelligent, sachlich diszipliniert und in ihrer eigenen Sprache. Was die für Sachen sagen! ,Der (Schall) geht überall rum, nicht nur von mir zum Richard.' - ,Das zittert so kitzlich.' (Hand an der Trommel) - ,Und, wer hilft dem Schall, zu uns zu kommen?', fragt der wortkarge Lehrer. - ,Der Schall hat keine Augen, und deshalb fliegt er hin, er prallt so hin und braust so dran, wie der Wind im Kreis, und überall prallt er dran. Dem braucht niemand zu helfen, der fliegt so allein.' Zum ungeschmälerten Vergnügen an solchen springbrunnenhaften, unerwarteten Wendungen fehlt es Physikstudenten leider an ,Sprache' und Pädagogikstudenten an Physik, schön wär's, wenn Deutschlehrer und Physiklehrer sich an solchen Reden entzückt vereinigen könnten! Aber sie sind nicht so" [43]

Nachdenklich setzt er fort:

"Solche Hinweise auf das dringliche Bedürfnis der Kinder nach Verstehen wurden zwar von Grundschullehrern, aber nicht von Gymnasial-Physikern beachtet. Derartiges lag wohl unter ihrem Niveau. Sie suchten ihre Anfangsbedingungen ganz wo anders, indem sie etwa fragten: Welche mathematischen Kenntnisse müssen vorausgesetzt werden, bevor ein wissenschaftlicher Physik-Unterricht überhaupt einsetzen kann. - Ihre Didaktik fährt von oben herab. Sie bleiben angeseilt." [44]

Zum nachdrücklichen Verständnis des Wagenscheinschen Ansatzes muss noch auf seine Anmerkungen zum Genetischen Prinzip zurückgegriffen werden, dort steht:

"Wer so unterrichtet, kann zu hören bekommen: ,Aber Sie begünstigen ja emotionale Schüler-Äußerungen!' Ein solcher Einwand ist deshalb erstaunlich, weil wir es mit sachlichen Emotionen zu tun haben und weil gerade aus ihnen die physikalische Eingestimmtheit (oder Einstellung) langsam hervorgeht als ein Prozess fortschreitender Ernüchterung. Nichts tödlicher für den Physikunterricht als die Zwangsidee des Lehrers, es müsse die Stunde durchweg beherrscht sein von dem hölzernen Stelzen-Gang und Stelzenklang der ,exakten Sprache'. Was gelingen soll, ist ja anfangs noch nicht da. [...] zwei Zitate: Goethe (1801, an Steffen) äußert die Überzeugung, 'dass uns die Natur zum Denken auffordert.' Dieser Satz Goethes gilt der Motivation [...]. (Das) zweite Zitat spricht von der sachlichen Emotion: Marie Curie: 'Wir beobachten mit besonderer Freude, dass unsere an Radium angereicherten Produkte alle von selbst leuchteten. Es kam wohl vor, dass wir abends nach dem Nachtmahl nochmals hingingen, um einen Blick in unser Reich zu tun. Unsere kostbaren Produkte [...] lagen auf Tischen und Brettern verstreut; von allen Seiten sah man ihre schwach leuchtenden Umrisse, und diese Lichter, die im Dunkeln zu schweben schienen, waren uns ein immer neuer Anlass der Rührung und des Entzückens.' Sagen Sie nicht, dass sei nun doch ein nachträgliches, rein ästhetisches Erlebnis. Es ist ein unablösbarer Bestandteil des Entdeckungsprozesses, wie er in einem lebenden Menschen vorgeht, dagegen in einer isoliert angesprochenen und darum sterilen Intelligenz gar nicht möglich ist. Und das gilt auch für das freilich schwächere 'Wieder-Entdecken' im Unterricht." [45]

Wir (H. B ; M. S.) sind davon überzeugt, dass Martin Wagenschein in der Anfangszeit der Physik Züge von Humanität und Liebe zum Mitmenschen entdeckt, die den anderen nicht im Vorhinein als hohlköpfig, unreif und dumm sieht, sondern ihn in seiner Existenz und Würde anerkennt.

"Was Pascal schreibt, in den Abhandlungen über die 'Kunst zu überzeugen' da steht, dass man das, wovon man auch überzeugen wolle, man die Person achten muss, die man überzeugen will, dass man ihren Geist und ihr Herz kennen muss und wissen, welche Prinzipien sie anerkennt, welche Dinge sie liebt, sagt Pascal." [46]

Diese Anthropologie, die das Schaffen Martin Wagenscheins durchwaltet, greift das Urphänomen der Sachlichkeit und der Liebe zum Menschen und zu allem Seienden auf, wie das Zitat einer Feststellung von Max Picard zeigt:

"Das charakterisiert den Menschen von heute. Es findet keine Begegnung mehr statt zwischen ihm und dem Objekt, es ist kein Geschehnis mehr, ein Objekt vor sich zu haben, man hat es schon, ehe man danach gelangt hat, und es verlässt einen, ehe man es von sich entlässt [...], man kommt gar nicht zu den Objekten, sondern [...] sie werden einem geliefert. Es ist alles wie schon vor-geschehen [...]. Der Sinn einer Begegnung aber ist, dem Objekt, was vor einem ist, Zeit, und das heißt Liebe zu geben." [47]

Die Kinder im Auge sagt er an einer anderen Stelle: "Aber es soll gesagt sein, dass in ihnen wartet: die Lust zu lernen, die Bereitschaft zu üben, zur Selbstdisziplin, zur geistigen Zucht und der Wunsch, von uns Hilfe zu finden und Geleit, wo sie nicht weiter wissen" (sie sind, H. B.; M. S.) "im Sog der Sache, nicht weil sie aufgegeben ist. Die bildenden Begegnungen mit der geistigen Welt sind Anlässe, bei denen man lernt, diese Tugenden selber zu wollen als Mittel, um dahin zu kommen, wohin die Sache, die uns ergriffen hat und die wir ergreifen, uns zieht und erzieht. Das kennt jeder, der geistige Arbeit kennt. Das verkennt jeder, der meint, Kinder hätten zunächst mit dem Geist nichts zu tun. Glauben wir das, so verlieren wir in der Schule allmählich die Beziehung zum Geist sowohl wie zu den Kindern, was notwendig dasselbe ist, denn die Kinder sind im Geiste beheimatet." [48] (es) "zeigt sich die Unmöglichkeit, Kind und Sache zu trennen. Je mehr ein Lehrer angerührt wird vom kindlichen Suchen, desto geeigneter ist er, das gleiche bei den Kindern auszulösen [...] der Lehrer muss selber von der Sache wie von dem Kinde ergriffen sein." [49]

Lehrer sein heißt deshalb, der Lehrer muss "[...] Sinn haben für den werdenden, den erwachenden Geist und zugleich Sinn haben für das gewordene und werdende Fach" [50]

Was ist das pädagogische Ziel? Wagenschein will die Gruppe der Kinder zu einer Gemeinschaft von Forschenden machen, die an einer Frage planvoll zusammenarbeitet, er will die besonderen Kräfte jedes einzelnen Kindes ins Spiel bringen, unterschiedliche Wege zur Sache eröffnen und befördern, die kindlichen Interessen mit den grundlegenden Strukturen naturwissenschaftlichen Erfahrungssammelns vermitteln sowie die prinzipielle Offenheit der Kinder an Sachen und Sachverhalten unangetastet lassen und die kindlichen Interessen wachhalten. Er selbst verdichtet diese Absicht in die Forderung, die produktive Findigkeit der Kinder zu fördern.

Mit dem Zitat von Picard und den Verweisen auf den erwachenden Geist der Kinder und das Werden der Physik, ist der für Martin Wagenschein wichtige Begriff der Erfahrung angesprochen. Dabei ist die Art des Sammelns und Ordnens von Erfahrungen in der Physik spezifisch ausgeformt. Die anthropologische Grundlage und damit "Die Pädagogische Dimension der Physik" (1976) besteht nicht im Auswendiglernen von Fakten und Formeln oder in der unbedachten Anwendung von Methoden, sondern darin, dass man die Aspekthaftigkeit der Physik sieht und damit gewahr wird, dass sie eine bestimmte Sicht der Welt ist: Wagenschein fasst dies in seinem Aufsatz: "Verstehen lehren" wie folgt zusammen:

"[...] bedenkt man, dass wir Physik heute nicht mehr verstehen als die Lehre davon, wie die Natur 'eigentlich' ist sondern als eine Verstehens-Weise und einen aus ihr sich ergebenden Aspekt, der auf einem ganz bestimmten Verhörs-Reglement, einer Methode beruht, mit der die Natur uns erlaubt, sie auszufragen, erkennt man an, dass diese Methode Subjekt und Objekt erst erzeugt, indem sie den Menschen zu dem auf Logik versteiften 'Beobachter', Natur auf das grundsätzlich Messbare verengt, erkennt man dies alles an, so kann man keinen Unterricht bildend nennen, der nicht diese 'Trias' Subjekt - Methode Objekt immer vor sich sieht, ja, mit zum Gegenstand des Unterrichts macht. Er ist dann kein rein physikalischer Unterricht mehr und tatsächlich darf er das nicht allein sein, wenn er bilden will." [51]

Diese Gedanken, die einer wissenschaftstheoretischen Analyse entspringen, hat er in der Darstellung von Funktionszielen für den naturwissenschaftlichen Unterricht klar umrissen und mit dem Begriff der Erfahrung belegt. Die Schülerinnen und Schüler sollen:

"1. Erfahren, was in der exakten Naturwissenschaft heißt: eine erstaunliche Einzelerscheinung verstehen, erklären, eine Ursache finden.

2. Erfahren, wie man ein Experiment als eine Frage an die Natur ausdenkt, ausführt, auswertet und wie man daraus eine mathematische Funktion gewinnt.

3. Erfahren, wie ein Teilgebiet der Physik mit einem anderen in Verbindung tritt.

4. Erfahren, was in der Physik ein Modell ist.

5. Erfahren, wie schließlich der physikalische Forschungsweg selber zum Gegenstand der Betrachtung wird, einer wissenschaftstheoretischen Betrachtung.

6. An einigen Begriffsbildungen erfahren, wie die physikalische Art, Natur zu lichten, geistesgeschichtlich geworden ist.

7. Erfahren, was das technische Denken vom forschenden Denken unterscheidet.

8. Erfahren, wie ohne verfrühte Mathematisierung und ohne Modellvorstellung ein phänomenologischer und qualitativer Zusammenhang herzustellen ist, der das Grundgefüge der Physik gliedert."
[52]

Bedauerlicherweise ist die öffentliche Schule einen anderen Weg gegangen.[53] Das Paradigma der lernzielorientierten Didaktik mit seiner technokratischen Unterrichtsmodellierung stand dem anthropologisch fundierten Erfahrungsbegriff gegenüber und erhob das Monopol auf Wissenschaftlichkeit, weil es einen als stringent behaupteten Zweck-Zielverband zwischen weitgehend behaviouristisch formulierten "Fein- und Feinstlernzielen" vorstellte und offenkundig, wegen der leichten Kontrollierbarkeit und Zugänglichkeit für empirisch-analytische Forschung (beides gehorcht nicht erzieherischen Erwägungen) durchsetzte.

Inzwischen wissen wir es besser; dieses Paradigma taugt nur sehr bedingt. Die Pathologie, die es erzeugt, ist offenkundig. Wagenschein sieht:

"[...] wahnhafte Stoffhuberei, verwirrende Zeitzerstückelung, selbsttäuschende Quantifizierung schnell verfliegender Scheinleistungen. Damit: Zerstörung der ursprünglichen Lust am sachlichen Verstehen und gemeinschaftlicher Verständigung; statt dessen Erregung egoistischen Wettstreites." [54]

1923 begegnete Wagenschein dem Gründer und damaligen Leiter der Odenwaldschule, Paul Geheeb und bleibt für neun Jahre in diesem heute noch bestehenden Landschulheim in der Nähe von Heppenheim an der Bergstraße [55]. Den Begegnungen, der Arbeit und Atmosphäre damals in dieser Schule verdankt er viel, vielleicht das meiste:

"Nach meiner Entdeckung der Odenwaldschule und ihrer Durchwanderung kurz: nach meiner pädagogischen Erweckung, war der Zauber meiner Wissenschaften, der mich während meines Studiums ergriffen hatte (ohne dass ich ihm geradezu erlegen wäre), er war mir geblieben. Nur hatte ich dazugelernt, dass man besser an den Anfängen dieser Wissenschaften als an ihren heutigen Formen begreifen, und in den Schulen begreiflich machen kann, was sie im Grunde sind und tun." [56]

"Jedes Kind hat jeden Tag nur zwei, höchstens drei Fächer, immer dieselben für 4 bis 6 Wochen, in großer Intensität. Der Lehrer hat auch nur zwei Gruppen, auch die ganze Zeit. Also, das ist schon eine Erfahrung, die ein normaler Lehrer überhaupt nicht haben kann, wie das wirkt: an Intensität, an Tiefgang, an Eingang ins Unbewusste. (Originaltext des Interviews). 'Ein Gespräch: Nachts schlief ich mit zwei deutschen Studenten in demselben Raum und erzählte ihnen im Dunkeln stundenlang ,wie das war' in dieser Odenwaldschule. Ich hatte das Gefühl, dass sie bald vor Staunen aufrecht in ihren Betten saßen: Alle Schularten vom Kindergarten bis zum Abitur. - Keine Altersklassen (aber Fachgruppen), also keine Versetzungen und Sitzenbleiber. - Keine Strafen (aber Konsequenzen). Viel Freiheit (aber nicht 'wovon', sondern 'wozu'). - Keine Hausaufgaben (aber Handwerk, Musik, Sport, Gartenbau). - Niemals Angst und Wettbewerb und, nicht trotzdem, sondern deshalb, eine außergewöhnliche Arbeitsfreude und Intensität. Freiheit der Fächerwahl (aber beraten) während einer Kursperiode von 4 Wochen. - Keine Klingel, keine Kurzstunden, sondern: während dieser 4 Wochen hat jeder nur drei gewählte Fächer, jeden Tag dieselben. - Kein Abgeneigter musste, zum Beispiel Mathematik nehmen. Er ließ sie mit Lust liegen und wählte sie, meist, nach einem halben Jahr von selber: 'Es scheint ja doch ganz schön zu sein!' - Klar, dass 'Abschreiben' unter solchen Umständen sinnlos wird. - Selbstverständlich (aber 1910 revolutionär) Koedukation: Jungen und Mädchen, Große und Kleine, wohnten auf demselben Flur mit ihrem erwachsenen 'Familienoberhaupt'. - In der 'Schulgemeinde' aller, geleitet von einem frei gewählten älteren Jungen oder Mädchen, konnte jeder sagen, was er vermochte, und mitbestimmen. Die Schlafkumpane wollten es nicht glauben und glaubten es schließlich doch. Aber es waren nicht nur Gute-Nacht-Geschichten, was ich ihnen da erzählt hatte. Als sie wieder lagen, habe ich ihnen vermutlich auch noch so etwas gesagt: Gewiss lässt sich das nicht überall und schnell ,einführen'. Aber es genügt, um eine falsche Anthropologie des Kindes in Nichts aufzulösen, die behauptet, Kinder müssten zum Lernen gezwungen oder verführt werden [...]." [57]

Die Fragwürdigkeit der genannten Anthropologie, falls sie denn überhaupt eine ist, beweist Wagenschein am Beispiel in seinem Vortrag "Wesen und Unwesen der Schule" deutlich:

"Von sich aus aber will das Kind lernen, nichts als lernen. Ich sah vor kurzem ein knapp zweijähriges Kind, es war ein kleiner Italiener - Claudio - blond mit dunklen Augen. Wie es entdeckt hatte, dass ein dicker Ast, der in der Küche lag, sich in das Schwarz einer Herdöffnung, von der sich das Kind dunkel und drohend angeblickt fühlen mochte, sich da hineinstecken ließ. Das Kind tat es mehrmals und über sein kluges Gesicht lief das Wetterleuchten des Geistes. In der Tat war er dabei, die Geometrie zu entdecken - dieses Raumes versteht sich. Er wiederholte es langsam mehrmals und sah lächelnd und überwältigt auf die Erwachsenen: Das ist wichtig, zeigte mit dem Finger darauf und tat es nochmals. Er übte, er will üben, denken Sie! Und er setzte den Lehrgang systematisch fort. Nachdem es das mit dem Feuerloch ausgelernt hatte, ging es zu ähnlichen Problemen über zum Beispiel: wie man ein Fenster aufmacht, wie man einen Riegel schiebt und so etwas. Ein paar Tage später war er schon zur Physik übergegangen und stand schon bei der Gravitation, er hatte die Schwerkraft entdeckt. Und zwar war er weiter darin als wir, sie erstaunte ihn noch. Während wir das erst wieder lernen müssen. Er stand völlig in seinem Tun versunken auf einer mit Kies belegten Terrasse, er hockte sich nieder, nahm mit beiden Händen soviel Kiesel, wie sie fassen konnten, stand dann langsam auf, die Hände vor sich, die Handflächen nach oben, den Blick daraufgerichtet; dann der Blick auf uns, jetzt kommt es, und es kam. Er brauchte nur die Hände zu öffnen und die Steine fielen von selbst zur Erde ganz von selbst. Er wurde nicht müde, es zu wiederholen und jedesmal das kaum merkliche Lächeln zu uns: das Zeichen des Geistes: Siehst Du es, es geht immer! Er hatte die Regel entdeckt, das Naturgesetz. Dies alles mit Stille, Leidenschaft, Freude und einem unglaublichen Ernst. Sprechen konnte er kaum." [58]

An anderer Stelle führt Wagenschein die Analyse dieses Beispiels weiter: "Und zu sagen brauchte auch ich nichts. Ganz allein machte er die uralte Grunderfahrung, aus der schließlich einmal Naturwissenschaft hervorbrechen sollte: Ordnung, Wiederkehr, Voraussagbarkeit ist - unter Umständen - in unsere Hände gegeben. Bald wird Claudio nicht mehr staunen. Er wird sich gewöhnen. Es wird ihm selbstverständlich werden, dass man 'wohnen' kann in dieser Welt. Er wird nicht mehr fragen, nicht mit Blicken, nicht mit Worten: Warum fallen die Steine? Aber es kann sein, dass er nach vielen Jahren wieder dahin kommen wird, in ganz anderer Weise: Er wird vielleicht Physik gelernt haben: Sie beginnt zwar mit dem Verwundern über das Ungewöhnliche, aber sie gewinnt das Staunen über die gewohnte Ordnung zurück. Wir glauben, das lasse nach, wenn das Schulalter kommt, aber es ändert nur seine Form. Sehen Sie doch Knaben an in dem gesegneten Alter von elf Jahren, wenn sie den Schmied umstehen. Oder lesen wir bei Carlo Levy in seinem Buch: ,Christus kam nur bis nach Eboli', wie er von den Kindern erzählt, die damals in der Schule seines Verbannungsortes vernachlässigt wurden und nichts lernten. ,Sie sahen, wie ich schrieb, und fragten, ob ich es ihnen beibringen wolle. So gewöhnten sie sich aus eigenem Antrieb an, manchmal abends zum Schreiben in meine Küche zu kommen. Ein guter Lehrer hätte nirgends eine bessere von einem fast unglaublichen Eifer beseelte Schülerschaft finden können.' Sie sehen, es war ihm fast unglaublich. Er hatte auch etwas von dem Vorurteil in sich." [59]

Man kann sich die gesellschaftliche und die politische Bedeutung dieser Gedanken zu einer Pädagogik der Naturwissenschaften gut vorstellen: Galilei, den Wagenschein immer heranzieht, schreibt, so Herbert Pietschmann:

"Wenn man mich glauben machen möchte, dass die Babylonier Eier kochen, indem sie sie in einer Schlinge herumwirbelten, so will ich das glauben, aber ich muss betonen, dass die Ursache von dem entfernt liegt, was sie meinen: um die wirkliche Ursache herauszufinden, argumentiere ich folgendermaßen: Wenn eine Wirkung, die zu anderer Zeit gelungen ist, bei uns nicht eintritt, so folgt daraus mit Notwendigkeit, dass unserem Experiment etwas fehlt, was die Ursache für das Gelingen des früheren Versuches war. [...]. Nun fehlt es uns nicht an Eiern, auch nicht an Schlingen und an starken Burschen, die sie im Kreise herumschwingen können. Dennoch wollen die Eier nicht kochen, und wenn sie zuvor heiß waren, so kühlten sie umso schneller ab. Nichts fehlt uns als das Eine: Dass wir Babylonier sind; daraus folgt, dass die Tatsache, Babylonier zu sein, die Ursache der hartgekochten Eier ist und nicht die Reibung der Luft. Das ist, was ich beweisen wollte." [60]

Galilei geht hier ein wenig schelmisch zu Sache, wie die Argumentationsfigur erkennen lässt. Für ihn sind jedoch Erscheinungen, die intersubjektiv nicht wiederholbar sind, zuerst einmal nicht unglaubwürdig. Er verurteilt auch nicht denjenigen, der darüber berichtet, als Dummkopf oder Lügner, sondern erkennt lediglich, dass der andere nicht nach den Prinzipien seiner Wissenschaft vorgeht. Nur das und nicht mehr! Er lässt ihm die Freiheit der Meinung. Er eifert nicht, sondern hat Geduld zu warten, bis der andere seine Meinung auf Grund besserer Einsichten verändert. Bis er also "arm" wird an "Gelehrsamkeit".

Ich denke, dass die beiden folgenden Episoden aus dem Leben Galileis noch einmal nachdrücklich verdeutlichen, warum Wagenschein herausstellt, dass Kinder nur Selbstgedachtes im Unterricht sagen sollen und nicht dasjenige, was sie für richtig halten, wie sie es einmal gelernt haben:

Jean Pierre Maury berichtet: Es geht um das Problem warum Eis auf dem Wasser schwimmt: Aristoteles (383-322 v. Chr.) führte dieses Phänomen auf die Schollenform zurück, die das Wasser beim Gefrieren annimmt. Diese Form ist also die Ursache des Schwimmens vom Eis auf dem Wasser. Diese "Wahrheit" wurde ca. 2000 Jahre von den Naturphilosophen der Antike und des Mittelalters vertreten und als wissenschaftlich gesichert gelehrt, eben weil Aristoteles sie ausgesprochen hatte. Im September 1611 kommt es zum Disput zwischen Galilei und einigen Professoren der Universität Pisa, darunter der Rektor dieser Universität und einer der erbittertsten Feinde Galileis, der ein Buch verfasst hat, in dem Galilei als Schurke bezeichnet wird. Ganz in Anlehnung an Aristoteles und in typisch scholastischer Weise argumentieren diese beiden in Anwesenheit kirchlicher und weltlicher Würdenträger, dass die Schollenform das Eindringen des Eises verhindere und damit auch das Absinken auf den Grund. In einem ersten Gegenargument verweist Galilei, der sich mit den Fragen schwimmender und nicht schwimmender Körper und den Arbeiten von Archimedes (300 v. Chr.) auseinandergesetzt hat, dass eine Eisscholle, die man auf den Grund des Wassers gedrückt hat wieder an die Oberfläche kommt, sobald man sie loslässt - obgleich in diesem Falle der Widerstand des Wassers das Eis unter dem Wasser halten müsse. Die Frage des Schwimmens von Eis auf dem Wasser ist weder die Frage des Widerstandes noch der Form. Eine Kugel aus Eis schwimmt ebenso gut wie eine Scholle. Der Grund dafür besteht darin, dass Eis "leichter" sei als Wasser. Es erscheint daher notwendig die aristotelische Aufteilung von schweren und leichten Körpern in Frage zu stellen. Die Begriffe "schwer" und "leicht" sind relativ und haben nur in gegenseitiger Abhängigkeit eine Aussagekraft. Damit steht fest, dass die Wissenschaft der Professoren aus Pisa ohne Grundlage ist. Auf Wunsch des Großherzogs Cosimo erscheint aus der Feder Galileis ein Buch unter dem Titel "Diskurs über Dinge, die auf dem Wasser schwimmen oder sich im Wasser bewegen". Dies ungewöhnliche Buch, in italienischer Sprache geschrieben, nennt eine Reihe einfacher Experimente und nimmt die Argumente der Gegner vorweg und entkräftet sie. [61]

Ein anderes Beispiel stellt die Auseinandersetzung Galileis mit dem Fallgesetz des Aristoteles dar: 2000 Jahre hatte sich diese Überzeugung als "wissenschaftliche Aussage" durchgehalten, dass ein schwerer Körper schneller falle als ein leichter, wobei Aristoteles davon ausging, dass es sich um Körper gleicher Dichte handle. A. Rupert Hall gibt das kunstvolle Gespräch, das für die galileischen discorsi so typisch ist, bezogen auf die nahezu gleichmäßige Beschleunigung fallender dichter Körper wie folgt wieder:

"Angenommen, Aristoteles hätte recht: Binde einen leichten Stein (Fallgeschwindigkeit 4) an einen schweren Stein (Fallgeschwindigkeit 8). Welches wird die Fallgeschwindigkeit der beiden zusammen sein? Binden wir den größeren Stein zunächst über den kleineren: dann müsste der größere so verlangsamt werden, wie er den kleineren schieben muss, dass die Geschwindigkeit der ganzen Masse geringer als 8 wäre. Aber die beiden Steine sind schwerer als jeder für sich und müssten deshalb rascher als in der Geschwindigkeit 8 fallen. Jetzt binden wir den kleinen Stein auf den größeren; genau das gleiche geschieht, wie der kleine nicht auf den großen drücken kann, der (nach der Hypothese des Aristoteles, M. S.) dazu neigt, rascher zu fallen. Das ist widersinnig. Die einzige Lösung ist die, zuzugeben, dass der große und der kleine (bei gleicher Dichte) mit gleicher Geschwindigkeit fallen." [62]

Mit anderen Worten heißt das: Die Fallzeit der vereinigten Körper müsste zwischen den beiden Zeiten liegen, in denen sie getrennt herunterfallen und dies obgleich die Gesamtmasse und damit das Gewicht des Steinverbundes größer ist also schneller fallen müsste nach Aristoteles. Das ist miteinander unvereinbar.

Einstein sieht das Leitmotiv von Galileis Schaffen in dem leidenschaftlichen Kampf gegen jeden sich auf Autorität stützenden Glauben. Seine Kriterien für die Wahrheit sind Erfahrungen, die sorgfältige Überlegung und die intersubjektive Nachprüfbarkeit einer wissenschaftlichen Aussage. Galileis Einstellung ist äußerst revolutionär in einer Zeit, in der der Zweifel an Wahrheiten, die sich nur auf bloße Autorität stützten, als todeswürdiges Verbrechen bestraft wurde.

Es wird deutlich, warum der Lehrer Wagenschein Kindern Ergebnisse der Wissenschaften nie als Glaubensinhalte vermittelt. Solches Vorgehen zerstört die spezifische Leistungsfähigkeit der naturwissenschaftlichen Erfahrung und der sorgfältigen, selbst angestellten eigenen Überlegung und damit zugleich auch die Autonomie der Person, dass sie nicht zu irgendwelchen Zwecken (Kant), sei auch zu Zwecken der Belehrung, instrumentalisiert werden darf. Die pädagogische Dimension und der anthropologische Sinn sowie die emanzipatorische Kraft der Erfahrungswissenschaft Physik wären im Unterricht verspielt. Wissenschaftsverständiges Lernen als soziales Geschehen in der Achtung der Sache und der Anerkennung der Person des anderen ist also notwendig. Vor-Galileische Wissenschaft, die sich in scholastischer Manier auf Autoritäten und eben nicht auf die eigene, kritisch durchdachte Erfahrung und den freien Austausch in der Forschergemeinschaft beruft, darf es also im Unterricht nicht geben.

Zur Explikation des wichtigen Grundsatzes - des sozialen Geschehens greife ich auf das Buch von Michel Serres zur Geschichte der Wissenschaften [63] zurück und stelle die Methode dar, die bei der Entstehung des Buches benutzt wurde. Diese Methode kommt den Vorstellungen Wagenscheins zum kommunikativen Prozess wissenschaftlichen Handelns sehr nahe.

Auf der Basis einer gemeinsam erarbeiteten Konzeption legten elf französische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sich die ersten Versionen ihrer Texte zu Elementen der Wissenschaftsgeschichte vor und traten in einen Gedankenaustausch darüber ein. Die Texte wurden jeweils von zehn weiteren Personen bearbeitet, die keine Experten des Faches sind, dem der Text zugeordnet werden kann. Danach unterwarfen die Autoren ihre Texte der studentischen Kritik. Die Texte wurden danach noch einmal überarbeitet und Studenten des darauffolgenden Studienjahres zur Diskussion gestellt. So wurden Verständnisschwierigkeiten und Darlegungslücken erkannt und beseitigt.

Das Vorgehen der Wissenschaftler gleicht einem "öffentlichen Rechtshandel", der zu einer bedeutsamen Definition des Begriffs der Wissenschaft führt. "Wissenschaft", so heißt es, "ist jene Rechtsinstanz, bei der Streitsachen und umstrittene Sachen manchmal so eng benachbart sind, dass sie sich decken, bei der also Entscheidung in nächster Nähe zum Kollektiven und Objektiven fällt." [64]

Streitsachen verlangen also im weitesten Sinne einen öffentlichen Handel. Wir wissen, dass das deutsche Wort "Sache" seine Entsprechung im lateinischen "res" findet, das ebenfalls die "Rechtssache" meint. Unterricht könnte demzufolge als das Verhandeln von Sachen durch die Kinder gesehen werden. Die Verknüpfung von Sozial- und Sachlernen oder die Vermittlung von Individualität, Sach- und Sozialerfahrungen ist also nicht nur konstitutiv für den Sachunterricht sondern anthropologisch gesehen, eine Notwendigkeit. [65]

Es erscheint möglich, zwei Dimensionen des kindlichen Handelns zu unterscheiden: die intrapersonale und die interpersonale Dimension:

Zur ersten, der intrapersonalen Dimension, die die innere Geistesverfassung eines Menschen betrifft: Derjenige, der sich mit Sachen und Sachverhalten auseinandersetzt, bemüht sich bewusst um ein ordentliches, das heißt, um ein kognitiv wie emotional befriedigendes Verhältnis zu ihnen. Er will die Sache, den Sach- oder den Sozialverhalt verstehen. In der Sache ist er redlich und treu und leistet eine subjektive Sinnkonstruktion, mit deren Hilfe er sich in einem als "recht" und "richtig" empfundenen Bezug zur Sache wiederfindet, ohne diese dabei bewusst zu verfälschen. Auf diese Weise konstruiert der Mensch ganz im Sinne der Autopoiesis sein Wissen selbst. Solche Erkenntnisse und Erkenntnisvollzüge belegen wir zunächst mit Adjektiven wie "subjektiv, erlebnisbezogen, intuitiv und spontan". [66]

Zur zweiten, der interpersonalen Dimension, die die gemeinsame Teilhabe mehrerer Menschen an den Sachen und Sachverhalten betrifft, kann gesagt werden: Alle Beteiligten legen sich gegenseitig ihre subjektive Sinnkonstruktion dar und versuchen, sie so zu begründen, dass sich möglichst alle ihr anschließen können. Dies geschieht in der Verantwortung den anderen Beteiligten gegenüber: Ich kann meinen Gesprächspartnern Unrichtiges, Ungeprüftes sowie Unverständliches nicht zumuten. Der gemeinsame Diskurs leistet bei der Klärung der Sache eine intersubjektive Sinnkonstruktion, die von den Beteiligten als sachangemessen akzeptiert wird. Der Prozess verläuft reflexiv; er führt auch zur Verbesserung der Beziehung eines jeden Beteiligten zur Sache. Jetzt allerdings auf einer Ebene, die nicht mehr der Selbstkritik allein, sondern der intersubjektiven Bewertung und der Kritik folgt. Die Mitglieder der Gruppe streben lückenloses Verstehen an. Sie gehen über die unmittelbar am Geschehen Beteiligten hinaus in die Öffentlichkeit. "Wissenschaft" ist ja die Rechtsinstanz, in der die Entscheidungen in der Nähe zum Kollektiven und Objektiven gefällt werden. Das Intersubjektive ist also das, was als das "Gemeinsame und von allen Geteilte", "das zwischen den Subjekten Stehende", das in der sachlich redlichen und sozial verantwortlichen Auseinandersetzung der Forschergruppe und in der Diskussion mit der Öffentlichkeit entstanden ist.

Helmut Schreier [67] hat in einer Auseinandersetzung um den Begriff der Erfahrung herausgestellt, dass die bedeutsamste Hypothese Deweys die Demokratisierung der Gesellschaft durch das Schulwesen war, die er seinerzeit durch Arbeiten an einer Laborschule zu überprüfen suchte.

"Kann die Schule zu einem Instrument der Demokratie werden?

lautete die zentrale Frage,"
schreibt Schreier und betont, dass man diese Frage nicht verstehen kann, ohne den Demokratie-Begriff der Erfahrungs-Philosophie zu beachten.

"Demokratie ist [...] die Ordnung der gesellschaftlichen Verhältnisse, die es möglichst vielen Menschen gestattet, ihre Fähigkeiten zu entfalten. [...] eine Gesellschaft, die dies gestattet, nennt Dewey eine Demokratie. Um sie herbeizuführen, braucht man eine Schule, die derartige Verhältnisse vorwegnimmt und schon praktiziert. Es ist eine Schule, in der das gefördert wird, was der in ihm angelegte, aus ihm herausdrängende einmalige, besondere Beitrag jedes Kindes zur Gemeinschaft ist."

Diese Schule hebt insbesondere auf die Unterschiedlichkeit und Individualität eines jeden Individuums ab. Sie will also die subjektiven Sinnkonstruktionen eines jeden Kindes haben. Jedes Kind wird darin eindringlich bestärkt, Eigenes zu denken und zu sagen. Schreier formuliert einige Kriterien als Fragen, mit deren Hilfe es möglich scheint, die Lehr- und Lernplanungen sowie deren Umsetzung in die unterrichtliche Praxis zu kontrollieren.

"- wie weit ist es gelungen, die Gruppe der Kinder zu einer Gemeinschaft von Forschenden werden zu lassen, die planvoll zusammenarbeitet?

- Wie weit ist es gelungen, die besonderen Kräfte eines einzelnen Kindes ins Spiel zu bringen?

- Wie weit ist es gelungen, die spontanen Interessen der Kinder mit den wesentlichen Strukturen des gesellschaftlichen Erfahrungsprozesses zu vermitteln?

- Wie weit ist es gelungen, Interessen an Sachverhalten zu wecken, die weiter wirksam bleiben werden?"


Ich denke, dass sowohl die Kriterien als auch die Gestaltungsmerkmale für Lernsituationen in die von Helmut Schreier angestrebte Richtung zielen, denn die subjektive Sinnkonstruktion ist ja Beitrag zur Gemeinschaft, den die Mitglieder dann im Diskurs oder im gemeinsamen Handeln zur intersubjektiven Sinnkonstruktion weiterentwickeln. Die Einmaligkeit des Beitrages eines jeden Kindes bleibt zudem auch gewahrt. Analysiert man weiterhin die Beispiele sowie die von mir vorgelegten Interpretationen im Hinblick auf die Verknüpfung von Sach- und Soziallernen als konstitutives Element des Sachunterrichts, dann stellt man fest, dass sie wesentlichen Forderungen Martin Wagenscheins nach dem wissenschaftsverständigen Lernen entsprechen. Wissenschaftsverständiges Lernen bedeutet für ihn soziale Prozesse oder Formen des Zusammenlebens von Lehrern und Kindern, in denen jedes Gruppenmitglied alles zur Sache beitragen kann, wenn es sichert, dass jedes Gruppenmitglied das Gesagte versteht oder das Gemachte nachvollziehen kann. Subjektive Sinnkonstruktionen sind also ausdrücklich gewünscht. Die Fachsprache wird so die Forderung Wagenscheins nicht im Vorhinein akzeptiert, die ist ja bereits Objektivation der Wissenschaft, die das Kind noch nicht kennt.

Intersubjektive Sinnkonstruktionen wie Begriffe, Handlungen und Methoden entspringen dem Diskurs und dem gemeinsamen Suchen nach Antworten auf Fragen. In dieses soziale Geschehen ist auch der Lehrer verflochten. Er muss sich jedoch "ganz arm" machen, auf Belehrungen weitestgehend verzichten. Der Lehrer muss den Gesprächen der Kinder Gehör schenken, um vernehmen zu können, "was sie für Sachen sagen" [68] Will man das Zusammenleben von Kindern, Lehrerinnen und Lehrern kultivieren, muss man das Fragerecht der Kinder akzeptieren. Eine Frage stellen aber kann man nur dann, wenn der Pozess des "Sich-in-Beziehung-Setzens" zu einer Sache schon ein Stück gediehen ist, wenn die subjektive Sinnkonstruktion also eine gewisse Gestalt gewonnen hat und die Beziehung des Kindes zur Sache eine erste Ordnung erfahren, keinesfalls aber schon als recht und richtig erfahren hat. Ich denke auch, dass die Schülerleistungen auch den Zieldimensionen des exemplarisch-genetischen und sokratischen Lehrens und Lernens, so wie Wagenschein es konzipiert hat, entsprechen.

Wagenschein begreift das Verstehen des Verstehbaren als grundlegendes Menschenrecht. Wissenschaftsverständiges Lernen ist für ihn, wie bereits herausgearbeitet wurde, soziales Geschehen, ohne Herrschaftsgefälle zwischen Lehrern und Schülern, es ist gemeinsames Ringen um die Sache. Man muss ein wenig innehalten, um den Charme des Ansatzes zu würdigen; (Natur-) Wissenschaftliche Aussagen und Hypothesen, die ohne soziale Bezüge zu existieren scheinen, deren Hauptmerkmale Objektivität, Personenunabhängigkeit, Kontextneutralität, räumliche Unabhängigkeit und Überzeitlichkeit sind, verdanken ihr Dasein dem intellektuellen Ringen der Menschen um Sachen, also einem sozialen Geschehen, sie haben also ein kommunikatives Fundament.

Die alte Odenwaldschule also war der Ort, an dem Martin Wagenschein gelernt hat, Lehrer zu sein. Als ihm der hessische Kultusminister im Jahre 1953 anbot, die Leitung des entstehenden großen "Schuldorfes Bergstraße" zu übernehmen, schrieb er ihm zurück:

"Ich sehe [...], dass ich einen ganz bestimmten Auftrag habe. Er kommt unmittelbar aus dem praktischen Unterricht, und zwar aus dem physikalischen. Sein Ziel ist aber nicht fachlich im engeren Sinne. Er gilt der Humanisierung der mathematischen Naturwissenschaft, ihrer In-Eins-Setzung mit den künstlerischen und religiösen Grundkräften des Menschen." [69]

In seinem Interview mit Hildegard Bußmann sagt Wagenschein:

"Ich glaube nicht, dass das was besonderes ist, was ich mache, die sogenannte Reformpädagogik, die war ja doch international da. Die kam ja von unten hoch, nicht von oben. Die Odenwaldschule hat am meisten von denen den Unterricht ernst genommen. In die Staatsschule ist es nicht eingedrungen. Weil die Staatsschule damals genau so schlecht war wie heute. In der Physik war es um 1900 ganz gut. Dann macht sie Fortschritte ungeheurer Art, und dann hat der Fortschritt den Physikunterricht umgebracht durch den Ehrgeiz der Lehrer, die bedrängt wurden von den Interessengruppen, die also von der Technik her Nachwuchs brauchten. Auch die Physiker selbst sind mit Schuld, dass sie all diese neuen Dinge in die Schule reingesteckt haben. Also insbesondere der Physik-Unterricht hatte ja die Mühe, um 1900 anerkannt zu werden, ebenbürtig neben den humanistischen Fächern. Er hat also von vorneherein ein Ressentiment gehabt, hat er immer gehabt: Daher ist er immer so triumphal aufgetreten und hat sich um Pädagogik nicht gekümmert." [70]

In seiner pädagogischen Biographie spricht er von einer pädagogischen Unschuld der Fach-Wissenschaften: "Es ging um den Anspruch des Fachphysikers, den wissenschaftlichen und den Lehrernachwuchs allein zu verantworten, eine didaktische Beratung allenfalls duldend. Mir dagegen geht es nicht um die Rekrutierung künftiger Physiker, sondern um die ernsthafte Wissenschaftsverständigkeit aller Bürger und deshalb um die Genetisierung des Physikstudiums der Lehrer." [71]

Auch die traditionelle Höhere Schule hat Wagenschein als Lehrer erlebt, freilich erst, nachdem er an Paul und Edith Geheebs Odenwaldschule die Freiheit des Lernens und Unterrichtens erfahren und deshalb Sicherheit gewonnen hatte.

"Was mich vor einem Jahrzehnt leiden machte, sah ich jetzt als eine selber leidende, von 'Täuschung und Selbsttäuschung' [...], Anspruch und Verdrängung geplagte und plagende Institution: die traditionelle Höhere Schule. Anders als 1923 fühlte ich mich geschützt vor Depressionen durch die absolute Gewissheit, die keiner meiner Kollegen inzwischen hatte gewinnen können: dass es eine ganz andere, freie pädagogische Wirklichkeit durchaus noch gab, in der Welt draußen, verschlossen zwar, wer weiß wie lang, doch unvergänglich. Meine jetzige Umgebung konnte mir deshalb pädagogisch nicht viel anhaben. Ich konnte deshalb sogar etwas aus jener anderen Welt mitbringen. Die Kinder waren auch hier dieselben. Man kann schon sehr viel tun, wenn man auch nur, sozusagen als Sanitäter, den Opfern eines zweifelhaften Schulsystems beisteht, nicht als Anführer. Das sage ich auch heute, 1979, Lehrer-Studenten, die vor der Schulwirklichkeit zurückschrecken. Allmählich lernte ich, meine in der Odenwaldschule in aller Freiheit erprobte Lehrhaltung, die exemplarisch-genetisch-sokratische (die Worte kannte ich so noch nicht) einzumischen, ab und zu. Das konnte so geschehen, dass ich in einer vertrauten Klasse eine Zeitlang, in diesem Sinne ,vernünftig' lehrte, also gegen den Strich: bei der Sache bleibend, intensiv, und sie im Gespräch durch die Schüler selbst klären lassend, nicht achtend ein ,Ziel der Stunde' (,Sie gehen ja nicht weiter, Herr Kollege, immer noch das Fallgesetz?'), um dann wieder, vom Ergebnis getragen, gewisse andere 'Stoff'-Partien zu dosieren, soweit ich so etwas fertig brachte [...]. In meiner freien Zeit zog ich den Kopf ein und schrieb mein erstes Buch: 'Zusammenhänge der Naturkräfte' (1937, Friedr. Vieweg & Sohn, Braunschweig). Untertitel: ,Das Gefüge des physikalischen Naturbildes',. Offenbar ein Versuch, das System der Physik rein phänomenologisch, unmathematisch und streng allgemeinverständlich zu entwerfen." [72]

Otto Friedrich Bollnow, der Naturwissenschaftler war, bevor er zum Pädagogen und Philosophen wurde, hat in einer Besprechung Wagenscheins charakteristischen Ansatz der Beschäftigung mit Physik herausgestellt:

"Wagenschein verzichtet bewusst auf alles, was die sog. moderne Physik ausmacht, insbesondere auf die ganze atomare Welt. Er hält sich ganz an die aus dem Alltagsleben vertraute Welt des ,Offenbaren', des Sichtbaren, Hörbaren, Fühlbaren, und macht in dieser Welt den Zusammenhang zwischen den einzelnen Naturerscheinungen deutlich. Er vereinfacht dabei aufs äußerste, verzichtet auf alles nur irgendwie Entbehrliche, aber dafür wird jetzt zwischen den so gebliebenen einfachsten Erscheinungen der physikalische Zusammenhang in letzter strenger Folgerichtigkeit aufgebaut, so dass man bei jedem einzelnen Schritt einsieht, dass er notwendig ist und nicht anders sein kann." [73]

Ein Beispiel aus der vertrauten Welt des "Offenbaren": Warum fliegt der Stein weiter, wenn die Hand ihn loslässt statt sogleich der Schwerkraft folgend auf den Boden zu fallen?

"Aristoteles hat gesagt, wenn das Ding sich weiterbewegt, dann muss auch etwas dasein, was schiebt. Was schiebt denn da? Da bleibt doch nur noch die Luft? - Also muss die Luft es sein. Nun kann man ein Experiment machen, wenn keine Luft ist: Woraus folgt, dass Newton die Sache nur lösen konnte, als schon die Luftpumpe da war. Und dann merkt man, wenn keine Luft da ist, geht das nicht schlechter, sondern besser. Dann kommt etwas sehr Merkwürdiges - das muss alles sehr langsam gehen: Nicht dass der Satz von Aristoteles falsch ist Was sich bewegt, das wird geschoben sondern: ,Was in Bewegung gebracht wird und sich selbst überlassen wird, das macht weiter!' - Fragt einer: Warum? Antwort: Weiß man nicht!" [74]

Auch der Psychologe Wolfgang Metzger hat über Martin Wagenscheins Konzeption naturwissenschaftlichen Unterrichts geschrieben - unter der Überschrift: "Begegnung mit der Wahrheit". Dort heißt es:

"Äußerer Anlass seiner Erwägungen: Es ist sinnlos, der überhand nehmenden Fülle der Erkenntnisse dadurch Herr werden zu wollen, dass man immer mehr in das Schulprogramm hineinstopft, oder - wie es eine mächtige und einflussreiche Gruppe von 'fortschrittlichen' mathematischen und physikalischen Didaktikern vorschlägt - beim siebten Stockwerk in die Luft zu bauen anfängt, um bis Schulschluss noch beim Dach anzulangen. Die Lösung des Problems besteht nach Wagenschein vielmehr in einer entschlossenen Umkehr. Von einer Schule, die ihre Schüler ,Ergebnisse der Wissenschaft' - auch methodische, begriffliche, terminologische Ergebnisse - lernen lässt, die also Nachrichtenübermittlung und sogar Suggestion betreibt, - zu einer Schule, die den Schüler zweifeln, fragen und suchen lehrt; die, von der natürlichen Wissbegier jedes gesunden Kindes ausgehend, an herausgegriffenen , besonders fruchtbaren und vielseitig 'aufschluss'reichen Beispielen durch Selberfinden Einsicht in die Art und Weise vermittelt, wie wissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen, gesichert, verschärft wurden und werden; die zugleich Einsicht gewährt in den Unterschied zwischen Entdeckung und Erfindung, zwischen Geschaffenem und Gemachtem, in das Wunder der Berechenbarkeit natürlicher Zusammenhänge; die einen Begriff davon vermitteln, was es heißt, ,etwas zu verstehen', und ein Wissen um die Begrenztheit, um den Aspekt-Charakter physikalischer Naturerfassung. Der so vorgebildete Schüler hat zwar nicht ,vorausgelernt', was er später vielleicht an Kenntnissen braucht. Aber er ist vorbereitet, alles, was er später an besonderen Kenntnissen benötigt, müheloser und in viel wissenderer Weise sich anzueignen; und vor allem wird er, was er auch anfängt, nicht mehr bereit sein, sich mit unverstandenen Rezepten zu begnügen, sondern wird versuchen, so weit wie möglich einzudringen. Er wird, im besten Sinne des Wortes, gebildet sein." [75]

Martin Wagenschein spricht von seiner exemplarisch-genetisch-sokratischen Lehrhaltung,

"Exemplarisch" das meint ein Lernen und Verstehen anhand von wenigen, möglichst anschaulichen Gegenständen, an denen sich der Prozess naturwissenschaftlichen Fragens und Erkennens besonders tiefgründig entfalten lässt - und doch immer deutlich bleibt, dass der naturwissenschaftliche Blick auf die Phänomene der Natur notwendig eine Reduktion, eine Verengung bedeutet. Die Physik kann den Mond - eines von Wagenscheins Lieblingsthemen - nur physikalisch erfassen. Deshalb verliert er bei diesem Physiker und Pädagogen nicht seine Poesie, wenn man mit seiner Hilfe seinen Regeln endlich auf die Schliche kommt.

Mit dem Begriff des "genetischen" Lehrens und Lernens verbindet sich bei Wagenschein ein Doppeltes: Mit wachem, aber sozusagen leerem Kopf sich Einsichten schrittweise, von den Anfängen einfachster Beobachtung her, zu erarbeiten und so im eigenen Erleben nachzuvollziehen, was in der Entwicklung der Wissenschaftsgeschichte seit der Antike an Vermutungen, Irrtümern, Erkenntnissen beim Versuch geschehen ist, die Natur zu erkennen und zu verstehen; zum genetischen Lernen gehört also der Rückgriff in die Entstehungsgeschichte unseres Wissens auf dem Gebiet der Physik, das ja als eine systematische Summe individueller Erkenntnisschritte herangewachsen ist. Das oben dargestellte Beispiel Galileo Galileis: "Gleichsam unsichere Helligkeit" der Mondsichel und die Deutung des Textes durch Martin Wagenschein zeigte das sehr deutlich.

Was er schließlich die "sokratische Lehrhaltung" nennt - den freien und verantwortungsbewussten Austausch zwischen Menschen, die sich um Erkenntnis bemühen, darüber hörten wir Martin Wagenschein sprechen, als er von seinen Seminaren in Darmstadt erzählte. Er hat dieses Lernen als wissenschaftsverständiges Lernen charakterisiert, das Sachlichkeit und soziale Verantwortung zusammenhält und die gängige Dichotomie von Sachlernen und Soziallernen überwindet.

Für diese Methode hat er viel Anerkennung gefunden und noch mehr Gegnerschaft: Bedeutende Physiker wie Max Planck oder Carl Friedrich von Weizsäcker, namhafte Pädagogen wie Herman Nohl, Bollnow, Hartmut von Hentig und Andreas Flitner haben ihm gedankt und ihn zur Fortsetzung seiner Arbeit ermutigt. Dort, wo man sein Denken und Handeln so dringend gebraucht hätte - in unseren Schulen - waren die Kräfte der Beharrung auf Dauer stärker als das, was Martin Wagenschein mit Büchern und Aufsätzen, mit Vorträgen und Seminaren zu vermitteln gesucht hat. So ist seine schöne und lehrreiche "pädagogische Autobiographie", so sind seine "Erinnerungen für Morgen" wohl wirklich erst für morgen. Aber das ist sehr bald!

"Man sollte, wenn man nach 20 Jahren einen alten Schüler trifft, nicht nachfragen, 'wie man denn war'. [...] Macht man doch einmal ein in dieser Richtung fragendes Gesicht, so kann man allerdings Überraschendes zu hören bekommen:

So, als ich Herrn S. wiedertraf (unvergessen durch seine Fähigkeit, ohne zu mucksen elektrische Schläge zu ertragen, die andere aufschreien ließen) reagierte er: ,Ja, etwas ist uns allen in Erinnerung geblieben.' (Ich spitzte die Ohren und hoffte auf ein glanzvolles Experiment oder gar ein blitzartiges Verstehen.) ,Das war, als sie die Geschichte mit dem Kugelblitz erzählten.' - ,Kugel-Blitz?' - ,Wie Sie den alten Diener vormachten, wie der die Flügeltüren weit öffnet, von dem Gartenzimmer, wo die feinen Herrschaften speisen - und draußen ist Gewitter - und wie er dann mit einer Verbeugung meldet: Der Kugelblitz! - und WIE der dann so hereinschwebt!' [...] Die seltsamste dieser Wieder-Begegnungen war die letzte, die der längsten Spannweite [...]: Gerade fünfundachtzig geworden geh' ich die breite Wilhelminenstraße hinunter, da stellt mich ein alter Herr - noch nie gesehen mit festem Blick, umarmt mich mit Klammergriff, Brust an Brust und Auge in Auge - raunt: , W a - g e n - s c h e i n - Sie haben mich für die PHYSIK BEGEISTERT! Und dann bin ich Oberstudienrat für Physik geworden [...] vor zehn Jahren pensioniert [...] jetzt bin ich 75 [...].' Und erzählte noch manches aus seinem Leben, fünf Minuten nicht nachlassend im eisernen Griff."
[76]

Ist der Ansatz Martin Wagenscheins geschichtlich überholt? Keineswegs. Die zahlreichen Bezüge der Wagenscheinschen zu Vorstellungen heutiger Vertreter der Pädagogik zeigen dies unmissverständlich. In dem vielzitierten Buch des amerikanischen Psychologen und Bildungstheoretikers Howard Gardner "Der ungeschulte Kopf, Wie Kinder denken" stehen Aussagen wie: "Ich betone [...], dass ich keine esoterische Bedeutung im Sinn habe, wenn ich mich für eine Pädagogik ausspreche, die auf Verstehen abzielt [...]. Fast jeder Lehrer, den ich kenne, würde behaupten, dass er mit dem Ziel unterrichtet, dass die Schüler verstehen lernen. Gewiss würde auch ich selbst diese Behauptung aufstellen. Müssten wir aber nachweisen, dass unsere Schüler eine Sache verstehen - oder auch nur, dass wir selbst ein überzeugendes Verständnis besitzen -, würden wir bald erkennen, wie zart das Pflänzchen unseres Zutrauens ist [...]. Ich lege [...] überwältigende Belege dafür vor, dass das Verständnis von Schülern in allen Fächern begrenzt ist [...] . Wenn wir, die wir uns mit der Erziehung beschäftigen, diesen Kernpunkt des Problems angehen wollen, müssen wir ihn direkt angehen: Lehrer, erziehe dich selbst! [77] Dies kann man aber mit den Schriften und den Ideen Wagenscheins sowie durch den Vergleich der eigenen pädagogischen Praxis mit ihnen gut beginnen.

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Fußnoten:

<- [1] Stengers, I. 1994: Die doppelsinnige Affinität: Der newtonsche Traum der Chemie im achtzehnten Jahrhundert, in: Serres, M. (Hrsg.) 1994: Elemente einer Geschichte der Wissenschaften, Frankfurt a. M. 1994, S. 527-568

<- [2] Wagenschein, M. 1990/1973: Kinder auf dem Wege zur Physik, Weinheim, Basel 1990/73, S. 67

<- [3] Wagenschein, M. 1971: Die pädagogische Dimension der Physik, Braunschweig 1971, S. 79

<- [4] Auf das Verhältnis von individueller Sinnkonstruktion und intersubjektiver Gültigkeit von Kinderaussagen wird später eingegangen werden.

<- [5] Piaget, 1 1981: Urteil und Denkprozess des Kindes, Frankfurt, Berlin, Wien 1981, S. 204

<- [6] Knoll, K. 1971: Didaktik des Physikunterrichts, München 1971, S. 92

<- [7] Wagenschein, M. 1983/1989: Erinnerungen für Morgen, Eine pädagogische Autobiographie, Weinheim, Basel 1983, 2. Aufl. 1989, S. 103

<- [8] Wagenschein, M. 1955 (Vortrag): "Wesen und Unwesen der Schule", Vortrag am 29.10.1955 im Süddeutschen Rundfunk, Verschriftlichung des Vortrages liegt uns (H. B.; M. S.) vor

<- [9] Aebli, H. 1980/1981: Denken - Das Ordnen des Tuns, Bd. I 1980, Bd. II 1981 Stuttgart, Bd. II, S. 88

<- [10] Wagenschein, M. 1968: Verstehen lehren, Weinheim 1968, S. 15

<- [11] Wagenschein, M. 1968: Verstehen lehren, Weinheim 1968, S. 15

<- [12] Wagenschein, M. 1990/1973: Kinder auf dem Wege zur Physik, Weinheim, Basel 1990/73, S. 83

<- [13] Fatke, R. 1985: Phänomene des Kinderlebens, in: Zeitschrift für Pädagogik, 31, 1985, S. 698

<- [14] Wagenschein, M. 1990/1973: Kinder auf dem Wege zur Physik, Weinheim, Basel 1990/73, S. 13

<- [15] Wagenschein, M. 1971: Die pädagogische Dimension der Physik, Braunschweig 1971, S. 206

<- [16] Bruner, J. S. 1971: Über kognitive Entwicklung, in: Bruner, J. S., u. a.: Studien zur kognitiven Entwicklung, Stuttgart 1971, S. 18 u. 21-96

<- [17] Köhnlein, W. 1986: Kinderfragen als Ansatzpunkte des Naturverstehens, in: physica didactica 1986, S. 69-86

<- [18] Bruner, J. S. 1973: Der Prozess der Erziehung, Sprache und Lernen, Internationale Studien zur pädagogischen Anthropologie, Bd. 4, Berlin, Düsseldorf 1970, 2. Aufl. 1973, S. 18

<- [19] vgl. hierzu Spreckelsen, K. 1973: Physik/Chemie: Basiskonzepte in: Katzenberger, L. F. (Hrsg.) 1973: Der Sachunterricht der Grundschule in Theorie und Praxis, Ein Handbuch für Studierende und Lehrer, Teil II, Ansbach 1973, S. 276

<- [20] Für Wagenschein sind solche Grundideen: die Suche nach der Wiederholbarkeit, nach Erhaltung und die Versuche der Reduktion des Vielerlei auf weniges Selbstverständliches. Wagenschein, M. 1973/90: Kinder auf dem Wege zur Physik, Weinheim, Basel 1990, S.13
Bruner, J. S. 1973: Der Prozess der Erziehung, Sprache und Lernen, Internationale Studien zur pädagogischen Anthropologie, Bd. 4, Berlin, Düsseldorf 1970, 2. Aufl. 1973, S.18

<- [21] Bruner, J. S. 1974: Entwurf einer Unterrichtstheorie, Sprache und Lernen, Internationale Studien zur pädagogischen Anthropologie, Bd. 5, Berlin, Düsseldorf 1974, S. 151-156

<- [22] Wagenschein, M. 1989: Erinnerungen für Morgen, Eine pädagogische Autobiographie, Weinheim, Basel 1983, 2. Aufl. 1989, S. 74

<- [23] Copei, F. 1962: Der fruchtbare Moment im Bildungsprozess, hrsg. von Sprenger, H. Heidelberg 1962, 1969, S. 107-108

<- [24] Wagenschein, M. 1989: Erinnerungen für Morgen, Eine pädagogische Autobiographie, Weinheim, Basel 1983, 2. Aufl. 1989, S. 148 u.149

<- [25] Wagenschein, M. 1989: Erinnerungen für Morgen, Weinheim, Basel 1983, 2. Aufl. 1989, S. 121

<- [26] Wagenschein, M. 1989; Erinnerungen für Morgen, Weinheim, Basel 1983, 2. Aufl. 1989, S. 109

<- [27] Wagenschein, M. 1983: Erinnerungen für Morgen, Eine pädagogische Autobiographie, Weinheim, Basel 1983, S.145

<- [28] Wagenschein, M. 1975 (Vortrag): "Rettet die Phänomene", gehalten anlässlich einer pädagogischen Tagung am 1./2. November 1975 im Gottlieb-Duttweiler-Institut in Rüschlikon-Zürich, in: Hrsg. Schweiz. Gesellschaft für Bildungs- und Erziehungsfragen, Langenau a. Albis und Freier Pädagogischer Arbeitskreis Uetzikon, Hombrechtikon: "Rettet die Phänomene" 0. J. (1975), S. 50-65, Zitat S. 59

<- [29] vgl. hierzu Bollnow nach Wagenschein, M. 1983: Erinnerungen für Morgen, Eine pädagogische Autobiographie, Weinheim, Basel 1983, S. 45

<- [30] Wagenschein, M. 1979 (Vortrag): "Rettet die Phänomene" an der Universität Essen am 11. Januar 1979. Dieser Vortrag hat inzwischen bei mir drei Titel. Der erste Titel heißt also "Rettet die Phänomene", der zweite "Der Vorrang des Unmittelbaren" und der dritte heißt "Gegen die Nichtbeachtung des Unmessbaren", was aber erst im Laufe der Zeit klar werden kann. Niederschrift des gesprochenen Wortes, Essen 1979, liegt uns (H. B.; M. S.) vor.

<- [31] Wagenschein, M. 1979: Ursprüngliches Verstehen und Exaktes Denken, Bd. I, Aufl. 1970 und Bd. II, 1970

<- [32] Bußmann, H. 1994: "Die pädagogische Autobiographie des Physikers Martin Wagenschein", Tonbandaufzeichnung der Sendung des Westdeutschen Rundfunks, Köln "Am Abend vorgestellt" vom 12.3.1984, Köln 1984, unveröff. Manuskr., Niederschrift der Sendung, liegt uns (H. B.; M. S.) vor, Essen 1994

<- [33] Wagenschein, M. 1989: Erinnerungen für Morgen, Weinheim, Basel 1983, 2. Aufl. 1989, S. 103ff

<- [34] 1989, S. 103

<- [35] Wagenschein, M. 1989: Erinnerungen für Morgen, Weinheim, Basel 1983, 2. Aufl. 1989, S. 83

<- [36] Wagenschein, M. 1989: Erinnerungen für Morgen, Weinheim, Basel 1983, 2. Aufl. 1989, S. 72

<- [37] Wagenschein, M. 1972: Abrakadabra und der Formelkram. Muss die Sprache der Naturwissenschaft wirklich so schwierig sein?, in: Die Zeit (Hamburg) v. 05.02.1972

<- [38] Wagenschein, M. 1972: Abrakadabra und der Formelkram. Muss die Sprache der Naturwissenschaft wirklich so schwierig sein?, in: Die Zeit (Hamburg) v. 05.02.1972

<- [39] Wagenschein, M. 1972: Abrakadabra und der Formelkram. Muss die Sprache der Naturwissenschaft wirklich so schwierig sein?, in: Die Zeit (Hamburg) v. 05.02.1972

<- [40] Wagenschein, M. 1989: Erinnerungen für Morgen, Weinheim, Basel 1983, 2. Aufl. 1989, S. 80-81

<- [41] Wagenschein, M. 1973: Anmerkungen zum Genetischen Prinzip im Physikunterricht, Vortrag am 21. September 1970, Institut für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht, München o. J. (1973), mit einer Einführung von Siegfried Triel

<- [42] Wagenschein, M. 1972: Abrakadabra und der Formelkram. Muss die Sprache der Naturwissenschaft wirklich so schwierig sein?, in: Die Zeit (Hamburg) v. 05.02.1972

<- [43] Wagenschein, M. 1989: Erinnerungen für Morgen, Weinheim, Basel 1983, 2. Aufl. 1989, S. 105

<- [44] Wagenschein, M. 1989: Erinnerungen für Morgen, Weinheim, Basel 1983, 2. Aufl. 1989, S. 105

<- [45] Wagenschein, M. 1973: Anmerkungen zum Genetischen Prinzip im Physikunterricht, Vortrag am 21. September 1970, Institut für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht, München 0. J. (1973), mit einer Einführung von Siegfried Triel

<- [46] Wagenschein, M. 1979 (Vortrag): "Rettet die Phänomene" an der Universität Essen am 11. Januar 1979, Niederschrift des gesprochenen Wortes, Essen 1979

<- [47] nach Wagenschein, M. 1968: Verstehen lehren, Weinheim 1968, S. 20, S. 36, vgl. hierzu auch Weizsäcker, C. F., v. 1948: Das Experiment, in: Studium Generale 1948, S. 3-9

<- [48] Wagenschein, M. 1955 (Vortrag): "Wesen und Unwesen der Schule", Vortrag am 29.10.1955 im Süddeutschen Rundfunk, Verschriftlichung des Vortrages liegt uns (H. B.; M. S.) vor

<- [49] Wagenschein, M. 1971: Die pädagogische Dimension der Physik, Braunschweig 1971, S. 125

<- [50] Wagenschein, M. 1968: Verstehen lehren, Weinheim 1968, S .29

<- [51] Wagenschein, M. 1968: Verstehen lehren, Weinheim 1968, S. 20

<- [52] Wagenschein, M. 1955: Ursprüngliches Verstehen und exaktes Denken, Pädagogische Schriften Stuttgart Bd. 1, 2. Aufl. 1970, S. 251 262

<- [53] Nach Mitteilung von Peter Stettler gilt das nur bedingt. In der Schweiz ist der Rahmenplan für die Maturitätsschulen im Sinne der Funktionsziele von Martin Wagenschein verfasst worden.

<- [54] Wagenschein, M. 1989: Erinnerungen für Morgen, Weinheim, Basel 1983, 2. Aufl. 1989, S. 53 u. 54

<- [55] Wagenschein, M. 1955 (Vortrag): "Wesen und Unwesen der Schule", Vortrag am 29.10.1955 im Süddeutschen Rundfunk, Verschriftlichung des Vortrages liegt uns (H. B.; M. S.) vor

<- [56] Wagenschein, M. 1989: Erinnerungen für Morgen, Weinheim, Basel 1983, 2. Aufl. 1989,S. 121

<- [57] Wagenschein, M. 1989: Erinnerungen für Morgen, Weinheim, Basel 1983, 2. Aufl. 1989, S. 53 u. 54

<- [58] Wagenschein, M. 4955 (Vortrag): "Wesen und Unwesen der Schule", Vortrag am 29.10.1955 im Süddeutschen Rundfunk, Verschriftlichung des Vortrages liegt uns (H. B.; M. S.) vor

<- [59] Wagenschein, M. 1955 (Vortrag): "Wesen und Unwesen der Schule", Vortrag am 29.10.1955 im Süddeutschen Rundfunk, Verschriftlichung des Vortrages liegt uns (H. B.; M. S.) vor

<- [60] nach Pietschmann, H. 1984: Weltbilder und Wissenschaft, in: Hameyer, U., Kapaune, T. (Hrsg.): Weltall und Weltbild, Kiel 1984, S .99-107

<- [61] Maury, J. P. o. J.: Galileo Galilei: Und sie bewegt sich doch, Abenteuer Geschichte Bd. 8., Ravensburg o. J., S. 98ff

<- [62] Hall, A. R. 1963: Die Geburt der Wissenschaftlichen Methode, Gütersloh 1963, S. 78 79
Galilei, G.: Unterredungen und Mathematische Demonstrationen Ostw. Klassiker 1890, Bd. II, S. 107
Mason, S. F. 1974: Geschichte der Naturwissenschaft, In der Entwicklung ihrer Denkweisen, Stuttgart 2. Aufl. 1974, S. 187f

<- [63] Serres, M. (Hrsg.) 1994: Elemente einer Geschichte der Wissenschaften, Frankfurt a.M. 1994

<- [64] Serres, M. (Hrsg.) 1994: Elemente einer Geschichte der Wissenschaften, Frankfurt a.M. 1994, S. 28

<- [65] In einer feinsinnigen Analyse hat Gerhard Schneider dargestellt, dass in der abendländischen Denktradition der gemeinsame Dialog als eine Quelle der Wahrheit gilt, die ihrerseits das "Selbstdenken" an der Stelle jeden anderen Denkens und jederzeit mit sich einstimmigen Denkens als konstituierende Merkmale enthält. Ohne Selbständigkeit im Denken ist keine Partnerschaft möglich, die zum gemeinsamen Finden der Wahrheit notwendig ist (vgl. hierzu Schneider, G. 1993: Das "dialogische" Prinzip als Paradigma des Sachunterrichts, in: Lauterbach, R., Köhnlein, Kiper, H., Koch, I.-A. 1993: Dimensionen des Zusammenlebens, Probleme und Perspektiven des Sachunterrichts, Bd. 4, Kiel 1993, S. 47-62)

<- [66] Lorenz, H. J. 1993a: Kognitionspsychologie des Lernens in Hypermedia Arbeitsumgebungen, in: Computer und Unterricht 1993, (11), S. 56-60, fasst den Sachverhalt wie folgt: "Das Wissen, sowohl vorhandenes als auch neu gebildetes, assimiliertes, ist nicht etwas Festes, von allen Beteiligten gleichermaßen Geteiltes, sondern wird von dem Betreffenden in der Situation konstruiert, es ist eine subjektive Sinnkonstruktion." (S.58)

<- [67] Vgl. zum folgenden Textteil: Schreier, H. 1992: Sachunterricht und Erfahrung, in: Lauterbach, R., Köhnlein, W., Klewitz, E. 1992: Brennpunkte des Sachunterrichts, Probleme und Perspektiven des Sachunterrichts, Band 3, Kiel 1992, S. 47-65

<- [68] Siehe hierzu die Aussagen zum Phänomen der Schallausbreitung: Wagenschein, M. 1989: Erinnerungen für Morgen, Weinheim, Basel 1983, 2. Aufl. 1989, S. 105

<- [69] Wagenschein, M. 1989: Erinnerungen für Morgen, Weinheim, Basel 1983, 2. Aufl. 1989, S. 121

<- [70] Bußmann, H. 1994: "Die pädagogische Autobiographie des Physikers Martin Wagenschein", Tonbandaufzeichnung der Sendung des Westdeutschen Rundfunks, Köln "Am Abend vorgestellt" vom 12.3.1984, Köln 1984, unveröff. Manuskr., Niederschrift der Sendung, liegt uns (H. B.; M. S.). vor, Essen 1994

<- [71] Wagenschein, M. 1989: Erinnerungen für Morgen, Weinheim, Basel 1983, 2. Aufl. 1989, S. 82

<- [72] Wagenschein, M. 1989: Erinnerungen für Morgen, Weinheim, Basel 1983, 2. Aufl. 1989,S. 44 u. 45

<- [73] Wagenschein, M. 1989: Erinnerungen für Morgen, Weinheim, Basel 1983, 2. Aufl. 1989, S. 45

<- [74] Bußmann, H. 1994: "Die pädagogische Autobiographie des Physikers Martin Wagenschein", Tonbandaufzeichnung der Sendung des Westdeutschen Rundfunks, Köln "Am Abend vorgestellt" vom 12.3.1984, Köln 1984, unveröff. Manuskr. (liegt den Autoren (H. B. ; M. S.) Essen 1994, vgl. hierzu auch Wagenschein, M. 1983/1989, S. 38

<- [75] Wagenschein, M. 1989: Erinnerungen für Morgen, Weinheim, Basel 1983, 2. Aufl. 1989, S. 132

<- [76] Wagenschein, M. 1989: Erinnerungen für Morgen, Weinheim, Basel 1983, 2. Aufl. 1989, S. 126 u. 127

<- [77] Gardner, H. 1994: Der ungeschulte Kopf, Wie Kinder denken, Stuttgart 1994, S. 34 u.35

<- Anmerkung der Internet-Redaktion: Inzwischen sind dieses und ein weiteres frühes Werk Wagenscheins (Die Erde unter den Sternen) auf CD und auch als Internetdatei verfügbar. Will ich!

© Schriften der Schweizerischen Wagenschein-Gesellschaft Nr. 9/1996

Schweizerische Wagenschein-Gesellschaft, Grüningen/Schweiz, im November 1996

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