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Axel Holtz *

«Wir halten die Kinder für würdig, die Welt selbst zu entdecken»

Martin Wagenschein und die Montessori-Pädagogik


Unter dem Titel Kinder entdecken die Welt wurde dieser Vortrag vor der Österreichischen Montessori-Gesellschaft in Wien am 7. Mai 1997 gehalten und anschliessend für die Schweizerische Wagenschein-Gesellschaft stark erweitert.

© Schriften der Schweizerischen Wagenschein-Gesellschaft
Nr. 11/1999



Martin Wagenschein (1896-1988), neunzigjährig
Zeichnung: Silvia Schmidli Stettler, Grüningen


Maria Montessori (1870-1952), neunundsiebzigjährig, die erste Ärztin, die in Italien in Medizin promovierte. Wirkte als Kinderpsychiaterin und Erzieherin in Rom, ab 1934 im Exil in Spanien und Südasien, zuletzt in den Niederlanden.
Bild: Giuliana Sorge, Rom
Mit freundlicher Genehmigung von Harold und Claudine Baumann, Zürich


Einstimmung

Ein bekanntes Buch von Maria Montessori trägt heute den Titel «Die Entdeckung des Kindes». Die Welt sollte das Kind entdecken, so lautete in der Tat das selbstgesteckte Ziel Montessoris für ihre Pädagogik. Für unser Anliegen möchte ich hier Subjekt und Objekt vertauschen. Pädagogen müssen sich dann die Frage stellen, wie sie Kindern dabei helfen können, die Welt selbst zu entdecken. Und weiter gedacht: Wie können Kinder ihre neuen Erfahrungen vertiefen, ihre Entdeckungen erkunden, sich kundig machen? Wir kommen mit solchen Fragen in ein Terrain, das Montessori Kosmische Theorie bzw. Kosmische Erziehung genannt hat und das dringend 45 Jahre nach ihrem Tod einer fundierten Aufarbeitung bedarf. Wenn die Montessori-Pädagogik nicht zur Museumspädagogik erstarren will, wenn sie nicht nur in ihren geschichtlichen Verdiensten verwaltet, sondern weiterentwickelt werden soll, dann hat sie, statt ihren isolierenden Dogmatismus zu verteidigen, den öffnenden Dialog zu suchen. Und wer könnte für unseren Dialog zu dem Bereich «Wir halten die Kinder für würdig, die Welt selbst zu entdecken» ein kompetenterer und interessanterer Gesprächspartner sein als Martin Wagenschein?

Wir wollen diesen Dialog aber nicht nur inhaltlich, sondern, im Zeitalter der talk-shows, auch methodisch führen als imaginären Gedankenaustausch zwischen Montessori und Wagenschein. Ich bitte Sie um Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen eine anregende Diskussion.


Dialog

Maria Montessori (M): Lieber Herr Wagenschein, ich bin 26 Jahre älter als Sie, ich könnte ihre Mutter sein. Deshalb verstehen Sie bitte, dass ich Sie zunächst einmal kennenlernen möchte, zumal mir Ihre Arbeiten, dies sei gleich eingestanden, unbekannt sind.

Martin Wagenschein (W): Verehrte Signora Montessori, gerne komme ich lhrem Wunsch nach. Über meinen pädagogischen Lebensweg kommen wir bestimmt auch leichter in unser fachliches Gespräch. Es war mir vergönnt, einige grosse Pädagogen meines Heimatlandes kennenzulernen: Spranger, FIitner, Litt und Nohl etwa. Und nun freue ich mich besonders, Ihre Überlegungen nicht nur in Ihren Büchern oder in dem vorzüglichen Werk Ihres Mitarbeiters Standing nachlesen zu müssen, sondern in dieser angenehmen Atmosphäre mit ihnen darüber reden zu können. Vieles von Ihren Gedanken hat mich beeindruckt, manches möchte ich aus meiner Sicht kommentieren.
Doch der Reihe nach, wir haben ja Zeit.
Ich bin das erste und letzte Kind meiner Eltern; Sie kennen diese Rolle als Einzelkind. Ach übrigens, ich bin genau in dem Jahr geboren, als Sie das erste Mal in Deutschland, in Berlin waren.

M: Oh ja, ich erinnere mich, das muss 1896 gewesen sein. Ich hatte mein Medizinstudium erfolgreich beendet und sprach als Delegierte Italiens über die Frau in der damaligen Gesellschaft. Ich kann Ihnen sagen, ich wusste, worüber ich redete. Aber von der besonderen Frauenfrage aus habe ich mich immer mehr den allgemeinen Menschheitsfragen angenähert. Ich habe, so glaube ich, schon damals intuitiv erfasst, dass gesellschaftliche Veränderungen nur über eine andere Erziehung dauerhaft möglich sind. Also habe ich mich noch einmal auf die Schulbank oder besser Universitätsbank gesetzt und mich sehr intensiv mit Anthropologie und Pädagogik beschäftigt. 1907 gründete ich dann das erste Kinderhaus. 1909 schrieb ich mein berühmtes Buch über «Die Entdeckung des Kindes» und schliesslich gab ich meine berufliche Existenz als Ärztin ganz auf. Eigentlich bin ich quasi ein halbes Jahrhundert auf der ganzen Erde als Pädagogin aktiv gewesen. Doch zurück zu Ihnen. Hatten Sie gleich die Absicht, die Menschheit durch Pädagogik zu verändern? (Beide lachen)

W: Meine Schulzeit im Kaiserreich möchte ich eigentlich schnell überspringen. Latein hat mir Spass gemacht, soviel weiss ich noch. Das lag am Lehrer und wahrscheinlich an der Klarheit der Grammatik. Überhaupt, die Sprache: Sie hat mich mein ganzes Leben lang fasziniert. Als Student für das höhere Lehramt in Mathematik und Physik beschäftigte ich mich in der Prüfung mit dem ungewöhnlichen Thema «Förderung der Sprache durch den naturwissenschaftlichen Unterricht». Ich möchte die Sprache als Thema unseres Gesprächs nachher gerne vertiefen. Doch bleiben wir zunächst in meiner Biographie.
An das Studium schloss sich die Promotion an und schliesslich das Referendariat. Sollte ich Lehrer werden? Eine Frage, die mich damals eingehend beschäftigte. Unter anderem auch deshalb, weil wir auch in der Weimarer Republik weit von dem entfernt waren, was z.B. Sie, Signora Montessori, uns an Möglichkeiten mit Ihrer Pädagogik angeboten haben. Wissen Sie, welche Ratschläge uns Referendare begleiteten? «Beherrschung der Klasse mit dem Blick. Nie ihr den Rücken zukehren. Auch nicht beim Schreiben an der Tafel (würdelos verrenkt). Fester Standort. Nicht umhergehen. Günstig: Diagonal: Einblick zwischen die Bänke. In den ersten Wochen: niemals lachen» (Wagenschein 1983, S.23).

M: Sollten Sie Lehrer oder Offizier werden?

W: Das habe ich mich damals auch gefragt. Ich wusste, für diese Art von Pädagogik bin ich nicht geeignet. Ich muss Ihnen aber auch gestehen, dass ich einen Lichtblick am Ende dieses dunklen pädagogischen Tunnels sah: er hiess aber nicht Montessori-, sondern Waldorfschule.

M: Was hat Sie denn daran fasziniert?

W: Ich habe nicht an einer Waldorfschule unterrichtet, es blieb also eine äusserliche Anerkennung, zumal auch die Waldorflehrer die Anthroposophie Steiners nicht konsequent umsetzten. Das ist jedenfalls mein Eindruck gewesen. Ich suchte eine Pädagogik, in der Mensch und Sache nicht getrennt werden, die die Atome im Blick hat und die Seele ernst nimmt. Die Suche führte aber, da kann ich Sie beruhigen, nicht in eine Waldorfschule, sondern in den Odenwald, ein deutsches Mittelgebirge, in die Odenwaldschule. Meine eigentliche pädagogische Ausbildung habe ich hier erlebt und gelebt. Neun Jahre lang gehörte ich einer Gemeinschaft an, in der auch wir Lehrer jenen Raum bekamen, den Sie für die Kinder gefordert haben. Hier gab es die Freiheit zu werden, wer ich bin. Unterricht war hier nicht Belehrung, sondern Austausch. Jedes einzelne Kind interessierte nicht mit seinen Noten, es interessierte in seiner persönlichen Entwicklung; statt Angst herrschte Achtung. Ich würde diese Sicht des Kindes, dieses Verständnis pädagogischer Arbeit auch gerne mit Ihnen erörtern.

M: Oh Herr Wagenschein, Sie ahnen vielleicht nur, wie wichtig dies ist, selbst in der Montessori-Pädagogik, gerade bei denen, die in meinem Namen ihre eigene Pädagogik machen. Im hohen Alter habe ich jenen noch einmal versucht vorzuführen, worum es geht. Schaut auf das Kind, auf das mein ausgestreckter Finger zeigt, beobachtet es, schaut es an und starrt nicht ständig nur auf meinen Finger. So habe ich meine Eindrücke in ein Bild gebracht. Aber diese Fragen sollten wir wirklich ausführlicher besprechen. Doch Sie erzählten von einer neunjährigen Tätigkeit an der Odenwaldschule, wie ging es weiter mit Ihnen?

W: Den schlimmsten Abschnitt der deutschen Geschichte erlebte ich als Lehrer an einer höheren Staatsschule in einem Fach unterrichtend, das ideologisch weitgehend in Ruhe gelassen wurde. 1945 begann die Freiheit und auch ein neuer pädagogischer Elan. Ich war wieder in der Referendarsausbildung tätig, diesmal natürlich in anderer Funktion. Ehrlich eingestanden, viel hatte sich in den 25 Jahren seit meiner Referendariatszeit pädagogisch nicht bewegt. Froh nahm ich deshalb einen Lehrauftrag an der Technischen Hochschule Darmstadt und seit 1956 eine Honorarprofessur an der Universität Tübingen an. In diese Zeiten fallen für mich wichtige Schriften, in denen ich die Physik mit der Pädagogik verband, das genetische Prinzip des Unterrichtens erläuterte, Stoff-Fülle durch ein exemplarisches Vorgehen abfederte und Fragen nach einer fundierten Fachdidaktik stellte. Begeistert hat mich ein Satz (aber beileibe nicht nur dieser) von Pestalozzi, den Sie ja auch gelesen haben. Er schreibt: «Die Schule bringt dem Menschen das Urteil in den Kopf, ehe er die Sache sieht und kennt» (zitiert in Wagenschein 1995a, S.136).
Das ist mir nachgegangen. Es ging um Lehren und Lernen, auch um das, was Sie sensible Phasen genannt haben, um Phänomene und nicht nur um das Resultat kindlicher Erkenntnis. In diesem Feld unseres Gesprächs, verehrte Signora Montessori, erwarte ich uns beide bereichernde, spannende Auseinandersetzungen.

M: Sie scheinen mit meinem Leben ja vertraut zu sein, ich kenne jetzt einiges aus Ihrer Biographie, wir könnten also zur Sache kommen. Ich sagte ja schon, dass ich nach meiner medizinischen Ausbildung mich u.a. mit der Anthropologie, vor allem mit jener des Kindes, beschäftigt habe. Wir sollten hier einen Einstieg finden. Sie gehören Gott sei Dank zu denen, die nicht auf den Finger, sondern auf das Kind schauen. Was gehört für Sie alles zu dieser Entdeckung des Kindes, sind Sie seinem Geheimnis näher gekommen?

W: Was Sie pädagogische Anthropologie nennen, das sollten wir Abschnitt für Abschnitt aufbauen, bis die Teile vielleicht die Kontur eines Bildes ergeben, eines Bildes vom Kind. Ich will hierzu einen Einstieg suchen über den grossen Schweizer Entwicklungspsychologen Jean Piaget, der, ich muss gestehen, dass mich das überrascht hat, mal Präsident Ihrer Montessori-Bewegung in seinem Heimatland war. Nun gut, vielleicht sind Sie in der Funktion mit ihm glücklich geworden, ich hatte jedoch immer Blockaden, Piaget zu lesen, obwohl es von verschiedenen Seiten Lektüreempfehlungen gab. Natürlich hat es mich beschäftigt, warum mich jemand, der soviel auch zur mathematischen und physikalischen Erkenntnisentwicklung des Kindes beigetragen hat, nicht fasziniert, sondern fernhält? Ich vermisse bei ihm die Offenheit für das Denken des Kindes, dieses eigenständige Denken.
«Das Denken des Kindes ist weder kindisch noch erwachsen. Es ist ein erwachsendes und erwachendes Denken» (Wagenschein 1995, S.60). Bei Piaget wird dieses Denken zu rasch in das Korsett seiner Entwicklungspsychologie geklemmt, ohne in Ruhe und in der Tiefe auszuloten, wie das Kind zu dem Resultat seines Nachdenkens kommt, welche Überraschungen und von uns nicht geahnte Möglichkeiten sich dahinter verbergen.

M: Das Kind ist kein kleiner Erwachsener, es ist ein eigenständiger Mensch, da stimme ich Ihnen vollkommen zu. Und wir Erwachsene haben genau mit dieser Sichtweise enorme Probleme. Kinder werden nur aus unserer erwachsenen Perspektive definiert, und das ist der entscheidende Irrtum. Wenn ich Sie recht verstehe, erlag auch Piaget diesem Fehler. Können Sie mir das an einem Beispiel plastisch darstellen?

W: Nehmen Sie seine vielen Versuche, z.B. zu den Wassermengen. «Ich würde es noch nicht mal verbieten, die Kinder so auszufragen. Aber was sie dann sagen, was sie dann meinen - da muss man erst dahinterkommen. Vielleicht haben ja die Kinder völlig recht mit dem, was sie sagen, wenn sie äussern, es sei jetzt Wasser in dem länglich-hohen Gefäss. Wenn man herausbringen könnte, was sie mit mehr wirklich meinen ...» (Wagenschein 1995a, S.24)
Hier muss der Pädagoge abwarten und beobachten können; er darf höchstens behutsam fragen und intervenieren, aber auf keinen Fall gleich einsortieren. Beobachten heisst, das Kind und die Sache ausreden lassen. Wenn ich hier vom Kind und von der Sache spreche, so ist ganz bewusst beides erwähnt.
Ihre Pädagogik, Signora Montessori, gehört zu einer geschichtlichen Epoche dieser Wissenschaft, die als «vom Kinde ausgehend» bezeichnet wird. Ihr besonderer Beitrag zu dieser Bewegung besteht für mich in ihrem Plädoyer für die Freiheit des Kindes. Mit Nachdruck und Überzeugung habe ich in meinen Büchern immer wieder Ihr Motto zitiert, dem Kind zu helfen, es selbst zu tun. Diese Selbsttätigkeit des Kindes verlangt, dass ich auf keinen Fall mehr helfe als zwingend erforderlich. Ich sehe einmal die Gefahr, dass die Selbsttätigkeit nur als kurze taktische Auflockerung des Unterrichts und nicht als langfristige Unterrichtsmethode fungiert. Andererseits wissen Sie bestimmt auch, wie stark vor allem in unseren Schulen, in der Praxis, die sogenannte Gegenposition wirkt: Der Stoff, oder wie ich angemessener sage, die Sache wird dort zum alleinigen Massstab pädagogischen Handelns. Schon in meiner Zeit im Odenwald, aber auch später bei meiner Beschäftigung mit der exemplarischen Auswahl aus der Bandbreite der möglichen Unterrichtsthemen, konnte ich in der Unterteilung, hier das Kind, dort die Sache, keine Alternative erkennen.

M: Wie sieht Ihre Vermittlung aus? Selbsttätigkeit als Begriff verweist ja schon in zwei Richtungen: Zum einen auf das Selbst, auf die Person, die tätig wird, zum anderen auf die Tätigkeit, die sich auf einen Gegenstand, eine Sache bezieht.

W: Es freut mich, wenn Sie das so formulieren, denn genau das ist auch die Richtung meiner Gedanken. «Es genügt nämlich nicht, dass einer Physik treibt, sie muss ihn treiben. Gemeint ist also jenes ergriffene Ergreifen, jenes Einssein von Nehmen und Genommen-Sein, von Tun und Leiden, das den Bildungsprozess als ein Urphänomen kennzeichnet» (Wagenschein 1995, S. 123). Kinder wollen lernen, sie wollen sich treiben lassen von der Sache, nur leider gilt dies kaum für Schulkinder. Ja ich unterscheide zwei Gruppen von Kindern, so wie Zootiere und Tiere in freier Wildbahn differenziert werden. «Man kann im Zoo manches über Tiere lernen, doch nicht das, was sie von sich aus sind und wollen» (Wagenschein 1995a, S. 68). Damit die Kinder auch in der Schule Kinder bleiben und nicht Schulkinder werden, sollten wir auf feine Unterschiede achten: «Nicht: es den Kindern leicht machen, sondern sie dahin führen, dass sie es sich selber gerne schwermachen; nicht: ihnen entgegenkommen, sondern warten lernen, dass sie von selber kommen, dass sie selber etwas von sich verlangen; nicht: sie bestimmen lassen, sondern ihrem Drang Raum geben mitzuhelfen und mitzuplanen; nicht: sie verwöhnen dadurch, dass man immer nur sagt, was sie tun sollen, sondern sie daran gewöhnen, dass sie die Furcht vor der eigenen Entscheidung verlieren» (Wagenschein 1995, S. 124).

M: Ihr Vergleich mit den Tieren gefällt mir. Ich verwende auch gerne solche Bilder. Wenn ich Sie recht verstanden habe, sind Kind und Sache zwei Seiten einer Medaille.

W: Ich habe natürlich ebenfalls nach einem sprachlich griffigen Motto, wie das Ihre eines ist, gesucht und kennzeichne meine Position mit folgenden Worten: «Mit dem Kind von der Sache aus, die für das Kind die Sache ist» (Wagenschein 1995a, S. 47).
Kinder wie mich selbst faszinieren Sachen, und in dieser Liebe zu den Sachen liegt auch unsere Beziehung, ohne die Erziehung unmöglich ist. Entscheidend bleibt auch hier die Achtung vor dem eigenständigen Denken und Handeln des Kindes.

M: Ich will noch mal auf Ihre Zootiere zurückkommen. Sie merken schon, die haben es mir angetan, denn es stimmt ja: Nur freie Kinder zeigen uns jenes, mir so wichtige Phänomen der Polarisation der Aufmerksamkeit. Ich will deshalb unbedingt einige Stichworte zum Thema Freiheit einbringen, denn hier liegt der Kern meiner Pädagogik. Alles geht von der Freiheit aus.

W: Das wäre an dieser Stelle unseres Gesprächs ein notwendiger und mich brennend interessierender Teil: Einmal um Ihren Ansatz besser zu verstehen und zum anderen, um mein eigenes Denken in dieser Frage noch weiter zu klären.

M.: Dann versuche ich es mal so, wie es mir nicht unbedingt liegt, aber es für unser gemeinsames Anliegen wohl doch hilfreich ist, nämlich sehr strukturiert.

Entschuldigen Sie, Herr Wagenschein, jetzt bin ich richtig ausschweifend geworden, aber da sie mich nicht unterbrochen haben und auch nicht eingeschlafen sind, habe ich wohl Ihr Interesse getroffen. Eine Frage: Haben Sie eigentlich auch diesen Unterschied beobachten können zwischen der oberflächlichen Aufmerksamkeit unfreier Schü1er und jener tiefen Liebe zur Sache bei Schülern, die nach diesem Verständnis frei in ihrer Arbeit sind?

W: Zunächst möchte ich Ihnen für die spannenden Ausführungen zur Freiheit danken, aber nun zu Ihrer Frage. Oh ja. Kinder versinken plötzlich aus der Hektik ihrer Tätigkeit in die Hingabe an die Sache. Jetzt kann, nein, jetzt spätestens muss der Lehrer zurücktreten. Diese besondere Form der Aufmerksamkeit habe ich in Anlehnung an Simone Weil die «Einwurzelung» genannt. Ein Begriff ist damit gefunden, der die ganze Tiefe dieses Phänomens zum Ausdruck bringt, der aber genau zeigt, wie weit die Schule die Kinder davon entfernt. Sie sehen, auch ich kann nicht von den Zootieren lassen. Als ich knapp 90 Jahre alt war und die erschreckende Kontinuität der Schulpädagogik über fast ein ganzes Jahrhundert einsehen musste, habe ich mich noch einmal ereifert. Ich hatte mich für einen Preis, der mir zugedacht worden war, zu bedanken und habe diese Gelegenheit genutzt und der honorigen Festgesellschaft folgendes ins Stammbuch geschrieben:
«Muss man so alt sein, muss man aus den 20er Jahren hierherkommen, muss man neun Jahre in der Odenwaldschule gelebt haben oder Waldorflehrer sein - oder Freund der Freien Schulen? Sieht es denn nicht jeder, dass es eine falsche Deutung, eine falsche Anthropologie des Kindes ist, wenn man behauptet, Kinder müssten zum Lernen gezwungen oder verführt werden, um dann mit dieser Begründung zu rechtfertigen: wahnhafte Stoffhuberei, verwirrende Zeitzerstückelung, selbsttäuschende Quantifizierung, schnell verfliegende Scheinleistungen? Damit: Zerstörung der ursprünglichen Lust am Verstehen und gemeinsamer Verständigung: statt dessen Erregung egoistischen Wettstreits» (Wagenschein 1986,S. 70 f.).

M: Die Schule sah und sieht schlimm aus, Herr Wagenschein. Ich will hier noch einmal eine Zusammenfassung unseres bisherigen Gesprächs versuchen. Ich wiederhole ganz bewusst: Das Kind ist kein kleiner Erwachsener. Es folgt oft seinen eigenen kindgemässen Vorstellungen und Interessen, die sich von denen der Erwachsenen mehr oder weniger deutlich unterscheiden. Wir haben weiterhin zu berücksichtigen, dass das Kind der Akteur seiner eigenen Entwicklung ist. Das Kind kommt bei der Geburt mit einer bestirnmten Ausstattung in eine soziale Umwelt. Diese bereitet für das Kind eine Umgebung vor, die auf seine Entwicklungsmöglichkeiten, seine sensiblen Perioden, wie ich das genannt habe, abgestimmt ist. Was das Kind dann aus diesen Voraussetzungen und Bedingungen für seine Entwicklung macht, bestimmt es letztendlich selbst. Wir möchten, so ein dritter Gesichtspunkt, das Kind durch Selbsttätigkeit zur Selbständigkeit führen. Dies ist nur möglich, wenn wir von jedem einzelnen Kind ausgehen. Zu Recht haben Sie darauf hingewiesen, hier zwischen Innen und Aussen, Subjekt und Objekt keine Schranken aufzubauen. Es geht um das Kind in seiner Beziehung zu einer bestimmten Sache. Und schliesslich, so will ich das Thema abrunden, gibt es Erziehung nur, wenn Beziehungen nicht nur zur Sache, sondern auch zwischen den an dieser Sache Beteiligten entstehen. Genau diese anthropologischen Akzente führen uns zum anderen Kind, zum Unterricht mit freiwillig lernenden Schülern.

W: Wir sollten unser Gespräch langsam in diese Bahn lenken, hin zu der Verantwortung, wie sich unsere pädagogische Anthropologie in konkrete pädagogische Arbeit umsetzen lässt. Ich schlage zwei Begriffe vor, die mir wesentlich sind: das Phänomen und die Phantasie.

M: Das hört sich spannend an. Beide Begriffe bedürfen auch in meiner Pädagogik immer wieder der Klärung bei den Praktikern.

W: Ich denke, dass wir hier Kontaktstellen vorfinden werden zu dem, was Sie Kosmische Erziehung nennen. Ich komme zunächst von der Physik her, wobei diese Zuteilung schon kritisch kommentiert werden muss. Ein Kind besteht zwar aus Zellen, Organen u.v.m., aber es gliedert sich nicht in Schulfächer. Es ist ein typischer, allerdings wissenschaftshistorisch nachvollziehbarer Irrweg, wenn wir das Ganze der Welt in der Schule erst künstlich zerstückeIn, um es dann mühsam, unter dem anscheinend so aktuellen Motto des fächerübergreifenden Unterrichts wieder zusammenzusetzen.
Doch ich will in eine andere Richtung. Entscheidend für die Auseinandersetzung mit einer Sache, und hier ist die Physik dann nur ein Exempel, ist der Ausgangspunkt: Das Einlassen des Kindes auf das Phänomen, die sinnliche Grundlage der Sache. Wir erschlagen Kinder vorschnell mit Begriffen, statt sie erst einmal zugreifen zu lassen. Wir müssen sie für würdig halten, die Welt selbst zu entdecken.
Was entdecken Kinder? Dass Flüsse in eine Richtung fliessen, der Mond sein Äusseres verändert, ein Metall sich manchmal zu einem anderen Metall bewegt und manchmal nicht u.v.m. Zügig folgt solchen Beobachtungen des Kindes die Erklärung des Lehrers, warum das Beobachtete so ist, wie es beobachtet wird. Im schlimmsten Fall werden gar mathematische Formeln als, dann natürlich brüchiges Fundament des Lernens herangezogen. Sicherlich: Rein äusserlich arbeiten wir auf diesem Weg ökonomisch. Schnell ist ein Thema be- und abgehandelt, quantifiziert, abprüfbar. Doch wo bleibt die Substanz einer Sache, seine Qualität; wo bleibt die Zeit zu staunen, von Phänomenen fasziniert zu sein? Geht es darum, dass das Kind Erklärungsmöglichkeiten durchspielt oder geht es darum, dass der erwachsene Lehrer seinen anscheinend berufsimmanenten Redetrieb befriedigt? Was wir in unseren Schulen benötigen, das ist die ruhige ungestörte Beschäftigung mit diesen Phänomenen, das ist das sinnliche Erfahren dieser Sache, und das ist die Freiheit, es zunächst in die Sprache kleiden zu dürfen, die die des Kindes ist. Es bedarf des Ereignisses in uns, aus der das Wissen für uns entsteht.

M: Wie haben Sie dieses Anliegen umgesetzt? In der Tat spreche ich von Kosmischer Erziehung und bei allem, was Sie mir hier sagen, spüre ich ein freudiges Ergriffensein über soviel Gemeinsamkeit in unserem Denken. Bevor ich einige Überlegungen aus meiner Sicht darstelle, zeigen Sie mir doch bitte Ihren Weg in die Praxis.

W: Ich habe zwei Wege gewählt. Für die Eiligen formulierte ich griffige Regeln, für die Verweilenden formulierte ich ausführliche Prinzipien. Ich beginne mit der Kurzdarstellung:
M: Ein imposanter, geballter Überblick, der meine Neugier auf die ausführliche Passung noch bestärkt.

W: Nun gut. Für meine Überlegungen haben sich drei kennzeichnende Begriffe etabliert: exemplarisch, genetisch, sokratisch. Ich versuche, diese Termini und damit mich verständlich zu machen.
Der Teil und das Ganze ist ein zentrales Thema der Philosophie, insbesondere aber auch der Naturwissenschaft. Der Physiker Werner Heisenberg hat hierzu ein lesenswertes Buch geschrieben. Ich nähere mich diesem Verhältnis aus dem Blickwinkel des Physikpädagogen. Was Sie Kosmos nennen, Signora Montessori, ist überwältigend in seiner Vielfalt, in seinen Dimensionen. Wir Pädagogen stehen doch vor der Aufgabe, den Kindern Ordnungsstrukturen für das Entstehen von Übersichtlichkeit in dieser Vielfalt anzubieten. Einen zentralen Zugang zur Lösung dieser Aufgabe sehe ich im exemplarischen Vorgehen. Die Stoff-Fülle, wie die Lehrer sagen, dieser erstaunliche Berg des von der Menschheit akkumulierten Wissens ist nur als Auswahl als Teil, als Ausschnitt zu erarbeiten.
«Das Einzelne, in das man sich hier versenkt, ist nicht Stufe, es ist Spiegel des Ganzen. Zur Begründung: die Worte, die immer wieder auftauchen, wenn das Gespräch um das Exemplarische kreist: stellvertretend, abbildend, repräsentativ, prägnant, Modellfall, mustergültig, beispielhaft, paradigmatisch. Die Beziehung, die das Einzelne hier zum Ganzen hat, ist nicht die des Teiles, der Stufe, der Vorstufe, sondern sie ist von der Art des Schwerpunktes, der zwar einer ist, in dem aber das Ganze getragen wird. Dieses Einzelne häuft nicht, es trägt, es erhellt, es leitet nicht fort, sondern es strahlt an. Es erregt das Fernere, doch Verwandte, durch Resonanz» (Wagenschein 1997, S.32).
Wir dürfen also nicht Aspekte addieren, wir müssen dem Kind ermöglichen, Beziehungen herzustellen. Wer etwas verstehen will, muss es mit anderem verknüpfen können.

M: Oh, Herr Wagenschein, ich danke Ihnen. Ich habe einmal geschrieben, dass Einzelheiten zu lehren bedeutet, Verwirrung zu stiften, und dass die Beziehung unter den Dingen herzustellen bedeutet, Erkenntnisse zu vermitteln. Kosmische Erziehung lässt sich nicht, wie es der gängige Sachunterricht nahelegt, in einzelne Unterrichtsthemen isolieren. Im Gegenteil: Sie geht aufs Ganze. Gelingt ihr dies, dann bietet jedes Detail den Einstieg. Wie ein Hologramm beherbergt dann dieser Teil auch das Bild des Ganzen, zunächst noch unscharf, aber mit zunehmender Vertiefung deutlicher. Das Ganze meint hier weder die Vollkommenheit, noch die Überfütterung, sondern den Überblick. Finde ich das passende Exempel, führt das Exemplarische, wie Sie sagen, tatsächlich auf den Gipfel und damit zur freien Sicht über die Sache. Sie konnten meinen Gedanken mit Ihren Worten erklären und ich weiss, wie wichtig und notwendig eine solche Klärung ist.

W: Dies wäre für mich auch schon die Überleitung zum genetischen Prinzip, einem weiteren Zugang, Ordnung im Denken zu stiften. Pädagogik ist für mich eine Wissenschaft des Werdens und nicht so sehr des Seins. Den Pädagogen leuchtet dabei meistens noch ein, dass die Persönlichkeit des Kindes noch wachsen muss; weniger nachvollziehbar scheint zu sein, dass dieses Werden der Persönlichkeit untrennbar verbunden ist mit dem Wachsen des Wissens dieser Person. Pädagogen sind heute zu sehr geneigt, Bildung und Wissen als fertiges Produkt und nicht als fliessenden Prozess zu begreifen. Die Wirklichkeit der Welt muss in der Welt aufgesucht werden, wo dies möglich ist, bzw. wo dies nicht anders möglich ist, da muss sie in die Schule geholt werden. Sie muss beobachtet, sie muss mit Hypothesen zu ihrem Verstehen gebracht und in verschiedenen Formen sprachlich gefasst werden. In diesem Prozess, in diesem Werden meines Wissens gibt es Abwege, Umwege und Sackgassen, aber es gibt vor allem das tiefe Erlebnis auf spannenden, interessanten und ereignisreichen Wegen vorwärts zu kommen.

M: Herr Wagenschein, geben Sie mir ein Unterrichtsbeispiel.

W: Einverstanden, ich versuche eine Gegenüberstellung: «Erdgeschichte. Wie wird ein darlegender Lehrgang für dieses Thema gebaut sein? Er wird von heranführen an das schon geklärte, fertige, dem Lehrer in Raum und Zeit transparente Erdbild. Er wird vielleicht zuerst, wie von weit herkommend, die Kugelgestalt ins Auge fassen, etwas vorausschicken über die mutmassliche Entstehung des Erdballs, um dann die einzelnen Teile seiner Schale, geordnet nach Aggregatzuständen, vorzunehmen: Gesteinshülle, Gewässer, Atmosphäre.

Ein genetischer Lehrgang wird etwa dieselben Tatsachen und Theorien - nicht , sondern - entdecken lassen. Er meint die eigentliche, die lebendc, nicht ihre Funde sichernde und zur Nutzung übersichtlich verwaltende Wissenschaft. Er verlässt sich darauf, dass uns die Betrachtung der Natur zum Denken auffordert» (Wagenschein 1997, 5. 80).

M: Ich danke Ihnen erneut und bin nun gespannt auf Ihr drittes Prinzip, das Sokratische in der Pädagogik.

W: Bleiben wir beim Beispiel Erdgeschichte.
«Ohne etwas zu sagen und ohne Eile, zeigte ich Lichtbilder in grosser Zahl, auf denen zu sehen waren: Geröllhalden, Felsstürze, Lawinen, Gletscher, Moränen, Flusstäler, Wasserfälle, Brandungsküsten, Deltas und so fort, und zwar durcheinander. Die Schüler konnten dazu sagen, was ihnen einfiel, auch Fragen stellen, die ich aber nicht beantwortete» (Wagenschein 1997, 5. 81).
Lehrer reden gern und viel; hier lernt er, und er muss es tatsächlich lernen, zuzuhören. Die Kinder reden, das ist schon ungewohnt und ungewöhnlich. Und noch etwas Unvorstellbares tritt ein: Die Sache spricht. Nicht der Lehrer motiviert, nicht seine Sprache dirigiert, nein, das Thema hat die Flamme zu entzünden. Dies ist der erste Schritt eines sokratischen Vorgehens. Für diesen Schritt benötigen wir Zeit, hier geht es beileibe nicht um den spannenden Stundeneinstieg, für den wir in der Verlaufsplanung 5-10 Minuten reservieren. «Es ist verhängnisvoll, wenn der Lehrer die Angst hat, weitergehen zu müssen, während den Schüler die Angst ergreift, mitkommen zu sollen» (Wagenschein 1965, S.359). Von diesen Grundlagen aus nähern wir uns dem Kern sokratischen Vorgehens: Die Fragen und Eindrücke, Probleme und Einsichten der Schüler bilden den Mittelpunkt, nicht das Belehren und Dozieren des Lehrers. Und damit befinden wir uns in dem Rahmen eines echten Gesprächs, eines angeleiteten Austauschs, in dem die Kinder, der Lehrer und die Sachen zu Wort kommen. Wieviel haben, um nur ein letztes Beispiel zu nennen, verschiedene Steine zum Thema Erdgeschichte zu erzählen? Erst späteren Phasen des Unterrichts überlasse ich es, Fachbegrifflichkeiten vorsichtig einfliessen zu lassen, ihre Klarheit zu nutzen und sie den Kindem zu eröffnen.

M: Verstehe ich Sie richtig, wenn ich für die Montessori-Pädagogik folgendes aus Ihren Überlegungen herausfiltere: Die Faszination, die unsere kosmischen Materialien wecken ist wichtig, aber nicht allein wesentlich. Und auch der von mir empfohlene Lehrervortrag, seine Erzählkunst zu kosmischen Themen, reicht Ihnen nicht. Sie fordern die offene Gesprächskultur, das Finden und Fabulieren in der Gruppe, das Gespräch in dieser Gruppe. Ich finde Ihre Präzisierung wichtig, weil hier ein altes Feuer meiner Montessorianer extrem hoch auflodert: Die Fixierung auf das Material darf nicht einseitig werden. Die sinnliche Grundlage, die Selbsttätigkeit bedarf ihrer Vertiefung im gemeinsamen Denken und Sprechen. Insofern ist die Sprache, ist das Gespräch Ausdruck gemeinsamen Werdens, des Werdens von Wissen, wie Sie es genannt haben. Und mir wird Ihr Beharren auf die Bedeutung der lebendigen Sprache der Kinder vollends einsichtig. Ihr Reichtum muss zum Tragen kommen, und ich erkenne, wie sehr eine zu rasch dargebotene Definitionskarte hier Armut hinterlässt. Wir haben in der Montessori-Pädagogik, so mein selbstkritischer Eindruck, durchaus Nachholbedarf an dieser Stelle.

W: Ich kenne die Montessori-Pädagogik in diesen praktischen Details zu wenig, um über Ihre Einschätzung mitreden zu können. Mich freut es aber, Ihre eigene Gesprächsoffenheit zu erleben. Zudem bewundere ich Ihre Fähigkeit, vernetzt zu denken, wie die Menschen heute so gerne sagen. Das Exemplarische, das Genetische und das Sokratische gibt es nicht als drei Aspekte, sondern nur als Bündel. Ich will deshalb hier im wahrsten Sinne des Wortes zusammenfassen und den wichtigen Begriff der Phantasie einbringen, den ich bisher als Gesprächsgegenstand nur angekündigt habe.

  • 1. Bildung darf nicht uniform sein, sie muss sich in der individuellen Form des jeweiligen Kindes verwirklichen. Gerade Ihre Pädagogik, Signora Montessori, hat ja hierauf den entscheidenden Wert gelegt.
  • 2. Wissen ist ein notwendiger, aber nicht ausreichender Aspekt, um Bildung zu charakterisieren. Dies gilt für den Lehrer einerseits, dessen Fachwissen verlangt ist, aber nicht ausreicht und dies gilt für das Kind andererseits, das allein mit Wissensaneignung keine Bildung aufbaut. Genau hier liegt ja das Problem unseres Unterrichts. Die kleine Gruppe der Lehrer ohne fundiertes Fachwissen führt niemanden zur Bildung, die grosse Gruppe der Lehrer, die ausschliesslich von ihrem Fachwissen lebt, aber ebensowenig.
  • 3. Bildung entsteht nicht, so müssen wir aus dem zweiten Punkt folgern, ohne Emotion, wie heute gesagt wird. Ich bin da etwas altmodischer und spreche von der Liebe zur Sache, der Liebe zur Arbeit mit der Sache würden Sie wahrscheinlich sagen, Signora Montessori. Nur aus dieser Hingabe entfaltet sich Bildung als Teil meiner Persönlichkeit und nicht ausschliesslich als abfragbarer Lernstoff.
  • 4. Bildung, und nun komme ich endlich zur Phantasie, bedeutet auch, verbinden zu können, imaginieren zu können, also über das direkt sinnlich Wahrnehmbare hinauszugehen. Wir müssen die Welt über die Realität hinaus verlängern in die Vorstellung hinein, wenn wir Bildung in neue Dimensionen treiben wollen. Genau diese Fähigkeit bezeichne ich als Phantasie. Eine Warnung sei allerdings gleich angefügt: es geht um Phantasie mit Bodenha ftung. «Denn es genügt nicht, dass die Phantasie nur züngelt. Sie muss auch gezügelt, diszipliniert werden: 1. durch die logische Zulässigkeit und 2. an dem, was die Natur dazu sagt. Sie, die Natur allein entscheidet zuletzt. Sie hat das Vetorecht» (Wagenschein 1995, S. 49).

M: Ja, Herr Wagenschein, der Phantasiebegriff. Ich gebe zu, mit Märchen, diesen falschen Fährten für Kinder, habe ich immer meine Probleme gehabt. Deshalb ist meine Pädagogik nicht phantasielos. Im Gegenteil: was Sie da gerade zur Phantasie gesagt haben, findet meine Unterstützung. Da Sie das Wesentliche zusammengetragen haben, reichen wieder einige Stichworte meinerseits aus. «Das menschliche Bewusstsein tritt wie ein glühender Ball der Phantasie in die Welt. Alles, was Menschen erfunden haben, Materielles wie Geistiges, ist die Frucht der Phantasie eines Menschen. Beim Studium der Geschichte oder der Geographie sind wir hilflos ohne die Phantasie und wenn wir dem Kind das Universum nahebringen wollen, was anderes als die Phantasie kann uns dabei helfen? ... das Geheimnis guten Unterrichts liegt darin, die Intelligenz des Kindes als ein fruchtbares Feld zu betrachten, auf das Saat gestreut werden kann, damit sie unter der flammenden Wärme der Phantasie wachse. Daher ist es unser Ziel, das Kind nicht nur zum blossen Verstehen zu führen und noch weniger, es zum Auswendiglernen zu zwingen, sondern seine Phantasie anzustossen, so dass es sich zutiefst begeistert» (Mont. 1996, S. 47).
Aber auch lhre Warnung kann ich gut nachvollziehen und habe das Problem der Phantasie folgendermassen abgewogen:
«Wer nicht diese Welt der Phantasie besitzt, ist nur ein armes Wesen. Aber das Kind, das zuviel Phantasie hat, ist ein unruhiges Wesen» (Montessori 1996, S. 122).
Ich habe den Eindruck, wir haben einen weiten pädagogischen Bogen geschlagen. Es war anregend, wie schon lange kein Gespräch mehr für mich. Eine Bitte bleibt dennoch; es ist die Frage nach der Unterrichtsorganisation. Konkret: Welchen Stellenwert geben Sie der Freiarbeit, mit der wir in der Montessori-Pädagogik unsere anthropologische Sicht von der Freiheit des Kindes in den Unterricht umsetzen?

W: Lassen Sie mich hierzu noch einmal biographisch werden. Einer Ihrer großen Mitstreiter in Deutschland, Paul Oswald, bat mich 1960 um ein Hauptreferat auf dem internationalen Montessori-Kongress, der in meinem Heimatland stattfinden sollte. Unter dem Titel «Die Tragik des Mathematikunterrichts» kam ich diesem Anliegen dann gerne nach. Es war ein willkommener Anlass, mich intensiver in Ihre Pädagogik einzulesen. Jahrzehnte später, in einem Beitrag zu meiner Würdigung, hat Oswald dieses Ereignis Revue passieren Iassen. Er war damals ausgesprochen nachdenklich in Bezug auf diese Frage der Unterrichtsorganisation und befürchtete Differenzen zwischen Ihnen, Signora Montessori, und mir. Ich hätte das nicht so tragisch empfunden, schließlich lernen wir am meisten aus solchen Differenzen. Ich konnt ihm aber folgendes schreiben, was ihn enorm beruhigte:
«Ihre Vermutung, ich hielte in den Klassen fest ,darf ich nicht langer als drei Tage auf mir sitzen lassen. Ich halte die Altersklasse für Unfug, ich sage es nur nicht immer, weil in der Öffentlichkeit daran heute so wenig zu ändern ist wie an einer Denknotwendigkeit. In der Odenwaldschule haben wir ja nie Klassen gehabt bis 1933. Was ich meine, ist immer nur die Gruppe. Dass die Gruppe die diskutierende (und auch nahezu gemeinsam meditierende) wesentlich ist, davon bin ich allerdings überzeugt, aber Sie gewiss auch» (Wagenschein, zitiert nach Oswald 1986, S.582).
Kollege Oswald war erfreut, dass so schnell auch in diesem Punkt volle Übereinstimmung erzielt worden war. Ich bin etwas langsamer als er, denn hier war zwar ein Plädoyer für die altersgemischte Lerngruppe formuliert worden, aber die so wichtige Frage der Freiarbeit blieb ausgeklammert. Und hier bin ich wohl doch breiter gefächert als Oswald es sehen möchte. Und dies hat Hintergründe: Meine unterrichtliche Heimat, die Physik, ist in Deutschland ein Fach der Sekundarstufe, also von Klasse 5 aufwärts. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, Signora Montessori, gehen Sie von einer bei uns nur als Ausnahme zur Verfügung stehenden sechsjährigen Grundschulzeit aus. Zentrum der Aktivitäten ist die freie Wahl der Arbeit durch die Schüler. Physik als Fachunterricht erst jenseits des zehnten Lebensjahres ansetzend, ist insofern eine Schulrealität, die Ihrer montessorianischen Konzeption widerspricht. Aber auch eingedenk dieser Diskrepanzen zwischen Wunsch und Wirklichkeit wage ich folgende Überlegung. Gehen Sie im Rahmen der Freiarbeit tatsächlich nur mit fünf, sechs oder sieben besonders interessierten Schülern ins Planetarium, während der Rest in der Schule bei seinen Aufgaben verbleibt? In Montessori~Einrichtungen wird viel musiziert; gehört dazu nicht auch das Singen im Chor als recht uniforme Gruppenveranstaltung? Natürlich sind das provokante Fragen, aber sie sollten auf etwas hinweisen: Bedarf nicht gerade auch die Kosmische Erziehung der flexiblen Struktur, d.h. neben der Freiarbeit die Projektmethode und/oder der Epochenunterricht? Ich plädiere für eine grosse Flexibilität der Unterrichtsorganisation.

M: Herr Wagenschein, auch hier muss, nein möchte ich Ihnen zustimmen. Mir war es nicht mehr selbst vergönnt, die Probleme der Sekundarstufe umfassend und eingehend anzusprechen. Ich würde mir deshalb für meine Nachfolger wünschen, dass sie jene Klarheit und Freiheit des Denkens entwickeln, die zur Weiterentwicklung meiner Pädagogik notwendig ist, die Sie, Herr Wagenschein, hier so beispielhaft in unser Gespräch eingebracht haben. Ich sehe die Notwendigkeit, unser Gespräch wahrhaft weiterzuführen. Soviel lässt sich für eine solche Fortsetzung heute schon andeuten: Ich glaube, wir können Ihre Anregungen für eine andere Pädagogik in der Sekundarstufe dringend gebrauchen. Nicht für ihre Imitation, aber hir eine Prüfung und Bereicherung unserer eigenen Praxis. Ich hoffe aber auch, dass Sie animiert worden sind, sich Gedanken zu der Verwirklichung Ihres Ansatzes in der Primarstufe zu machen. Wir besitzen hier einen reichen Fundus, das möchte ich mit ein bisschen Stolz festhalten.

W: Das Vergnügen mit Ihnen zu diskutieren war auf meiner Seite, Signora Montessori, ein tiefer Dank meinerseits für diesen Dialog. Ich bin sicher, er wird weitergehen. Ihre Vorschläge hierfür machen mich neugierig.


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Literatur:

Heimbring, D.: Montessori-Pädagogik und naturwissenschaftlicher Unterricht. Aachen 1992

Holtz, A.: Die Schule als Haus zur Welt. Ulm 1997

Montessori, M.: Kosmische Erziehung. Freiburg 1996
Oswald, P.: Ein unerträglicher Verdacht. Neue Sammlung 1986 (Heft 1), S.581-583

Wagenschein, M.: Ursprüngliches Verstehen und exaktes Denken. Stuttgart 1965

Wagenschein, M.:Erinnerungen für morgen. Weinheim 1983

Wagenschein, M.: Die Sprache zwischen Natur und Naturwissenschaft. Marburg 1986

Wagenschein, M.: Kinder auf dem Wege zur Physik. Weinheim 1990

Wagenschein, M.: Die Pädagogische Dimension der Physik. Aachen 1995

Wagenschein, M.: Naturphänomene sehen und verstehen. Stuttgart 1995a

Wagenschein, M.: Verstehen lehren. Weinheim 1997

<- Zum Autor:
Axel Holtz (Jg.1955) ist Sonderschullehrer für verhaltensgestörte und sprachbehinderte Kinder sowie Montessori-Pädagoge Er arbeitet seit 1979 an verschiedenen pädagogischen Einrichtungen. Seit 1983 ist er im Montessori-Zweig der Astrid-Lindgren Schule in Ulm tätig, Vorstandsmitglied im Montessori-Förderverein Ulm/Neu-Ulm. Umfangreiche Tätigkeiten als Fortbildungsreferent im Bereich der Montessori Pädagogik und der Sprachförderung. Mehrere wissenschaftliche und sprachtherapeutische Buchpublikationen sowie Kinderbücher; zuletzt: Montessori-Pädagogik und Sprachförderung, 1994; (als Herausgeber:) Clara Grunwald: Das Kind ist der Mittelpunkt, 1995; Die Schule als Haus zur Welt, 1997; Grundlagen der Kosmischen Erziehung, 1998. Zusammen mit Ulrich Klemm Herausgeber der Taschenbuchreihe «Ulmer Beiträge zur Montessori-Pädagogik».

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