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Wagenschein-Kritik, von Kroebel bis heute.


Referat von Klaus Kohl an der Wagenscheintagung in Zug 19.2.2005



Der Anlass zu diesem Referat ist aktuell, jedenfalls gab es ihn nach unserer letzten Versammlung. Es war der Artikel "Genetisches Lernen zwischen Wunschdenken und Wirklichkeit" von Alexander Engelbrecht, der am Jahresende 2003 in der Zeitschrift "Der mathematische und naturwissenschaftliche Unterricht" -im Jargon "MNU"- erschien. Wie sich einige von Ihnen erinnern werden, habe ich damals gleich die Sturmglocke geläutet, eine Antwort verfasst und zusammen mit dem Artikel gleich dutzendweise verstreut, natürlich ging meine Antwort auch sofort an die Redaktion der MNU und wurde zusammen mit anderen Antworten im Heft 4 des Jahres 2004 veröffentlicht.
Worum geht es in Engelbrechts Arbeit? Sie ist übrigens sozusagen ein Ausriss aus seiner Dissertation, die unter dem Titel "Kritik der Pädagogik Martin Wagenscheins" im LIT-Verlag erschienen ist.
Engelbrecht möchte den Wagenschein-Verehrern gehörig eins auf den Deckel geben, weil sie die Fahnen eines Heiligen hochhalten, der mit vielen schönen Worten (allein-) seligmachende Behauptungen aufgestellt hat, die in (der pädagogischen) Wirklichkeit nichts als ein wirkungslos verpuffendes Feuerwerk sind.
Mit seinem Artikel beweist er dies an einem Unterrichtsbeispiel eigener Inszenierung. In einer dritten Grundschulklasse wird die "Saftmaschine" benutzt, um den (atmosphärischen) Luftdruck zu erklären. Diese "Saftmaschine" ist eine moderne alkoholfreie Variante von Herons "Weinautomat".
Wenn man in den Trichter irgendeine Flüssigkeit, z.B. Wasser hereingießt, fließt die andere Flüssigkeit, z.B. Wein/Apfelwein/Apfelsaft zum Ausgussrohr hinaus. Ich habe hier nur das Anfangsstadium bis zum ersten Überlaufen gezeichnet. Nun das Ganze so in einen Karton gepackt, dass nur der Trichter und der Ausguss zu sehen sind und fertig ist die Saftmaschine - nach Wagenschein!
Ich habe wirklich keine Ahnung, welcher Pädagogiker diesen Bezug aufgestellt hat, er ist aber in die Welt gesetzt. Tatsächlich hat diese spaßige Apparatur mit Wagenschein genau so wenig zu tun wie mit dem atmosphärischen Luftdruck. Sie funktioniert nach dem Prinzip: Luft braucht Platz und Wasser hat ein Gewicht - kommunizierende Röhren! Das Wasser schiebt/drückt den Saft mittels der Luft (es könnte aber auch ein anderes Medium sein) hinaus.
Und Wagenschein? "Erstaunlich" sollte ein einführendes Phänomen sein, das hat er gewünscht, aber nicht dadurch, dass der Vorgang versteckt wird, im Gegenteil! Dem Apparat zuschauen zu können, während man mit ihm experimentiert, "wie er das macht", das könnte hinhauen.
Nun, Engelbrechts Unterrichtsstunde ging mit Pauken und Trompeten daneben und er hat das gründlich ausgewertet - und Wagenschein ist schuld. Dass daraus eine anerkannte Dissertation entstehen konnte ist allerdings ein erstaunliches Phänomen.
Engelbrecht ist jetzt wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Schulpädagogik der Universität Rostock, die Studien für seine Dissertation machte er an der Universität Hannover bei Ulf Mühlhausen, der unter anderem die Hannoveraner Unterrichtsbilder (vorbereiteter und protokollierter Unterricht auf CDs) herausbringt. Dort ist auch die betreffende Unterrichtseinheit dokumentiert:

CD Nr. 33 = 560 MB Videos im Format WMV8 „Luft und Wasserphänomene - nach Martin Wagenschein“ (3. Kl. Grundschule Sachunterricht).
Die CD-ROM zeigt eine Doppelstunde im Sachunterricht, die in Anlehnung an die Vor­stellung von Martin Wagenschein konzipiert worden ist: Die Schülerinnen und Schüler einer dritten Klasse werden mit verschiedenen Phänomenen zum Thema Wasser und Luftdruck konfrontiert. Im Eingangsbeispiel führt der Lehrer eine ‘Maschine’ vor, die aus Wasser Apfelsaft machen kann. Da das Innere der Maschine nicht zu sehen ist, sollen sie im Sitzkreis Vermutungen über die Funktionsweise entwickeln und miteinander bespre­chen. Danach beschäftigen sich die Kinder gruppenweise an sechs Tischen mit jeweils ei­nem der drei Experimente: 1. dem Öffnen einer Milchbüchse (nach Copei), 2. dem An­saugen von Wasser mit Spritzen und Pipetten sowie 3. mit einem Unterwasserversuch im Aquarium. Ohne dass ein Arbeitsauftrag vorgegeben wird, sollen die Kinder allein durch die Versuchsuntensilien zum Experimentieren und Nachdenken angeregt werden. Geplant war der Unterricht mit dem Anspruch, „genetisch-sokratisch-exemplarisches Lernen“ zu ermöglichen. (s. dazu das Menu „Theoretischer Kontext“). Ist es gelungen, diesen An­spruch einzulösen, d.h. Kinder anzuregen, selbstständig zu experimentieren, über die er­lebten Phänomene zu spekulieren und miteinander zu diskutieren, sich allmählich in ihrer eigenen Sprache den physikalischen Sachverhalten anzunähern? Wieweit gelingt es dem Lehrer, die von Wagenschein formulierten Regeln zum Unterrichten zu beachten?
(WMV 8 ist abspielbar im Windows Media Player ab Version 7 mit passendem Codec)


Nachtrag 2006: Voriges Jahr ist auch das Buch von Ulf Mühlhausen (Hrsg.): "Unterrichten lernen mit Gespür" im Schneider-Verlag Hohengehren ISBN 3-89676-897-2 (mit DVD-ROM) erschienen, in dem als Kapitel 7 der Artikel von Alexander Engelbrecht ebenfalls enthalten ist.

In der Hannoveraner Schmiede ist auch ein ausführlicher Beitrag zur Saftmaschine entstanden. Man kann sich im Internet daran ergötzen und ich habe ein paar Funde dabei.

Ebenfalls an der Uni Hannover sind die Professoren Dietmar Raufuß und Albert Illien tätig. Mit der Haltung der Dozenten habe ich mich noch nicht näher beschäftigt.

Nun, die Reaktionen auf Engelbrechts Beitrag blieben nicht aus, es reagierten auch Menschen, die ich nicht alarmiert hatte (H.J. Schack und Peter Klein). Es war nicht für alle in der MNU Platz, aber die Uni Dortmund hat auf ihrem Server ein MNU-Archiv eingerichtet, dort kann man weiteres nachlesen, auch den Rest der 14-spaltigen Replik von Engelbrecht. Der kurze Leserbrief von Heinz Jörg Claus ist allerdings auch dort nicht vorhanden, mir liegt nur eine private Kopie vor. Dass die Antwort von Peter Klein nicht in der MNU veröffentlicht wurde, finde ich jammerschade, aber auch verständlich. Engelbrecht ging mit keinem Wort darauf ein. Zu Ihrer Information habe ich diese Zuschriften und Engelbrechts komplette Antwort als Bettlektüre in handlicher Form ausgedruckt, auch die MNU-Artikel liegen zum Kopieren bereit.
Mir juckte ja das Fell, mich mit Engelbrecht weiter zu unterhalten, ich glaube, ich bin der einzige gewesen, der seine Einladung zu weiterer Diskussion aufnahm. Wir wechselten also etwa ein Dutzend Emails, aber der Verlauf bestätigte nur den anfänglichen Eindruck. Zu einer sorgfältigen Recherche ist der Mann nicht bereit. Ich charakterisiere das einmal so: beim ersten Durchlesen hat so ein Schriftgelehrter einen Leuchtmarker in der Hand und streicht alles an, was ihm beim Überfliegen in den Kram passt - er also zustimmend nickt. Und beim zweiten Durchlesen fasst er dann die angestrichenen Stellen zusammen.
Er schrieb mir auch (am 24. Juni): "... die Wagenschein-Verehrer schreien entsetzt auf. Selbst Sie, dessen konstruktive Art ich jetzt schon schätze, scheuen sich nicht, mir bloß "oberflächliche Recherche" zu bescheinigen. Aber bitte, ich bin kein Archivar und an der peniblen Auswertung aller möglichen zur Verfügung stehenden Quellen nicht interessiert. Mir geht es um die Entwicklung einer stringenten Argumentation, den Bau einer Straße also, ohne jeden kleinen Stein auswerten zu müssen: das wäre ja auch kontraproduktiv, eine sinnlose Sisyphus-Arbeit. Aus meiner Sicht sind es Kleinigkeiten, die Sie bemängeln..." Und dem hielt ich entgegen (24.9.): "Wer in schwierigem Gelände eine Straße bauen will, darf nicht nur das Ziel im Auge haben sondern muss auch auf einen tragfähigen Untergrund achten. Auf eine wissenschaftliche Arbeit bezogen: Ich darf keine Behauptungen aufstellen, die anderen Fachleuten gleich als sachlich falsch ins Gesicht springen. Wenn mir das aus verständlicher Unkenntnis passiert ist muss ich die Korrektur übernehmen. Eine Straße, die auch nur an einer Stelle eingebrochen ist, führt nicht zum Ziel."
Weitere Korrespondenz wurde dann zunehmend sinnlos und ich brach sie nach einem halben Jahr ab. Aber auch das nahm er mir als "unwürdiges Handtuchwerfen" übel, obwohl der Vorschlag zum Abbrechen von ihm stammte...

Zu den von Alexander Engelbrecht gelobten Wagenscheinkritikern gehört auch Lutz Führer. Wir machten 1996 seine Bekanntschaft bei der Frankfurter Veranstaltungswoche zu Wagenscheins 100. Geburtstag, er war damals 40 Jahre alt und fiel durch seinen kritischen Vortrag auf. Auch hier hakten wir uns an einer Stelle fest, in der er Aussagen über das Umfeld Wagenscheins bei der Formulierung des Primzahlensatzes in Goldern machte:

6. Das Ganze spielt 1948 in der reichen Schweiz der noch reicheren Emi­gran­ten!
Wagenschein hält sich (wieder einmal) heraus.
In Berlin kündigte sich damals die Luftbrücke an. Ich war drei Jahre alt, spürte die Angst meiner Mutter und der Nachbarn, und ich hatte Hunger… Wagen­scheins offenbar wichtigste Erinnerung im Dritten Reich: Er war nur noch Gym­nasiallehrer an einer öffentlichen Schule und mochte die Aufmärsche nicht: „Ich kann nicht sagen, dass es gerade die Schule war, in der ich mich unglück­lich fühlte in den ersten Jahren der Diktatur. Das Unheil lagerte außerhalb, meine Fächer boten keinen Anlass, sich mit der herrschenden Ideologie merklich zu reiben. Es kümmerte sich kaum jemand um meinen Unterricht. Ich machte un­auffällig, was ich wollte, soweit ich konnte, und das war immerhin genug.“
(Erinnerungen für morgen, S. 48)
War Elnis nicht Israeli? - Ein großer Pädagoge?


Es war die erste Behauptung, die uns veranlasste, zu protestieren, weil ihre sachliche Unrichtigkeit ohne weiteres beweisbar war. Die Situation der Ecole d'Humanité in ihren Golderner Aufbaujahren war sicher im Vergleich um einiges komfortabler als im Nachkriegsdeutschland und speziell in Berlin, für das die Bundesdeutschen auf jeden Brief eine 2-Pfennigs-Notopfermarke kleben mussten, aber 'die reiche Schweiz der noch reicheren Emigranten', das hätte er zurücknehmen können. Er tat es nicht und hat dadurch sein Anliegen nicht gerade gefördert. Der zweite Teil dieses Abschnitts ist boshaft und eher geeignet, grundsätzliche Fragen über Offenheit und Ehrlichkeit von Autobiographen und auch Archivaren zu erörtern.
Der übrige Teil des Vortrags ist durchaus bedenkenswert, auch in seiner Kritik am veröffentlichten Wagenschein. Und soweit ich die übrige Arbeit von Lutz Führer kenne (nur aus dem Internet) halte ich ihn für seinen sehr guten Pädagogen. Kürzlich wurde uns das auch von einem Studenten bestätigt: "Für gute Ideen ist er immer offen, aber wenn man ihm sagen würde, dass sie von Wagenschein inspiriert sind, dann wird er wild!" Eigentlich schade.

Es wird Zeit, auf den wohl prominentesten Wagenschein-Kritiker zu sprechen zu kommen: Werner Kroebel, geboren 1904, von 1946 bis 1974 Professor und Direktor des Instituts für angewandte Physik der Universität Kiel, 2001 im Alter von 97 Jahren gestorben. Er ist der einzige in dieser Gruppe der Wagenschein-Kritiker, gegen die sich Wagenschein noch persönlich wehren konnte. Kroebel schrieb 1967 in der MNU eine ausführliche Rezension zu Wagenscheins Buch "Ursprüngliches Verstehen und exaktes Denken", der wichtigsten Zusammenfassung von Wagenscheins Arbeiten von 1930 bis 1964. Diese Rezension war im Grunde eine Abrechnung mit Wagenscheins Physikpädogik in ihrer Gesamtheit.
Schützenhilfe erhielt Kroebel noch durch einen im gleichen MNU-Heft anschließenden Artikel von H. Settler über "Sinn und Widersinn des Physikunterrichts". Über die Person H. Settler habe ich bis jetzt nichts erfahren können, er lebte auch in geografischer Nachbarschaft zu Werner Kroebel, die beiden werden ihre Aufsätze wohl aufeinander abgestimmt haben. Wagenschein ist in seiner ausführlichen Antwort nicht auf Settlers Argumente eingegangen. Der Streit in der MNU zog sich bis ins Jahr 1969 hin. Ich habe jetzt nur diese auslösenden Artikel und Wagenscheins Antwort festgehalten. Schriftleiter der Zeitschrift war damals Erich Toepfer, Wagenscheins Ideen gegenüber sehr kritisch eingestellt - nicht sehr verwunderlich, wenn man weiß, dass er gleichzeitig auch Mitarbeiter der Lehrmittelfirma Phywe war.
Es ging in dieser harten, aber meist doch recht sachlichen Auseinandersetzung zum Beispiel um die Fragen:

Wagenschein fühlte sich durch die Kritik aus diesem Lager - dazu gehörte damals auch die Deutsche Physikalische Gesellschaft und viele andere namhafte Personen und Institutionen - sehr bedroht, angegriffen, aber auch herausgefordert. Seine lange ausgefeilte, 1968 erschienene Erwiderung zeigt aber auch, dass viele der Kritikpunkte dadurch hervortraten, dass der Kritiker seine schon vorhandene Meinung durch rasch überflogene und angemerkte Zitate bestätigt sah. Ein allgemeines Problem der Rezeption von Texten und überhaupt Eindrücken, durch selbstkritisches Nachdenken auch auf die eigene Person leicht zu bestätigen - man ziehe sich ruhig an der eigenen Nase!

Nun noch ein Wagenscheinkritiker aus einer ganz anderen Ecke: Micha Brumlik ist Professor der Erziehungswissenschaft in Frankfurt, also insofern Kollege von Lutz Führer, gleichzeitig ist er Leiter des Fritz-Bauer-Instituts, Studien- und Informationszentrum zur Geschichte und Wirkung des Holocaust. Seine Kritik an Wagenschein hat er in einer Veröffentlichung seines Instituts unter dem Titel: "Ein ruhiges Anschauen des Grauens? - Zur Unzulänglichkeit des reformpädagogischen Erfahrungsbegriffs" formuliert. Er sieht anscheinend die Reformpädagogik als - vielleicht unfreiwilligen - Wegbereiter des Dritten Reichs und zeigt, dass der Erfahrungsbegriff der Reformpädagogik zur Bewältigung von Auschwitz nicht taugt. Er kritisiert die heutige Reformpädagogik als nur noch allgemein wissenschaftskritisch, belegt dies mit Zitaten von Horst Rumpf, wobei das Belegen etwas diffus bleibt: So kommt nach einem Zitat aus der Einführung zu Wagenscheins "Erinnerungen für Morgen" die Aussage (auf Seite 3 des Ihnen vorliegenden Textes):

Die Äußerung legt in durchaus unklarer Weise einen internen Zusammenhang zwischen misslingenden Formen unterrichtlicher Vermittlung und der »zweiten Katastrophe« - sprich des Nationalsozialismus, des Zweiten Weltkriegs, der Massenvernichtung der europäischen Juden und der verheerenden Niederlage des Deutschen Reiches nahe, ohne diese These jemals zu entfalten.

Nun sollte/wollte der Leser eine ausführlichere Darstellung von Wagenscheins Aktivitäten im Dritten Reich erfahren, meint Brumlik. Da ihm Quellen dazu weitgehend fehlen, sucht er mit Akribie nach feuchtbraunen Flecken und wringt sie aus:
Auch die von Führer zitierte Stelle aus den Erinnerungen muss bei Brumlik zu einem Beleg für Wagenscheins allgemeines Wohlbefinden während des Dritten Reichs herhalten, Konzentrationslager wurden zu ergötzlichen Datterich-Themen umfunktioniert, (sollte Brumlik -1947 geboren- wirklich sowenig Sachkenntnis haben, dass er die Jugenderziehungslager der Nazis mit KZ gleichsetzt? Ich kann es fast nicht glauben) Wagenscheins erstes Buch "Zusammenhänge der Naturkräfte" rückt er in die Nähe des erklärten Antisemiten Philipp Lenard, den Wagenschein angeblich immer wieder zitierte. Dem gegenüber stellt er dann den Spruchkammer-Freispruch. Aus dieser Biografie heraus stellt Brumlik fest, dass die Reformpädagogik nicht in der Lage ist, das Grauen von Auschwitz zu behandeln, ebensowenig der von Wagenschein benutzte Erfahrungsbegriff, wobei als "theoretische Gewährsleute für dieses erfahrungsorientierte Programm" Philipp Lenard und der von Martin Heidegger {mit Quellenangabe!} gelesene Johann Peter Hebel herhalten müssen und der Abschnitt gipfelt in der Kritik an Wagenscheins angeblicher Kritik des kopernikanischen Weltbildes: "Selbst innerhalb der Physik hat es als menschliche Konstruktion nur den großen Vorzug der Einfachheit, nicht der tieferen Wirklichkeit" Damit hofft Brumlik wohl, Wagenschein als hoffnungslos verbohrten Altertümler hinstellen zu können und merkt nicht, dass dies eine umfassende Weltsicht wiedergibt. Er verlässt dann in seinem Aufsatz das Thema Wagenschein:

An dieser Stelle ist jetzt nicht zu vertiefen, in welchem Ausmaß bei Wagenschein hier ein an Goethe gewonnenes Naturverständnis rehabilitiert wird, es ist auch nicht weiter zu erörtern, ob eine derartige Didaktik bezüglich des Lehrens physikalischer Phä­nomene der Mesoebene sinnvoll ist oder nicht. Es ist lediglich zu fragen, ob das Prinzip eines bloßen Anschauens, das den Blick aufs Maßvolle lenkt, angesichts dessen, worum es bei einer die nationalsozialistischen Verfolgungen und Vernichtungslager thematisie­renden, zeitgeschichtlichen Didaktik gehen kann, angemessen ist. Sind jene Erfahrun­gen, um deren Vermittlung es gehen soll, im Modus »bloßen Anschauens« mit dem Ziel einer Ge­winnung des Maßvollen überhaupt zugänglich - etwa jener: (Folgt ein Zitat von Primo Levi)

um im weiteren Verlauf der zweiten Hälfte des Aufsatzes keinen Hinweis zu geben, wie man und ob man überhaupt als Lehrer dieses Thema der Menschenvernichtung angemessen behandeln kann. Was soll dann in diesem Zusammenhang die Kritik an der Person Wagenschein? Der hat jedenfalls nie behauptet, Ideen dafür liefern zu können. Wen meint Micha Brumlik eigentlich treffen zu müssen? Einen Brief von mir hat er seit drei Monaten nicht beantwortet, bei einer fleißigen Produktion von über 200 Veröffentlichungen in den Jahren von 1976 bis 2001 hat er wahrscheinlich kaum die Zeit gefunden, ihn zu lesen.

Und nun die Frage: Was nun?

Settlers Beitrag habe ich deswegen aufgenommen, weil er doch auch heute die Meinung vieler "angefressener" Physiklehrer wiedergibt, besonders junger mit einem frischen Sachstudium im Hirn (ich will mich da nicht ausnehmen!) "Mit uns kommt die neue Zeit!" Aber: Muss denn nur ein "Volksschullehrer" fähig sein, "das Fallgesetz auf deutsch" zu erklären? Ich gehe da noch sehr viel weiter, wenn ich behaupte: "Wer einen Sachverhalt nicht in seiner Muttersprache erklären kann, hat ihn selber noch nicht richtig verstanden." Nicht müssen, aber können muss er! (müsste er, denn muss er alles wirklich verstanden haben? - das geht gar nicht.)

Und:
Martin Wagenschein hat wohl auch recht, sonst wären wir jetzt nicht hier.
In diesem Dilemma kann uns wohl nur Toleranz weiterhelfen, allerdings muss sie auf beiden Seiten vorhanden sein!
Ein Beispiel: Brumlik bezieht sich in seiner -sagen wir ruhig Polemik- auf unsere Veröffentlichung des Lebenslaufes - auch sonst haben wir von jüngeren Menschen schon oft gehört: "Waaas, Wagenschein war 'in der Partei' - ein Nazi? Schon ist eine Vor-ver-urteilung entstanden. Hätten -auch- wir es besser verschweigen sollen? Wir halten es für richtig, es zu sagen und wenn nötig klarzustellen, dass für einen Lehrer im damaligen Staatsdienst fast keine andere Wahl blieb, der frühe Beitritt zur NSV und zum NSLB vielleicht nur eine Alibi-Funktion hatte. Wer sich mit den zehn Jahren von 1923 bis 1933 nur anschauend und nicht gleich wertend beschäftigt, wird wohl manches entschuldigen können.