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Peter Stettler *


Die Sprache im naturwissenschaftlichen Unterricht



Vortrag gehalten am 16. Oktober 1999

am 3. internationalen Montessori-Symposion am Montessori-Zentrum in Wien **



© Schriften der Schweizerischen Wagenschein-Gesellschaft
Nr. 13/2000


1 Martin Wagenschein

Es ist nichts Besonderes, wenn jemand für etwas Besonderes ausgezeichnet wird. Wenn aber ein Physiker den Preis einer "Stiftung zur Reinheit der deutschen Sprache" zugesprochen bekommt, mag das doch Verwunderung erregen. Und das geschah am 18. September 1985 im Prachtssaal der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel wenige Schritte vom Haus entfernt, in dem Lessing wirkte.

Wer war der Preisträger? An seinem 70. Geburtstag schrieb er über sich selbst in sein Tagebuch [1] : "Ein Physiker? - Kaum: Ist er nicht viel mehr einer, der sich der Physik und der Mathematik früh in die Arme warf, um den Rest seines Lebens damit zu verbringen, sich diesen Armen zu entwinden?

Ein Pädagoge: - Kaum: Eher ein im Kontakt mit Menschen Gehemmter und nach nichts mehr als Ihrer Bedürftiger, der die Sehnsucht erfüllt findet im Unterricht, bei dem er mit den Anderen im Spiegel der Sache sich vereint."

Als er den Preis der "Henning-Kaufmann-Stiftung" im Empfang nahm, stand Martin Wagenschein in seinem 90. Lebensjahr. Sein Festvortrag trägt den Titel "Die Sprache zwischen Natur und Naturwissenschaft". Nun könnte ich es mir einfach machen und Ihnen diesen Vortrag vorlesen [2]. Ich beschränke mich auf den Anfang. Nach dem Dankeswort sagte Wagenschein [3]:
"Meine Freude [über die Verleihung des Preises] ist ungemein, denn ich habe das Gefühl, dass Sie mich und meine Arbeit in der Mitte erkennen und anerkennen, in der es die Spaltung nicht gibt nicht geben muss - zwischen den beiden Arten, die Natur zu sehen, der gemüthaften und der physikalischen."

Wenn ich im Folgenden an diesem Montessori-Symposion nur von Wagenschein und seinem Werk spreche, so nicht aus fundamentalistischen oder gar missionarischen Gründen, sondern um eine Position zu beziehen für das Gespräch, das zwischen uns bereits stattfindet und weiter stattfinden soll. Und Gespräche kann man nicht vom Katheder aus führen.

2 Texte über den Mond

Im Sinne des exemplarischen Prinzips möchte ich meine Überlegungen zur Bedeutung der Sprache im naturwissenschaftlichen Unterricht fast ausschließlich an einem einzigen Gegenstand erläutern: Vom Frankfurter Erziehungswissenschaftler Horst Rumpf angeregt, wähle ich den Mond [4]. Der Mond ist in der Sprache der Lehrkunstdidaktiker ein Menschheitsthema [5], d.h. "ein Thema, das die Menschen anhaltend und immer wieder neu beschäftigt hat als ein Gegenstand der Neugier, des Empfindens und des Nachdenkens". Jedes Kind kennt ihn, alle Kulturen der Menschheit haben sich mit ihm auseinandergesetzt, er ist ein Freund der Verliebten, ein Feind der Schlafsuchenden und an ihm fand Isaac Newton die allgemeine Schwere und bildete daraus den Begriff der Gravitation.

Zunächst lese oder zeige ich Ihnen sieben verschiedenartige Texte über den Mond z.T. mit kurzen Kommentaren:

Erster Text:
mittlere Entfernung von der Erde 384 400 km
mittlere numerische Exzentrizität 0.0549
mittlere Neigung gegen die Ekliptik 5° 08' 43"
siderische Umlaufszeit 27.32166 d
synodische Umlaufszeit 29.53059 d
mittlere Bahngeschwindigkeit 1.023 km/s
Umlaufszeit des Knotens 18.61 a
Äquatordurchmesser 3476 km
Volumen 2.199 10^10 km³
Masse 7.348 10^22 kg
mittlere Dichte 3343 kg/m³
Schwerebeschleunigung Oberfläche 1.62 m/s²
mittlere Albedo 0.067
Libration 59 %


Zweiter Text:
An den Mond

Füllest wieder Busch und Tal
Still mit Nebelglanz,
Lösest endlich auch einmal
Meine Seele ganz;

Breitest über mein Gefild
Lindernd deinen Blick
Wie des Freundes Auge mild
Über mein Geschick.

...

Was ist das für ein Mond, den Goethe hier anspricht? Offensichtlich ist es ein völlig anderer als der in der Tabelle beschriebene. Wieviele Monde gibt es denn? Einer der eindrücklichsten Essays von Martin Wagenschein trägt den Titel "Die beiden Monde" [6]. Dabei unterscheidet er den Mond der Dichter vom Mond der Physiker. Ich komme am Schluss wieder darauf zurück.

Im dritten Text lassen wir den Protagonisten in Max Frischs Roman "homo faber" zu Worte kommen [7]:
"Ich habe mich schon oft gefragt, was die Leute eigentlich meinen, wenn sie von Erlebnis reden. Ich bin Techniker und gewohnt, die Dinge zu sehen wie sie sind. Ich sehe alles, wovon sie reden, sehr genau; ich bin ja nicht blind. Ich sehe den Mond über der Wüste von Tamaulipas - klarer als je, mag sein, aber eine errechenbare Masse, die um unseren Planeten kreist, eine Sache der Gravitation."

Um darüber Klarheit zu gewinnen, welches der zuständige Mond für die Menschheit des ausgehenden Jahrhunderts ist, kann man z.B. in einem Konversationslexikon unter "Mond" nachschlagen [8], und so kommen wir zum vierten Text:
"Mond, (althochdeutsch mano, zu lat. mensis «Monat»]
1) Begleiter eines Planeten
2) der einzige natürliche Begleiter der Erde (Erdmond)
Der Mond umläuft die Erde auf einer nahezu kreisförmigen Keplerschen Ellipse in 27 Tagen, 7 Stunden, 43 Minuten, 11,5 Sekunden (siderische Umlaufszeit) und dreht sich dabei einmal um seine eigene Achse (gebundene Rotation). Die Mondbahn hat eine Exzentrizität von 0,0549 usw.
Rotation und Umlaufszeit haben die gleiche Periode, sodass der Mond der Erde immer die gleiche Seite zuwendet; infolge der Libration sind 4/7 seiner Oberfläche zu übersehen. Die Mondphasen, deren Ablauf man als Mondwechsel (Lunation) bezeichnet, werden durch die Stellung (Aspekte) Sonne-Mond-Erde bestimmt. Bei Neumond steht der Mond zw. Erde und Sonne, d.h., die der Erde zugewandte Seite ist nicht beleuchtet. Bei Vollmond steht der Mond der Sonne genau gegenüber, d.h., die gesamte sichtbare Mondoberfläche ist beleuchtet. Zw. Neumond und Vollmond ist zunehmender Mond, danach abnehmender Mond. Bei Vollmond sind Mondfinsternisse, bei Neumond Sonnenfinsternisse möglich. Die Zeit von Neumond bis Neumond ist die synodische Umlaufszeit (Monat).
Der Reflexionsgrad (Albedo) der Mondoberfläche ist nur 0,067, etwa wie der von Lava und Bimsstein. ...
In keiner der zur Erde gebrachten Proben konnten Wasser oder organ. Verbindungen nachgewiesen werden. ...
Die Einwirkung des Monds auf die Erde besteht in erster Linie in den Gezeiten; Einflüsse auf das Wetter sind nicht nachweisbar."

Der Text im Konversationslexikon entspricht weitgehend dem Text in einem astronomischen Lexikon. Der "Mond an sich" ist also der astronomische bzw. der physikalische Mond, der Mond, den der "homo faber" meint. Der Lexikon-Text ist präzise und wissenschaftlich korrekt. Seine Zusammenfassung wäre die Tabelle. Aber wird er von Kindern oder Menschen, die sich nur gelegentlich mit astronomischen Phänomenen beschäftigen, verstanden?

Hier schiebe ich ein kurzes Intermezzo ein: Wenn ich vor einer neuen Klasse stehe, beginne ich den Physikunterricht oft mit der Frage, wie die Mondphasen zustande kommen, d.h. wie es kommt, dass man nicht immer den ganzen Mond sieht. Das ist ja im Lexikon-Text genau beschrieben und es sollte den Gymnasiastinnen und Gymnasiasten vom Grundschulunterricht her oder aus der Geographie bekannt sein. Um Gruppeneffekte zu vermeiden, lasse ich die Antworten jeweils aufschreiben. Dabei zeigt es sich, dass manchmal über 80% der Klasse den Erdschatten für die Entstehung der Mondphasen verantwortlich macht.
Wagenschein hat dasselbe erlebt und schreibt dazu [9]:
"Nicht die Unkenntnis als solche ist es, die hier bestürzt. Anständige Unkenntnis, ehrliche, von schwierigen Dingen, gehören zur Bildung. Aber hier ist die Wahrheit leicht zu sehen; und noch leichter wäre zu bemerken, dass es der Erdschatten unmöglich sein kann, der den Mond aushöhlt. Denn der Sichelmond steht am Himmel niemals weit ab von der Sonne und nie ihr gegenüber. ... Der moderne Mensch hat hier also oft gerade das verlernt, was die Naturwissenschaft ihn hätte lehren können: einer Sache gewahr werden, beobachten. Statt zu wissen, was er sehen könnte, wenn er gelernt hätte, hinzuschauen, hat er leere Sätze bereit ... Er hat es durch sogenanntes Lernen verlernt."

Im naturwissenschaftlichen Unterricht ist zweifelsfrei der Mond der Physiker zuständig. Aber haben die Wissenschaftler immer so nüchtern über den Mond geschrieben, wie der Brockhaus-Autor? Schauen wir einmal bei Galileo Galilei nach, der ja unstreitig ein Experte war: In seinem "Sternenboten" (Sidereus Nuncius) schreibt er [10] (fünfter Text):
"Solange der Mond - sowohl vor als auch nach Neumond - nicht weit von der Sonne sich befindet, ist seine Kugel nicht nur auf der Seite, wo sie mit leuchtenden Hörnern geschmückt ist, für uns sichtbar, sondern ein zarter schwach leuchtender Rand scheint auch den Kreis des finsteren, d.h. der Sonne abgekehrten Teils nachzuzeichnen und vom dunkleren Hintergrund des Himmels abzuheben. Bei genauerem Hinschauen aber werden wir sehen, dass nicht nur der äußerste Saum des finsteren Teils mit einer gleichsam unsicheren Helligkeit leuchtet, sondern dass das ganze volle Antlitz des Mondes - d.h. dasjenige, das noch nicht vom Sonnenglanz berührt wird - von einem gewissen, gar nicht schwachen Licht aufgehellt wird. ... Da also ein derartiger sekundärer Glanz weder ein angestammtes Eigenlicht des Mondes, noch von irgendwelchen Sternen, noch von der Sonne geborgt ist und da in der Weite des Weltalls kein anderer Körper mehr übrig ist außer nur noch der Erde - was, bitt' ich, müssen wir da vermuten? Was müssen wir vorbringen? Doch nicht etwa, dass der Mondkörper selbst ... von der Erde Licht empfangt? Was ist daran verwunderlich? Jawohl: in gerechtem und dankbarem Austausch zahlt die Erde dem Mond eine gleiche Beleuchtung zurück, wie sie sie auch selbst fast die ganze Zeit über vom Mond im tiefsten Nachtdunkel empfängt.
Ich will diese Tatsache klarer dartun: ... Solange nämlich der Mond um Neumond unter der Sonne steht, sieht er die Oberfläche der der Sonne ausgesetzten und von lebhaften Strahlen erleuchteten Erdhalbkugel voll und empfängt das von ihr zurückgeworfene Licht."

Was sollen Redewendungen wie "mit leuchtenden Hörnern geschmückt" oder "das volle Antlitz des Mondes" in einem wissenschaftlichen Text? Was sollen Fragen, wenn die Sachverhalte klar sind? Hielt Galilei Erde und Mond für Lebewesen, wenn er von "gerechtem und dankbarem Austausch" spricht' und dass der Mond die erleuchtete Erdhalbkugel sehen könne?

Wagenschein nennt die Schreib- oder Sprechweise, von leblosen Dingen so zu reden (oder gar zu ihnen), als wären sie lebendig, animistisch [11]:
"Es ist einfach meine Erfahrung mit Schülern und mit Studenten, dass das animistische Reden den Zugang zur Physik erleichtert. ... Nur dann lösen sich die Gesichter, und ein Lächeln steigt in die Augen der Studenten. Sie fühlen sich ein, versetzen sich in das Phänomen. ... Animistische Rede ist teilnehmende Rede."

Eine zweite Textprobe aus der Galilei-Zeit stammt aus der Feder von Johannes Kepler, welcher immerhin als erster unser Planetensystem richtig und maßstäblich korrekt beschrieben hat. In seinem sehr persönlichen Schwäbisch schreibt er über die Bewegungen der Erde und des Mondes [12]:
"Sie [die Erde] dräet sich aber 365 mahl ehe vnd dan sie einmal vmb die Son herumb khompt. Wan man baide bewegnus in einander menget, so vergleicht es sich einer kugel darmit man zum kegeln scheübt, die waltzet oder dräet sich auff dem boden vnd khompt vnderdeß also fort jren weg hinaus nach den Kegeln. ...
Die erd ist wie ein Reütter, der seinen weg fort reittet, der Mond wie ein schnaackh oder Breem, der dem Reütter vnd Roß vmb jre köpffe herumb sumset, bald hinten, bald fornen, oder wie ein Hund pflegt mitzulauffen hin vnd her zu schwaiffen."

Auf diese Weise könnte man Kindern das Kreisen des Mondes um die fortlaufende Erde erklären. Aber Kepler schrieb nicht für Kinder, sondern es handelt sich hier um eine naturphilosophische Auseinandersetzung mit Aristoteles!

Der letzte (7.) Text über den Mond stammt von Leonardo da Vinci.
Im ersten Satz beschreibt er das Zustandekommen der Mondphasen:

La luna non ha lume da sè
se non quanto ne vede il sole,
tanto l'allumina;
della qual luminosità,
tanto ne vediamo
quanto è quella che vede noi.

E la sua notte
riceve tanto di splendore,
quanto e quello che li prestano
le nostre acque nel refretterli
il simulacro del sole,
che in tutte quelle che vedano
il sole e la luna si specchia.

Der Mond hat kein Licht von sich aus,
und soviel die Sonne von ihm sieht,
soviel beleuchtet sie;
und von dieser Beleuchtung
sehen wir soviel,
wieviel davon uns sieht.

Und seine Nacht
empfängt so viel Helligkeit,
wie unsere Gewässer ihm spenden,
indem sie das Bild der Sonne spiegeln,
die sich in allen jenen spiegelt, welche
die Sonne und den Mond sehen.

Im zweiten Satz erklärt Leonardo, wie es zur aschgrauen Beleuchtung des dunkeln Restes des Sichelmondes kommt, von der auch in Galileis Text die Rede war.

Diesen Text hat Martin Wagenschein geliebt und an verschiedenen Orten seines Werkes zitiert. Er schreibt dazu [13]:

"Leonardo schaut, versteht, denkt und spricht in Einem; nicht über das Papier gebeugt, sondern aufgerichtet, in den Raum sich versetzend. Sein Blick webt das Verstehen, hin- und herwandernd auf dem von Lichtfluten gebildeten Dreieck Mond-Sonne-Erde. Hier ist keine Spaltung, nichts was dazwischenkommt, nur Wirklichkeit und schauende, denkende, sprechende Einwurzelung in sie. Dieses Stück Prosa, keineswegs «poetisch» gemeint, erscheint mir als ein kostbares Muster für die endgültige, präzise Fassung einer naturwissenschaftlichen Einsicht, die in der Wirklichkeit des Gegenstandes wie in der Wärme der Muttersprache bleiben darf."

3 Sprache, Spaltung und Bildung

> Was wollen wir im Unterricht der Naturwissenschaften erreichen? Haben wir unser Ziel erreicht, wenn die Kinder und jungen Menschen den physikalischen Mond als den richtigen anerkennen? Was aber, wenn in der Deutschstunde "Füllest wieder Busch und Tal" behandelt wird? Ist es wirklich nichts als Täuschung, wenn man sich über die Schönheit des Mondes freut, wenn man ihn dann und wann sogar etwas unheimlich findet, oder wenn man sich gar an ihn wendet, wie Goethe? Da haben wir die Spaltung, von der Wagenschein zu Beginn seines Festvortrages sprach. Und wie diese Spaltung sich schon im Stundenplan der Regelschulen zeigt (Sprachen versus Naturwissenschaften) so findet man sie auch in den Seelen der meisten Menschen der abendländischen Gegenwart. Zudem zeigt sie sich auch im Gebrauch der Sprache, es gibt stark - vereinfacht - dichterische und wissenschaftliche Texte.

Welchen Stellenwert wir der Sprache im naturwissenschaftlichen Unterricht einräumen, hängt von den Bildungszielen ab. So können wir das Wissen über die Natur - ebenfalls vereinfacht - zwischen die Pole Verfügen und Verstehen spannen [14].

Während sich meine Polarität Verfügen und Verstehen auf das erworbene Wissen bezieht, richtet der Heidelberger Erziehungswissenschaftler Peter Buck seinen Blick auf das Denken: Dabei unterscheidet er zwei Wissenschafts-Zugriffe, die er mit präzis und exakt bezeichnet, weil das lateinische praecidere «abschneiden, abhauen, sich kurz fassen», exactus dagegen «genau, vollkommen ausgeführt» bedeutet [15]. Die Verbindung zum Leben, zum Menschen, ist demnach ein Merkmal des Exakten. Präzise Aussagen dagegen entstehen durch Abstraktion, durch "absehen von". So kann z.B. der Mond als Datenmenge sehr präzise beschrieben werden.

Zurück zu Verfügen und Verstehen. Das Verfügungswissen spaltet sich seinerseits an der Frage, für wen dieses Wissen verfügbar sein soll: als ein vorläufig noch vom Staat verordnetes Paket an Wissen, ohne welches Allgemeinbildung nicht sanktioniert wird, oder als Verfügungswissen für die Wirtschaft, die Industrie und den Wissenschaftsbetrieb.

Die Didaktik des Verfügungswissens ist auf Effizienz ausgelegt. Ein Unterricht, der sich dem Verfügungswissen bzw. der präzisen Begriffsbildung verschreibt, stellt - bewusst oder unbewusst - die Sachverhalte der Wissenschaft so dar, als würde ihre Gesamtheit die Welt so beschreiben, wie sie eigentlich ist. Wie oft wurde ich als Physiklehrer gebeten: "Sagen Sie doch jetzt, wie es ist", insbesondere vor Prüfungen. Denn der Wissensstand in Physik wird in der Regel mit Aufgaben der folgenden Art geprüft:

"Die Masse des Mondes beträgt 0.0123 Erdmassen, sein mittlerer Radius 1738 km. Wie groß ist die Schwerebeschleunigung auf dem Mond?"

Wer das richtig rechnet, was keineswegs schwierig ist, kommt auf den Wert 1.62 m/s², auch wenn er keine Ahnung hat, was die ,,Quadratsekunden" in der Maßeinheit bedeuten.

Auch der Unterricht, der sich dem Verfügungswissen verschreibt, kommt nicht ohne Sprache aus. Diese Sprache ist präzis, knapp und sachlich. So könnte etwa die zarte Aufhellung der Mondscheibe zur Zeit der schmalsten Sichel wie folgt erklärt werden: "Zweimalige diffuse Reflexion des Sonnenlichts, zuerst an der Erde, dann am Mond". Aber meint dieser Satz wirklich den Mond, den wir am Himmel sehen oder beschreibt er nur eine Zeichnung, ein Schema?

Als Gegenpol zum Verfügungswissen fordert Wagenschein das Verstehen [16]:
"Als fundamentales Ziel des Physikunterrichts sehe ich, Physik verstehen zu lehren. Verstehen als Akt des Verstehenden, der ihm von keinem anderen abgenommen oder vorgemacht werden kann."

Wenn es ums Verstehen geht so ist der Mensch, der verstehen soll, notwendig dabei. Aber er fehlt in den Texten der Naturwissenschaft und der Lehrbücher der höheren Schulstufen, die ja fast ausnahmslos im Stil des Verfügungswissens geschrieben sind. Und in den Lehrbüchern für die "Kleinen" werden diese in bisweilen peinlicher Vertraulichkeit angeredet, etwa [17]:

"Wir [!] merken uns: Das Licht breitet sich geradlinig aus. Ein Lichtstrahl ist nur sichtbar, wenn er entweder direkt ins Auge fällt oder wenn er von irgendwelchen Gegenständen reflektiert wird"

Sind da noch Fragen? Schade, denn dieser Text ist sachlich nicht richtig: Das Licht kann man nämlich nie sehen, sonst könnte man sagen wie es aussieht. Licht besteht keineswegs aus Strahlen, wie etwa ein Pflanzenstengel aus Fasern besteht. Lichtstrahlen sind eine praktische menschliche Erfindung, die helfen, den Weg des Lichtes besser zu verstehen. Und mit diesem Lehrbuchtext werden die Leser durch die scheinbare Klarheit verdummt, und ich frage mich, ob sich der Autor über die Sachlage selber im Klaren ist.
Als Gegenbeispiel lese ich einen Essay und stelle Ihnen dabei Martin Wagenschein auch als Erzähler [18] vor [19]:

Das Licht und die Dinge:
"Als er erwachte, schien die Sonne auf sein Bett: Er schüttelte die Decke zurecht, legte sich zurück und blickte in die Welt der Sonnenstäubchen, die er aufgewirbelt hatte. Lichtenberg fiel ihm ein: «Was man so prächtig Sonnenstäubchen nennt, sind doch eigentlich Dreckstäubchen.» Ihr glänzendes Treiben vor dem Hintergrund des dunklen Schrankes erinnerte ihn an die Bewegungen von Schwärmen aufgescheuchter Fische. Nach und nach werden sie ruhiger und einig in einem ganz langsamen Herniedersinken, er wundert sich, wie langsam. Manche flimmerten dabei, im Wechsel hell aufblitzend und erlöschend, und er dachte gleich an die Art, wie manche Blätter drehend fallen, so dass einmal eine glänzende Breitseite, dann wieder eine unscheinbare Kante in den Blick kommt. So verrieten diese Stäubchen ihre winzige Schuppengestalt ohne doch ihren Umriss sehen zu lassen.

Allmählich wurde sein Blick aber nicht mehr von den einzelnen Sternchen angezogen, sondern vom Ganzen ihrer Wolke, deren Grenzen er freilich nicht überschauen konnte: Er klopfte wieder auf die Decke, und aus dem Hellen trieben die Stäubchen verlöschend ins Finstere. Anderswo strömten dafür aus der Dunkelheit neue ein in den auserwählten Bereich, der aus grauem Staub silberne Sterne machte. Das ganze Zimmer musste voll von diesen Stäubchen schweben, aber leuchten durften sie nur in dem Lichtbalken, der starr und wie gleichgültig im Raume stand, während sie ihn durchspielten. Nicht gerade frei, aber doch anmutig ihrer Führung folgend: zwei Führungen: der immer neu gestalteten Strömung - fächerig oder wirbelnd - die eines ans nächste band, und der eintönigen allen gemeinsamen Nötigung des Fallens. Aber der Lichtbalken stand unbewegt.
Solange die Sonne schien! Eine Wolke trat vor sie, und alles erlosch. Der starre Balken und sein lockeres Sterngetriebe, zugleich mussten sie vergehen. Denn sie waren gar nicht zweierlei, das sah er jetzt. Ohne Lichtbalken gab es die Stäubchen nicht zu sehen, und ohne die Sternchen war kein Lichtbalken da. So also, sagte er sich, ist das Licht: An sich selber ist es nicht zu sehen, nur an den Dingen; und auch die Dinge sind aus sich selber nicht zu sehen, sondern nur im Licht."

4 Das sokratische Gespräch

Die Berücksichtigung der Sprache in einem naturwissenschaftlichen Unterricht, der sich dem Verstehen oder dem Orientierungswissen verpflichtet fühlt, ist auf verschiedenen Ebenen gefordert.

Hier möchte ich die Aufmerksamkeit auf das Unterrichtsgespräch lenken. Martin Wagenschein nennt seine Gesprächskultur "sokratisch", und der Hannoveraner Philosoph Gustav Heckmann bestimmt diesen Begriff ziemlich unsokratisch, dafür präzis [20]:

"Ein Gespräch ist sokratisch, wenn es dem einzelnen Teilnehmer dazu verhilft, den Weg vom konkreten Erfahrenen zur allgemeinen Einsicht selber zu gehen. ... Nur indem der einzelne diese Arbeit leistet, gewinnt er Einsicht."

Während Heckmann sokratische Gespräche in Philosophieseminarien an der Uni führt, waren Wagenscheins Gesprächspartner Kinder und später die erwachsenen Teilnehmerinnen und Teilnehmer seiner Seminarien er machte da keinen Unterschied [21]:

"[Der Lehrer sollte] vermeiden, dass sich in den kleinen Geistern so etwas festsetzt wie «Das Licht besteht aus Strahlen» oder «Die magnetische Anziehung wird durch Kraftlinien bewirkt». Er wird, wenn das einer so dahinsagt, nichts weiter zu tun brauchen als zu fragen: «Wieviele sind es denn, kann man sie zählen, unterscheiden? Wie dick sind sie? Was ist dazwischen?» Es genügt, diese Fragen zu stellen. Zu sagen braucht man nichts. Die Kinder sagen die Antworten von selber."
Eine der reizvollsten Spielarten der Wagenschein-Pädagogik ist die produktive Verwirrung [22]:
"Ein genetischer Lehrgang wird also auch insofern im sokratischen Gespräch seinen Weg suchen, als ihm Verwirrungen nur recht sein können. Der Lehrer wird sie sogar begünstigen. ... Wir stehen auf derselben Seite mit unseren Schülern, der Sache gegenüber, so dass sie das Recht, ja die Pflicht, zu verwirren, uns zugestehen; (wie übrigens wir dasselbe Recht ihnen). Eine gewisse (wenn auch nicht unbegrenzte) Verwirrbarkeit halte ich für eine positive Eigenschaft sogar des Lehrers: sie fördert die Verständigung. Ich fürchte, dass ein Lehrer, der gar nicht verwirrbar ist (und das in seinem Fach), nicht der beste sein wird. ...

Für Gegenstände, die verstanden werden wollen, ... sollte das naheliegende und verwirrend Falsche aufs Schärfste ins Auge gefasst werden und deshalb möglichst an der Tafel stehen."

Ein sokratischer Unterricht kann niemals durch den Computer oder das Internet wegrationalisiert werden. Und manchmal - leider selten - schlägt sogar dem staatlichen Gymnasium eine Sternstunde des genetischen Unterrichts:

Szene:
Eine schwere Stahlkugel hängt an einer langen, starken Schnur, die an der Decke befestigt ist. Der Lehrer lenkt die Kugel aus und gibt ihr einen Stoß senkrecht zur Auslenkung. Die Kugel beschreibt dann über den Köpfen der Schülerinnen und Schüler einen schönen Kreis. Weil die Schnur dann den Mantel eines Kreiskegels in die Luft zeichnet, nennt man das Pendel in dieser Spielart «Kegelpendel»:

Lehrer: Wer kann sagen, welche Kräfte hier im Spiel sind?

Joelle: Am Anfang ist es die Zentrifugalkraft. Gegen den Schluss wird es nach innen gezogen.

Daniel (skeptisch): So halb-halb.

Die Schülerinnen und Schüler schauen Daniel fragend an:

Daniel: Halb Zentrifugalkraft, halb Gewichtskraft.

Dalia: Ich kann mit dem Wort «Zentrifugalkraft» nichts anfangen.

Andreas: Die Kugel kreist um ein Zentrum, das nicht existiert also: das Zentrum ist höher, beim Haken oben.

Joelle: Es existiert schon, man sieht es nur nicht.

Cyril: Die Kugel rotiert um eine vertikale Achse, die man sich vorstellen muss. Sie wird von der Erde angezogen.

Florence: Sie rotiert weiter von der Erde entfernt, als wenn sie stillstünde, also muss sie gezwungenermaßen zum Mittelpunkt kommen.

Lehrer: Du meinst wegen der Erdanziehung?

Florence: Ja aber wahrscheinlich ist das falsch.

Lehrer: Die Ursache der Bremsung und des Hinstrebens zum tiefsten Punkt ist doch hauptsächlich der Luftwiderstand. Könnte man sich denken, dass die Kugel im luftleeren Raum ständig rotieren würde etwa wie der Mond oder ein Erdsatellit?

Matthias: Sie würde auch im luftleeren Raum zur Mitte kommen. Beim Satelliten ist die Anziehungskraft immer in der Mitte der Bahn. Das Pendel dagegen wird nach unten gezogen.

Lehrer: Wer oder was zieht denn alles an der Kugel?

Joelle: Die Zentrifugalkraft und die Anziehungskraft.

Lehrer: Stellt euch vor, ihr würdet in der Turnhalle an den Ringen so kreisen wie die Kugel. Was zieht dann alles an euch?

Anna: Das eigene Gewicht...

Dalia: ... und die Erdanziehungskraft.

Lehrer: Ist das nicht dasselbe?
Dalia (leise): Doch!

Cyril: Auch die Schnur zieht. Die Schnur zieht mit gleicher Kraft wie die Kugel mit ihrem eigenen Gewicht nach unten zieht.

Lehrer: Zieht die Schnur immer gleich stark?

(Er bremst die Kugel, die immer noch ein bisschen Schwung hat und lässt sie dann ein paar Runden mit ganz kleiner Auslenkung um die Lotlage rotieren. Dann lenkt er sie weit aus und gibt ihr einen kräftigen Stoß, so dass sie bedrohlich hoch über den Köpfen kreist.)


Die Zeichnung an der Wandtafel

Cyril: Beim großen Kreis muss die Schnur viel mehr ziehen. Die Schnur hat dafür zu sorgen, dass die Kugel in gleicher Höhe bleibt.

Lehrer zeichnet ein Pendel an die Wandtafel. Zuerst wird die Gewichtskraft als Pfeil von der Kugel zur Erde eingezeichnet, was keinen Widerspruch erregt. Dann - auch ohne Probleme - die Schnurkraft.

Andreas (leicht vorwurfsvoll): Die Zentrifugalkraft ist gar nicht mitgerechnet! (Die Kraft «1» wird eingezeichnet).

Sergio: Ich würde sie in entgegengesetzter Richtung zur Schnurkraft zeichnen. (Die Kraft «2» wird eingezeichnet).

Allgemeine Ratlosigkeit.

Lehrer: Betrachten wir die Kräfte einmal vom sprachlichen Gesichtspunkt: Alles, was wir sagen, sagen wir in Sätzen. Ein einfacher Satz besteht doch aus einem Prädikat, einem Subjekt und einem Objekt. Probieren wir einmal solche Sätze für unsere Kräfte zu bilden.
Die Schülerinnen und Schüler machen mürrische Gesichter, weil sich ein Physik Lehrer erdreistet, in seiner Stunde über Grammatik zu sprechen!
Immerhin werden zögerlich die folgenden Sätze gebildet:

Lehrer: Wer oder was ist das Subjekt bei der Zentrifugalkraft? Wer oder was zieht oder drückt die Kugel nach außen?

Sergio (bestimmt): Die Kugel zieht sich selber nach außen.

Lehrer: Wie der Baron von Münchhausen?

Andreas: Die Zentrifugalkraft ist die Reaktion [23] auf die beiden Kräfte.

Lehrer: Das ist Newtonsche Magie.

Dalia: Es hat etwas mit der Geschwindigkeit zu tun.

Lehrer: Sicher, aber wir können Geschwindigkeiten nicht gegen Kräfte in Rechnung setzen - ich meine: mit Kräften vergleichen.

Dalia: Der Anfangsstoß! Der bestimmt alles!

Lehrer: Ja, das stimmt! - - - Aber was ist mit der Zentrifugalkraft?

Wieder allgemeine Ratlosigkeit!

Lehrer: Nehmen wir einmal an, dass der Faden plötzlich reißen würde. Was würde die Kugel dann machen? - Welche Kräfte wären dann noch wirksam?

Cyril: Die Schnurkraft fällt dann weg.

Lehrer: Welches wäre dann die Bahn der Kugel von oben und von der Seite gesehen?

Sandra: Sie würde geradeaus zur Wand fliegen - tangential.

Andreas: Und von der Seite wäre es ein Wurf - eine Parabel.

Lehrer: Nehmen wir weiter an: In dem Augenblick, wo die Schnur reißt, schaltet ein Dämon die Erdanziehung aus.

Anna (begeistert): Dann würde die Kugel geradeaus fliegen wie im All!

Lehrer: Die Erde und die Schnur halten die Kugel also davon ab, dieser Tangente zu folgen. Die Erde und die Schnur zwingen die Kugel also auf ihre Kreisbahn. - - - Und was ist nun mit der Zentrifugalkraft?

Schulhaus: Dingdong dingdong!

Wir nannten dieses Gespräch, das von zwei Schülerinnen protokolliert wurde, später "Der Tod der Zentrifugalkraft". Denn diese ist völlig überflüssig zur Erklärung von Kreisbewegungen, im Gegenteil, sie erschwert deren Verständnis. Geht man nämlich das, was die Physiker bedeutungsvoll "Kräfte" nennen, vom sprachlichen Gesichtspunkt an, dann können wir zwei Sätze bilden:

Einfacher geht es nicht mehr. Das "Unten" und "Oben" hebt sich gegenseitig auf, und es verbleibt eine Kraft nach innen, die man Zentripetalkraft nennt. Keine Spur von Zentrifugalkraft, und das sokratische Gespräch hat diesen Sachverhalt zu Tage gebracht.

Außer dem Anfangsstoß braucht die kreisende Kugel keinen Antrieb, es gibt ja nichts, das sie vorwärts zieht oder stößt, sie läuft von sich aus. An diesem Beispiel wird klar, was Isaac Newton unter dem Begriff "Trägheit" versteht [24]:
"Die Materie besitzt das Vermögen zu widerstehen; deshalb verharrt jeder Körper, soweit es an ihm ist, in einem Zustande der Ruhe oder der gleichförmigen geradlinigen Bewegung.

Die kreisende Kugel führt uns auch vor Augen, wie der Mond um die Erde kreist. Wäre er ganz allein, so würde er unaufhörlich geradeaus fliegen. Er wird aber von der Erde stets ins Zentrum seiner Bahn gezogen. Dazu wieder Newton [25]:

"Die Zentripetalkraft bewirkt, dass ein Körper gegen irgend einen Punkt als Zentrum gezogen oder gestoßen wird. ... Hieher gehört die Schwere, vermöge welcher ein Körper sich dem Mittelpunkt der Erde zu nähern sucht"
Nun sind wir am Ziel der Unterrichtseinheit, das jetzt in der Fachsprache der Physik formuliert ist (Newton hat keine Kinderbücher geschrieben). Zum genetischen Lehren gehört auch die Metamorphose von der Alltagssprache mit ihren Animosen im sokratischen Gespräch zur Fachsprache des Hefteintrags, vom Akt des Verstehens zur Sicherung des Verstandenen.

5 Schülertexte

Der schon erwähnte Peter Buck nennt die VII. Variation über zwei Metaphern Wagenscheinscher Didaktik (nämlich Einwurzelung und Verdichtung) "Die zwingende Rhythmik des Atmens" [26]:

"In John Holmes' Schule [in Burneside/GB] hatte ich eines meiner aufrüttelndsten pädagogischen Aha-Erlebnisse: die Einsicht - eigentlich eine Selbstverständlichkeit dass zum Lernen nicht nur Einatmen, sondern auch Ausatmen gehört, dass die Aufnahme der Weltzusammenhänge einen schöpferischen, künstlerischen Ausdruck der Wiedergabe unabdingbar braucht."

Damit meint Peter Buck natürlich nicht das Ausfüllen von Arbeitsblättern. Eine Möglichkeit, diese pädagogische Forderung zu erfüllen, besteht darin, die Schülerinnen und Schüler selber Texte schreiben zu lassen. An Schreibgelegenheiten fehlt es nicht - etwa:

Als Beispiel lese ich Ihnen Auszüge eines Aufsatzes zum Thema "Drehbewegung vor. Eine Gymnasiastin (9. Schuljahr) schreibt [28]:

"Wenn sich die Erde immer schneller drehen würde, was würde passieren? Der Mensch, der auf der Erde steht, würde sehen, wie es immer schneller Tag und Nacht wird, klar. Aber er würde auch leichter werden, weil er durch die Riesengeschwindigkeit nach außen gedrückt würde.

Die Drehbewegung der Erde hat zum Ergebnis, dass die Erde eine Abplattung hat. Denn wenn man einen Regentropfen immer schneller drehen würde, würde er auch flach werden. [...]

Das Kegelpendel heißt Kegelpendel, weil es in der Luft die Form eines Kegels macht. Zuerst braucht man nur einen Stoß zu geben, damit die Kugel sich bewegt. Danach wirken verschiedene Kräfte auf das Pendel ein:

Das Gleiche ist beim Mond, der sich um die Erde dreht. Die Erde zieht den Mond zu sich. Die Kraft der Erde wirkt beim Mond als Zentripetalkraft.

Wenn die Erde nicht wäre, würde der Mond auf seiner Bahn geradlinig wegfahren. Denn auch beim Kegelpendel: Wenn in einem Punkt die Schnur plötzlich reißen würde und jemand die Schwerkraft ausschalten würde, würde die Kugel einfach geradlinig und unendlich weiterfahren. Auch ein Formel-1-Auto, das in einer Kurve auf dem Öl ausrutscht' würde auf der Tangente der Kurve in die Mauer fahren. So ergibt sich das Trägheitsgesetz: Ein Körper verharrt in seinem Zustand der Ruhe oder der gleichförmig geradlinigen Bewegung, solange keine Kräfte auf ihn einwirken. Das ist auch die Grundlage der Physik von Newton."

Dass die Schülerin die Sache verstanden hat, erkennt man an der Sprache, das lässt sich nicht vom Internet herunterladen. Zwischen den Zeilen sind aber auch noch Spuren der Entstehung des erworbenen Wissens lesbar, Spuren des genetischen Unterrichtsverfahrens. So bleibt ja noch die offene Frage, ob es die Zentrifugalkraft überhaupt gibt (die Frage ist tatsächlich offen, denn es ist eine Frage des Standpunktes des Beobachters). Zudem sind im Text die Menschen noch anwesend: Die Verfasserin stellt sich durch ihren Schreibstil selber dar, und sie stellt auch Fragen an die Leserschaft wie Galilei es ja auch getan hat.

Im genetischen Unterricht erleben die Teilnehmenden, dass die Naturwissenschaft die Natur nicht beschreibt, wie sie ist, "sondern nur, wie sie einem bestimmten Anruf antwortet" [29]. Und da kommen wir wieder zu den "beiden Monden", dem Mond der Physiker und dem Mond der Dichter [30]:
"Dass [die Astronauten auf dem Mond] eine Wüste vorfanden, das können sie nicht den Dichtern vorwerfen. ... Dem Dichter liegt es ganz fern, den Mond aus der Nähe sehen zu wollen. So wie niemand auf den Gedanken kommt, ein befreundetes Menschengesicht aus einer Fingerbreite Abstand zu betrachten. Es gehört sich nicht. Wir erlauben es nur dem Arzt. ... Der Dichter sieht den Mond nicht «gegenständlich». Er erblickt ihn physiognomisch, als ein Gegenüber. ...

Aber welcher Mond ist nun der Mond selber? ... Es gibt für uns keinen Mond ohne uns. ... Da wir aber in verschiedenen Verfassungen leben können, so sind beide Monde wirklich. ... Wir können in der einen und wir können in der anderen Verfassung sein. ... Unsere ganze Freiheit aber gewinnen wir erst, wenn wir im Laufe eines tiefen Atemzuges umspringen können von der einen zur anderen, von einem Aspekt zum anderen."

Mit Wagenscheins Hinweis auf "Freiheit" ist die politische Dimension des genetischen Verfahrens angesprochen. Wenn das Verfügungswissen, welches ja ohne weiteres mit Lernprogrammen erworben werden kann, in den Schulen Priorität hat, so gibt es in der Physik nur einen Mond, den Mond, der in einer Tabelle beschrieben werden kann. Wir wissen alle, dass viele Bildungspolitiker seit dem Fall der Mauer kaum mehr etwas anderes im Sinn haben, als die Schulen nach den Prinzipien der Ökonomie zu führen und möglichst durchzurationalisieren. Damit fällt das zum Opfer, was ich unter Bildung verstehe. Denn [31]

"Wer nicht auch die Grenzen der Naturwissenschaft sehen lernt, kann durch sie nicht gebildet werden."

Wie fatal es ist, die Grenzen der Naturwissenschaften nicht zu beachten, zeigt der hybride Umgang mit den Kernen der Atome und der lebendigen Zellen.


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Anmerkungen:

<- * Zum Autor:
Peter Stettler (Jg. 1942), Studium der Physik, Promotion in Astrophysik an der ETH Zürich und am Observatoire de Genève; Physiklehrer an der Kantonsschule Freudenberg und am Liceo artistico in Zürich; Begegnungen und Briefwechsel mit Martin Wagenschein; bis 1996 Dozent für Fachdidaktik Physik am Didaktikum Aarau; Dozent an der Volkshochschule des Kantons Zürich; Kurse, Vorträge und Seminarien im Zusammenhang mit der Wagenschein-Pädagogik; bis 1999 Präsident der Schweizerischen Wagenschein-Gesellschaft.

<- ** Der Wortlaut des Vortrags wurde unverändert beibehalten.

<- [1] Peter Buck: Einwurzelung und Verdichtung - tema con variazioni über zwei Metaphern Wagenscheinscher Didaktik, Dürnau, 1997 (Verlag der Kooperative Dürnau), S. 11.

<- [2] Martin Wagenschein: Die Sprache zwischen Natur und Naturwissenschaft, Marburg, 1986 Jonas Verlag.

<- [3] Martin Wagenschein: Die Sprache zwischen Natur und Naturwissenschaft, Marburg, 1986 Jonas Verlag, S. 53.

<- [4] Horst Rumpf: Belebungsversuche Ausgrabungen gegen die Verödung der Lernkultur, Weinheim 1987 (Juventa Verlag)

<- [5] Hans Christoph Berg / Theodor Schulze: Lehrkunst - Lehrbuch der Didaktik, Neuwied, 1995 Luchterhand), S. 386.

<- [6] Martin Wagenschein: Erinnerungen für morgen- eine pädagogische Autobiographie, Weinheim (Beltz), 1989, S. 154 - 166.

<- [7] Max Frisch: homo faber - ein Bericht, Frankfurt/M (Suhrkamp) 1961,S. 33

<- [8] © 1999 Bibliographisches Institut & FA. Brockhaus AG

<- [9] Martin Wagenschein: Verstehen lehren, Weinheim, 1989 (Beltz), S. 62.

<- [10] Galileo Galilei: Sidereus Nuncius, hrsg. von Hans Blumenberg, Frankfurt/M., 1965 Sammlung Insel>, S. 98 ff; Rumpf:: Belebungsversuche S. 141 ff.

<- [11] M. W.: Die Sprache zwischen Natur und Naturwissenschaft S. 60/61

<- [12] Johannes Kepler: Einwände gegen Aristoteles, in: Nikolaus Kopernikus: Erster Entwurf seines Weltsystems Darmstadt 1986 (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 5.79

<- [13] M.W. Verstehen lehren S. 73. ff.

<- [14] Peter Stettler, Texte schreiben im Physikunterricht, Unterricht Physik 8 (1997) Nr. 37, S. 31-36.

<- [15] Peter Buck: Präzise und exakte Begriffsbildung, in: Vor-Lese-texte zu den vier Elementen, Grünigen 1996 © Schriften der Schweizerischen Wagenschein-Gesellschaft Nr. 6, S. 1-3
bzw. in: Peter Buck / Manfred von Mackensen: Naturphänomene erlebend verstehen, Köln 1996 (Aulis), 6. Auflage S. 153 ff.

<- [16] M.W. Verstehen lehren S. 137

<- [17] Martin Frey, Physikbuch für die Oberstufe der Volksschule, Zürich 1997 (Lehrmittelverlag des Kt. Zürich), S. 129.

<- [18] Fritz Kubli, Plädoyer für Erzählungen im Physikunterricht, Köln, 1998, (Aulis).

<- [19] M. W.: Naturphänomene sehen und verstehen, S.113.

<- [20] Gustav Heckmann: Das sokratische Gespräch 1981 Hannover, Schroedel Verlag S. 66

<- [21] Martin Wagenschein: Die Pädagogische Dimension der Physik, Braunschweig, 1962 Westermann), 3. Auflage S.144 / 145.

<- [22] M. W.: Verstehen lehren, S. 94 - 96.

<- [23] Hier spielt der Schüler auf das ihm - aber nur ihm! - bereits bekannte dritte Grundgesetz von Newton an (Actio = Reactio).

<- [24] Isaac Newton, Mathematische Prinzipien der Naturlehre, Darmstadt, 1963, (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), S. 21

<- [25] Newton: Mathematische Prinzipien der Naturlehre, S. 22

<- [26] Peter Buck: Einwurzelung und Verdichtung, S. 55

<- [27] Stettler: Unterricht Physik 8 (1997) Nr. 37, S. 35

<- [28] Valentina Rivelli, Klasse 3a, Kantonsschule Freudenberg, Zürich, 1.7.99

<- [29] M. W.: Die Pädagogische Dimension der Physik, S.128.

<- [30] M. W.: Erinnerungen für morgen, S.159.

<- [31] M. W.: Ursprüngliches Verstehen und exaktes Denken, Bd. II, Stuttgart, 1970 (Klett), 5.134.






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