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1. Dezember 1986.

Thema: Genetisch-Exemplarisch-Sokratisch - Verstehen lehren

# Martin Wagenschein
* Seminarteilnehmer
- weitere Seminarteilnehmer in der selben Runde
() redaktionelle Kommentare

# Meine eigenen Leute sind noch nicht da (Prof. Berg mit sieben Gästen ist da, ebenso Herr Rebstock), teils entschuldigt, oder teils nicht entschuldigt. Aber wir fangen schon einmal an, das macht ja nichts. Darf ich einmal bitten, meine eigenen Leute, die Hand zu heben?
(Zwei Meldungen, Gelächter, Versicherung, dass noch zwei Leute kommen.)
Ja, wir haben vom Licht gesprochen, genauer gesagt, von der Brechung. Wir sind eigentlich fertig. Ich wollte zum Schluss eine Arbeit von mir vorlesen, ich kann sie selbst nicht lesen. Sie ist von dem, was wir gemacht haben, unabhängig, hat nichts mit dem zu tun. Haben wir einen guten Vorleser? Das Ganze ist einfach so hingeschrieben, vor dreißig Jahren, weil es mir Spaß machte, ohne eine pädagogische Absicht. Aber man kann das Ganze, das überschrieben ist "Das Licht und die Dinge" aber auch überschreiben "Die Aufmerksamkeit", weil zu dem, was ich meine, genetisches Arbeiten, eine andere Art von Aufmerksamkeit nötig ist als wir in der Schule haben müssen.

* (Berg liest:)
Das Licht und die Dinge.
Einführung in die Optik.
Vorbemerkung:
Es geht hier um nichts anderes als Physik. Oder, wenn man das nicht gelten lassen will, um eine Vorstufe der Physik, die deshalb nicht unwichtig ist, weil sie "nur" Vorstufe ist, sondern die eben als Vorstufe für die Physik so wichtig ist wie die Wurzeln für den Baum. Wir pflegen sie im Unterricht meist zu vergessen. Nur wer sie im stillen empfunden und in einer Vorform des Denkens durchschritten hat, vermag die gepreßten und getrockneten Formen zu verstehen, die das Herbarium des Lehrbuches zusammenstellt (indem es etwa sagt: "Licht wird von Strahlen hervorgerufen, die von den Körpern ausgehen. Dabei unterscheiden wir Lichtquellen und dunkle Körper, die nur dadurch sichtbar werden..." und so fort). Nur wer aus jener Vorstufe diese abgezogenen Formen selber hergestellt hat, kann verstehen, was sie an Erlebbarem in sich bergen. - Dieser Stufe im Unterricht Raum zu geben, ist sehr leicht. Man stelle mit Scheinwerfer und Staub in der dunklen Stube die Situation her, versammle die enggedrängte Kindergruppe nah um dieses Wunder und - rede nichts, sondern lasse sie reden. Dann wird so etwas Ähnliches kommen, wie hier geschrieben ist, und sich leicht ein wenig ordnen und katalytisch zur Kristallisation bringen lassen. Schreiben dies die Kinder nun auf, so haben sie, was sie brauchen. Der künftige Lehrer der Physik braucht nichts dringender als, ungeachtet seiner präzisen Fachkenntnisse, fähig zu bleiben oder wieder zu werden, auf diese Vorstufe sich zurücksinken zu lassen.
Als er erwachte, schien die Sonne auf sein Bett. Er schüttelte die Decke zurecht, legte sich zurück und blickte in die Welt der Sonnenstäubchen, die er aufgewirbelt hatte. Lichtenberg fiel ihm ein: "Was man so sehr prächtig Sonnenstäubchen nennt, sind doch eigentlich Dreckstäubchen." Ihr glänzendes Treiben vor dem Hintergrund des dunklen Schrankes erinnerte ihn an die Bewegungen von Schwärmen aufgescheuchter Fische. Nach und nach wurden sie ruhiger und einig in einem ganz langsamen Herniedersinken, er wunderte sich, wie langsam. Manche flimmerten dabei, im Wechsel hell aufblitzend und erlöschend, und er dachte gleich an die Art, wie manche Blätter drehend fallen, so dass einmal die glänzende Breitseite, dann wieder ihre unscheinbare Kante in den Blick kommt. So verrieten diese Stäubchen ihre winzige Schuppengestalt, ohne doch ihren Umriß sehen zu lassen.
Allmählich wurde sein Blick aber nicht mehr von den einzelnen Sternchen angezogen, sondern von dem Ganzen ihrer Wolke, deren Grenzen er freilich nicht überschauen konnte: Er klopfte wieder auf die Decke, und aus dem Hellen trieben die Stäubchen verlöschend ins Finstere. Anderswo strömten dafür aus der Dunkelheit neue ein in den auserwählten Bereich, der aus grauem Staub silberne Sterne machte. Das ganze Zimmer musste voll von diesen Stäubchen schweben, aber leuchten durften sie nur in dem Lichtbalken, der starr und wie gleichgültig im Raume stand, während sie ihn durchspielten. Nicht gerade frei, doch anmutig ihrer Führung folgend; zwei Führungen: der immer neu gestalteten Strömung -fächerig oder wirbelnd- die eines ans nächste band, und der eintönigen und allen gemeinsamen Nötigung des Fallens. Aber der Lichtbalken stand unbewegt. Solange die Sonne schien! Eine Wolke trat vor sie, und alles erlosch. Der starre Balken und sein lockeres Sterngetriebe, zugleich mussten sie vergehen. Denn sie waren gar nicht zweierlei, das sah er jetzt. Ohne den Lichtbalken gab es die Stäubchen nicht und ohne die Sternchen war kein Lichtbalken da. - So also, sagte er sich, ist das Licht: An sich selber ist es nicht zu sehen, nur an den Dingen; und auch die Dinge sind aus sich selber nicht zu sehen, sondern nur im Licht.

# Man könnte sagen, dass dadurch die Art Aufmerksamkeit, die vorausgesetzt ist, beschrieben ist, die einem bei einer solchen Betrachtung einfällt. Die Sache ist ja nun zu Ende damit. Die Frage ist: "Wie sind wir denn in den letzten Sitzungen dazu gekommen?" Das soll doch nochmal jemand sagen. Können Sie kurz zusammenfassen? Es zeigt sich nämlich, also mir geht das so, dass man nicht mehr weiß, was vorher war. Es ist natürlich ein Unsinn, alle acht Tage eine Stunde zu verbringen. Also nicht ein voller Vortrag, irgendein Gedächtnisbrocken. Dann setzt sich das schon alleine.

* Ja, wir hatten eine Ursache angegeben für die Tatsache, dass das Licht beim Übergang in ein dichteres Medium abgebrochen wird, gebrochen wird. Und da hatten wir die Wellenfront als Modell oder als Vorstellung oder als Grund genannt und hatten uns klargemacht, wie das denn vonstatten gehen könnte, wenn jetzt nicht ein Strahl sondern senkrecht dazu eine Wellenfront schräg in ein dichteres Medium eintrifft.

# Das war es sicher. Aber zum Schluss hatten wir etwas ganz anderes gemacht.

* Zum Schluss hatten wir darüber gesprochen, wie wir überhaupt sehen. Bis zu dem Bild auf der Netzhaut waren wir gekommen. Und wie man jetzt von dem kleinen Bild auf der Netzhaut, ja, ob das schon alles ist, zu diesem großen Bild kommt, das man ja wahrnimmt oder empfindet. Darüber hatten wir am Schluss der Stunde gesprochen.

# Ja, nun möchte ich fragen, also die Leute vom vorigen Mal: "Sind Sie nun klar darüber, wie wir sehen?" Wenn nicht, dann haben Sie ja wohl noch einige Fragen.

* Ja, wir haben schon letztes Mal festgestellt, dass sich das wohl allein durch den physiologischen Aspekt, also Reiz, Strömung, Nervenleitung, wohl nicht erfassen lässt, diese Wahrnehmung. Wir kamen dann darauf, ob das Gehirn, das uns ja diese Wahrnehmung doch ermöglicht, ob das zur Außenwelt gehört wie auch das Auge, der Raum, oder ob es zur Innenwelt gehört, zur Gefühlswelt. Dabei waren wir hängengeblieben. Und wir haben eigentlich das Rätsel nicht aufgelöst.

# Worin besteht das Rätsel?

* Ja, wie man von dieser Außenwelt, also von diesen messbaren Größen im Gehirn zu der Wahrnehmung kommt.

# Können wir es nicht noch ein bisschen ausführlicher sagen?

* Sie haben gefragt, wer das Bild eigentlich sieht, das auf der Netzhaut entsteht. Wir haben also festgestellt, dass also fast jeder weiß, dass durch die Linse im Auge, durch die Hornhautlinse ein Bild auf die Netzhaut gebracht wird. Und Sie haben gefragt: "Wer sieht das Bild eigentlich?" Und da sind wir darauf gekommen, dass im Gehirn nur Ströme und Schüsse sozusagen stattfinden, dass dies ein unheimliches Gewirr von Impulsen hin und zurück und ein sehr komplexer Vorgang ist. Und Sie hatten dann am Schluss noch, oder wir hatten festgestellt, dass das Problem der Wahrnehmung eigentlich nicht nur mit Physik erklärt werden kann, nicht nur, sondern dass es eben Bereiche gibt, die die Physik nicht vollständig erklären kann. Ich glaube, das war so der Schluss gewesen.

# Ja, wo liegt eigentlich der Punkt, den man nicht erklären kann? Und zwar grundsätzlich nicht? -
Also Ihr roter Pullover, der erzeugt also ein rotes Bild auf der Netzhaut. Schließlich verliert sich das in eine wüste Funkerei in der neuronischen Maschinerie, wie Eccles sagt. Das, was er da geschrieben hat, ist geradezu erschreckend. Ja, wo bleibt die rote Farbe?

* Ja, das ist genau der Punkt.

# Ja?

* Also das ist genau der Punkt, wo die Schwierigkeit steckt zwischen dem, was man erforschen kann, diesem Funkenwald und dem Eindruck, diesem Sinneseindruck der Wahrnehmung, von dem roten Fleck, den ich sehe, wahrnehme, und was der mit der Funkerei im Gehirn, wie das zusammenhängt.

# Also kurz gesagt: Eine noch so komplizierte Funkerei gibt nicht die Wahrnehmung Rot, womit Rot gemeint ist, so wie es aussieht. Der Physiker Heitler hat eine Geschichte geschrieben aus seiner Schulzeit. Der Lehrer sagt, er sollte doch einmal die Farbe Rot beschreiben. Und dann hat er angefangen, ein paar Sekunden lang von Elektronen zu reden, im Gehirn, bis ihm einfiel, dass der ganz etwas anderes gemeint hat, nämlich wie die Farbe Rot auf uns wirkt und eigentlich ist und nicht die Stellvertretung. Also da liegt das Rätsel. Geht die Physik nichts mehr an, weil sie ja von Dingen redet, und von der Beziehung zwischen den Dingen, aber nicht vom Sehen. Mir ist das ganz klar geworden, als ich eine Netzhautverletzung hatte und da ein prächtiges Farbenspiel gesehen habe, bei geschlossenen Augen. Rot und violett und... erschreckend schön. Und dazu ist gar kein Licht nötig, das von außen kommt, das ist das Merkwürdige. Das spricht dafür, dass diese Wahrnehmung erst im Gehirn berührt wird und Sie kennen ja den Eindruck, den man hat, wenn man einen Schlag bekommt, der etwas nah ans Auge geht und man Funken von Licht sieht. Das heißt, das Gehirn hat die Fähigkeit, Licht zu erzeugen, und zwar das originale Licht. Das ist nicht das, was auf diese Weise entsteht. Das von außen angeregt wird durch elektromagnetische Wellen, das ist eine besondere Form der Anregung. -
Ich hatte mir nun vorgenommen, heute zu meiner Gruppe folgende Fragen zu stellen: Nun haben wir ein Beispiel sehr genau durchgesprochen, ein paar Stunden, wie die Brechung entsteht und wie man das empfindet. Nun habe ich eingangs die drei Worte exemplarisch, genetisch, sokratisch hingesetzt als diese drei Begriffe, die diese Art des Curriculums charakterisieren sollen. Und dabei konnte man sich natürlich nichts vorstellen. Ist es jetzt gelungen, ein klein wenig zu sagen, was gemeint ist?
Fangen wir einmal an mit 'genetisch'.
Was ist hier genetisch? Was heißt genetisch? Wollen Sie es einmal übersetzen?

* Ursprünglich.

# Weiter, viele. - Das erste Buch der Bibel heißt Genesis.

* Erzeugend heißt es.

# Italienisch heißen die Eltern genitori. Sie können Eltern sagen, die Erzeugenden.

* Von der Natur ausgehend, würde ich sagen.

# Das wäre also in unserem Fall der Ausgangspunkt.

* Das Auge.

# Das Auge, ja, sofern - wovon sind wir ausgegangen? Was war denn das, wovon wir ausgingen?

* Von einer Beobachtung.

# Ja, das kam dazu. Die Beobachtung war nicht das Erste. Das Erste war also...

* ...der Stab, der, wenn er schräg im Wasser steht, abgeknickt ist.

# Ja, und das haben wir dann beobachtet. Leider nicht so, wie hier beschrieben, nicht in der Form dieser Aufmerksamkeit, das konnten wir nicht machen. Davon gehen wir aus. Wovon gehen wir nicht aus? Das kann man ja auch.

* Ach so, von einem Experiment.
- Von der physikalischen Theorie.

# Vom Ergebnis aus. Das wird ja häufig gemacht. Ich habe im Anhang beschrieben, wie man es machen kann. Man erzeugt einen sogenannten Lichtstrahl, man lässt ein Lichtbündel an der Wand entlang streifen oder man raucht Zigaretten, und dann hat man ihn schon. Und den lässt man nun auf eine Wasserfläche fallen und dann sagt man, dies sei ein Lichtstrahl, der, wie man sieht, in bestimmter Weise zur Brechung gebracht ist. "Und nun wollen wir mal sehen, nach welchen Gesetzen das vor sich geht." Er lässt ihn dann erstens, zweitens, drittens und hat dann in ziemlicher Geschwindigkeit: Sinus Alpha durch Sinus Beta gleich Constans. Es ist ja auch nichts mehr da, das ist ja dann verdunstet. -
Also fängt man an mit... na, wie nennt man das? Mit Unbeeinflusstem, mit dem man noch nichts gemacht hat?

* Phänomenen.

# Ja, Phänomen heißt, soviel ich weiß, ungefähr das, was von selbst kommt, auf uns zu kommt, unbeabsichtigt. -
Ja, ja, warum denn? Warum soll man denn nicht von den Lichtstrahlen ausgehen und möglichst schnell zum Brechungsgesetz kommen? Oder in der Chemie von den Atomen ausgehen oder in der Geometrie von den Axiomen und in der Biologie von den Zellen? Warum denn nicht? Das ist das Gegenteil dazu.

* Also, wenn man etwas erzeugen will, dann darf man nicht das Produkt bereits benutzen, das Erzeugte. Der Lichtstrahl ist das, was bereits gedacht ist, man sieht den ja gar nicht, diesen Lichtstrahl.

# Wir haben ja gesehen, dass man den gar nicht sehen kann. Aber ich stimme Ihnen in einem nicht zu. "Wenn man etwas erzeugen will", wir wollen ja gar nicht erzeugen.

* Ja, wir hatten 'genetisch' mit 'erzeugend' zum Teil übersetzt.

# Ja, so schon. Das ist die sprachliche Verwandtschaft. Aber was wollen wir denn?

* Wir wollen erklären. Dieses Erklären hängt auch mit Erzeugen zusammen.

# Ja, - nicht. Was wird da erzeugt?

* Ja... eine Abstraktion.

# Ja, eben, die Erklärung.

* Ja.

# Haben wir noch mehr Sachen für Beispiele, Phänomene, die geeignet sind, um von ihnen auszugehen und Physik zu begreifen? Möglichst einfach, selbstverständlich und in der Natur vorkommend, nicht in einem Labor. Physik ist nicht in einem Labor entstanden. - Ich bin auf der Suche nach solchen, ich sammle solche Phänomene, schreibe sie mir auf. Vielleicht können Sie meine Sammlung bereichern. Natürlich ist nicht jedes Phänomen geeignet, ich meine, ich sage das jetzt nur, um den Begriff 'Phänomen' zu präzisieren und dann zu abstrahieren. -
Also ich habe so ein kleines Repertoire von solchen Dingen, vergesse sie immer wieder.

* Vielleicht eins, was mir wichtig geworden ist, auf Anregung von Ihnen, ist Schnee. Warum ist der Schnee weiß.

# Ja.

* ...Wolke weiß...

# Schnee und Wasser.

* Oder Bierschaum.
- Richtig, oder die Wellen, ist auch etwas, das schäumt.

# Da wird der Schnee plötzlich weiß, vorher war er farbig, er ist ganz anders geworden. -
Das Beispiel ist sehr schön, das Verwundern ist schon - leise. Aber es fehlt ihm noch das Beunruhigende. Dieses Beispiel möchte ich, ja... - man findet nicht ohne weiteres, manchmal muss man... durch einen Blick darauf hingewiesen werden. Also ein Beispiel fällt mir ein. Warum schwimmt ein eisernes Schiff? Eisen ist bekanntlich schwerer als Wasser, also? Wissen Sie es? Was haben wir gelernt? Es schwimmt nach dem Gesetz vom Auftrieb, dessen Gewicht gleich dem der verdrängten Wassermenge. Fertig, Schluss. Aber damit ist unser Staunen ja nicht ganz erledigt. - Oder der Kreisel. Der Kreisel fällt nicht um, wenn er in Betrieb ist. Kann man das verstehen? Nur durch die Rotation. - Man muss diese Dinge alle noch etwas erläutern. Das ist also die Aufgabe des Lehrers, dass er das eigentlich Verwunderliche noch steigert, also nicht etwa aufklärt, sondern ganz im Gegenteil aufsässig macht. Was natürlich merkwürdig ist. Wenn Sie sich einen Kreisel vorstellen aus Metall, gut poliert, glänzend, absolut glatt und symmetrisch gebaut, der sehr schnell rotiert, steht auf dem Tisch. Dann sieht man ihm gar nicht an, dass er rotiert. Der steht da so, als wenn er eine Kerze wäre, nichts zu sehen, ist viel zu schnell. Da fragt man sich doch, was eine Rotation überhaupt ist, wenn sie gar nicht zu sehen ist. So etwa könnte man anfangen. - Nun, in der Mathematik geht das auch. Die Hauptsache ist, dass das in der Natur vorkommt, man könnte sagen, in der Natur, die wir spielerisch bearbeiten, in der wir Schiffchen schwimmen lassen oder Kreisel antreiben. Insofern sind wir immer dabei. Das Beispiel, das am meisten interessiert, weil es am meisten hilft, weil sich am meisten alles durcharbeiten lässt, ist ja, dass man ein Glas Wasser nimmt, oder ein Gefäß mit Wasser nimmt und dann einen Becher hineintaucht und vollaufen lässt und dann umgekehrt herausziehen will, Öffnung nach unten, also den Boden nach oben, zieht es langsam heraus, dann wird das immer schwerer und das Wasser geht nicht raus. Das ist eine ganz harmlose Geschichte. Was das Wasser eigentlich veranlasst, das ist ja merkwürdig. Man sagt: "Das ist angesaugt". Na ja, hängt mit dem Saugen schon zusammen. Das ist ein Beispiel, das sich ganz durch Harmlosigkeit auszeichnet und abenteuerliche Wege der Entdeckung zur Ursache macht. -
Ja, die Mathematik: Die drei Mittellote im Dreieck durch denselben Punkt oder nehmen Sie drei Winkelhalbierende, das ist leichter vorzustellen. Von jeder Ecke geht eine Winkelhalbierende aus und zwei treffen sich und die dritte geht dann merkwürdigerweise auch durch den Punkt, und zwar genau, das heißt, das muss man sehen. Ob das Dreieck irgendwie verbogen ist, verschoben ist, schiefwinklig ist, das macht nichts, das ist immer so. Das sieht sehr viel aus, wie eine Verabredung. Dass zwei sich treffen ist ja klar. Der dritte, der an der dritten Ecke startet, der weiß nichts davon, dass die anderen sich getroffen haben, sondern der fährt stur nach Definition los und kommt dann zu seinem Erstaunen in demselben Punkt an. -
Also dies zur Anregung des Staunens oder... ja, auch ganz primitive Sachen: zweimal zwei ist vier, dreimal drei gibt neun, aber was mal was gibt zwei? Was mal was gibt fünf? Es gibt eben nichts, das kann eben nur ein Punkt sein, nicht wahr? Das Was; das was mal was gleich fünf entspricht, von dem kann man sagen, in welchen Grenzen es liegt: 2 x 2 = 4, 3 x 3 = 9, also damit es 5 gibt, die Wurzel aus fünf, das muss zwischen 2 und 3 liegen. Dann kann man es probieren, kann es stundenlang probieren, das Rätsel ist in diesem Fall, dass man es nicht rauskriegt. Man kann jahrelang, jahrzehntelang eine Untersuchung machen, man kriegt nichts hin. Und die Auflösung des Rätsels ist, dass es diese Zahl gar nicht gibt, wo es die doch geben müsste, da sie zwischen zwei und drei liegt. Das war aber jetzt schon zu kompliziert.
Oder ein Beispiel aus der Geologie, das ich einmal angedeutet habe: Kleine Buben beginnen sich bereits im stillen zu wundern, dass nach großen Regengüssen, wenn dann die Wege verschlammt sind und das Wasser ganze Deltas erzeugt von Sand oder Erde, dass das doch alles bergab geht, immer bergab geht. Nach solch furchtbaren Regengüssen hat man noch nie beobachtet, dass das Wasser nach oben geht. Das ist an sich harmlos, kann ja ruhig nach unten laufen. Aber man sieht, dass das etwas bewirkt, etwas macht, dass es Löcher reißt, dass es Bergstürze gibt, fürchterliche Überschwemmungen. Dann weiß ich von zwei Beispielen, dass dann Neunjährige fragen: "Wie soll denn das enden?" Das endet doch in einer ungeheuren Abtragung der Berge. Die müssten ja doch allmählich zu Tal gehen und das Ende muss sein: Eine schlammige, ebene, horizontale Fläche. Die Frage beunruhigt durchaus.
Ja, genetisch. Von solchen Dingen ausgehen heißt genetisch arbeiten. Natur - seltsame, sonderbare, absonderliche, beunruhigende Naturphänomene. Und jetzt frage ich nochmal: Warum sollte man davon ausgehen statt einfach die ganze Erklärung zu erzählen, von vorneherein? So, wie man also den Satz von der Winkelhalbierenden in drei Sätzen erklären kann - fertig. Und das mit dem eisernen Schiff, das schwimmt, geht auch so schnell. Warum den Umweg, dass man ausgeht von dem Unerklärten und nicht schon aus der Erklärung, die man hat oder gelernt hat oder lernen kann, aus Büchern lernt oder in der Schule lernt, dass man die erzählt. Was meinen Sie?

* Wenn ich die Erklärung der Physik dazu nehme, dann habe ich den Geist schon kanalisiert in eine Richtung, ja, und nehme mir die Möglichkeit kreativ zu sein und vor allem den Glanz, dieses Staunen, das mit den Dingen noch verbunden ist, das ist von Anfang an hinwegerklärt und deswegen ist auch ein wesentliches Element, das sich eigentlich mit den Dingen verbindet, nämlich dass ich staunen kann.

# Darauf kann ich ja getrost verzichten. Wenn ich will, dass die Leute etwas lernen, dann gebe ich ihnen das Ergebnis. Dass sie vorher gestaunt haben, ist Luxus.

* Es ist die Frage, ob man überhaupt lernen kann, ohne auch vorher sich zu wundern.

# Kommt das nicht vor?

* Ja, aber was heißt richtig verstehen? Wann hat man das dann verstanden? Oder hat man es nur gelernt? Ich habe das Verstehen gemeint, Lernen ist vielleicht das falsche Wort, lernen kann man auch etwas, ohne es zu verstehen.

# Die Erklärung kann ich dann ja am Schluss auch bringen, die erzähle ich dann. Dann steht sie im Raum, das geht doch auch, warum denn nicht? Man muss sich bewusst werden, warum, warum wir es vorziehen, dass nicht so einfach konsumiert wird.

* Ich denke, das hängt alles zusammen mit Verstehen als Endprodukt, als etwas Fertiges, was man am Ende hat. Oder ob man Verstehen stärker als Prozess sieht? Und wenn man Verstehen als Prozess sieht, dann muss man diesen Prozess über einen gewissen Weg hin durchlaufen.

# Dieser Prozess, warum ist dieser Prozess wertvoller als das Ende? Warum ist er überhaupt nötig? Er ist es doch, der zum Ziel führt, das Ziel ist doch, dass die Kinder es wissen und nachher auch verstehen, wenn ich ihnen etwas erzähle.
* Der Prozess ist übertragbar auf verschiedene Lebenssituationen.

# Ja, ja, können Sie es etwas weniger abstrakt sagen?

* Ich denke, wenn ich einmal diesen Weg durchlaufen habe, dass ich vom Anfang, von dem ersten Erstaunen und Wundern bis hin zur Naturbeschreibung auf wissenschaftliche Weise, den Weg genommen habe, dann weiß ich, wie solche Wege aussehen können und das habe ich dann für mein anderes Leben, für meine anderen Umstände, in denen ich mich befinde; eine wichtige Erfahrung, die ich auch dort mit einbringen kann, dass ich nämlich weiß, wie man vom Staunen zum Wissen in naturwissenschaftlichem Sinn kommt und von daher erweitert es meine Möglichkeiten in der Welt auch und meine ganze Umgangsweise mit ihren Zielen.

# Würden Sie zustimmen? Oder würden Sie...?

* Ich versuche es einmal für mich einfacher zu sagen: Ich denke, etwas das mich beunruhigt hat, das gehört ja dann zu mir, viel mehr als etwas, das ich vorgesetzt und erklärt bekommen habe. Das heißt, wenn mich etwas beunruhigt hat und ich kann es für mich erklären, dann kann ich es auch einbinden in meine Welt, in meine Vorstellung.

# Meinen Sie das?

* Ich denke, das hängt damit zusammen. Also Prozesse verändern auch mich, während ich sie durchlaufe. Und indem sie mich ein Stück weit verändern, gewinnen die Dinge auch eine ganz andere Bedeutung für mich als wenn ich jetzt nur ein Endprodukt über die Dinge zur Kenntnis nehme und eine Formel über die Dinge erhalte. Wenn ich einen Prozess durchlaufen habe, dann hat der Prozess mich verändert. Und diese Veränderung an mir ist etwas, was eigentlich erwähnenswert, etwas, was man macht, wenn man Physik betreibt und nicht so sehr, dass ich einige Formeln gemeinsam mit den Technikern und Physikern kenne.
- Ich glaube, dass dieser Prozess mehr im Bereich des Exemplarischen zu sehen ist und zwar exemplarisch für naturwissenschaftliches Denken oder in Erfahrung bringen. Ich würde das doch mehr auf den grundsätzlichen Erkenntnisweg beziehen als auf eine ganz persönliche Veränderung, die sehr individuell verschieden sein kann. Ich weiß auch nicht, ob man so etwas überhaupt erreichen kann, aber wenn man einmal so einen Erkenntnisgang hinter sich gebracht hat, dann wird einem vermutlich wesentlich deutlicher sein, wie, na, die Physik arbeitet, welche Gefahren da möglicherweise noch drinstecken, welche Vorgaben da gemacht werden, welche Vereinfachung vor allen Dingen gemacht werden, wo die Abstraktionen stecken, die man sonst gar nicht erkennen kann. Das halte ich für das Entscheidendere, wenn ich nur von der Physik aus die Sache betrachte.

# Wir sprachen ja ursprünglich über genetisch. Jetzt sind wir bei exemplarisch.

* Jetzt bin ich bei exemplarisch, ja.

# Das ist sehr wichtig, dass die beiden zusammenhängen. Kann man den Zusammenhang kurz sagen? Ich weiß es nicht. - Oder sagen Sie nochmal, wieso das exemplarisch ist. Was heißt exemplarisch?

* Exemplarisch ist der Weg zum Ziel. Also genetisch ist der Ausgangspunkt, das Phänomen und der Weg, der dann beschritten wird, wenn man ihn nachher überschaut, der wäre nach meiner Auffassung für verschiedene ähnliche Wege in der Wissenschaft.
- Ja, man geht den Weg nicht allgemein, sondern man geht ihn an einem bestimmten Beispiel. Man hat ein bestimmtes Beispiel, an dem man etwas findet, eine Gesetzmäßigkeit, oder eine Erklärung findet für ein bestimmtes Phänomen, von dem man ausgeht.

# Eine Erklärung suchen?

* Ja.

# Also ein Suchprozess?

* Wobei ich denke, dass im Genetischen tatsächlich der vorhin genannte Aspekt der stärkeren persönlichen Betroffenheit noch dazugehört. Ich könnte mir auch vorstellen, dass ich sozusagen vom Weg Landkarten verteile als Lehrer, indem ich dann sage, also die naturwissenschaftliche Forschung kann in der und der Richtung ablaufen, vom Wundern und so weiter, dann habe ich das auch schon wieder in eine abstrakte Form gebracht und habe den Schülern den unmittelbaren Zugang dazu genommen zu diesem Prozess. Also von da her glaube ich, ist es wirklich wichtig, dass da auch dieses Selbst-Durchlaufen mit hinzu kommt.

# Sie meinen, man muss diesen Prozess selbst erleben?

* Ja, ja, um...

# Ja, ja, um was, um was? -

(Pause)

* Ich meine schon, um auch selbst an sich durch die Vertrautheit mit diesen Prozessen eine neue Komponente seiner Persönlichkeit zu gestalten. Ich glaube, das ist nicht unwichtig, und ich glaube auch, dass man das dadurch erreichen kann, diese Dinge einflicht in die physikalische Methode, die könnte ich vielleicht doch auch auf eine etwas weniger unmitelbar persönliche Weisegeben, indem ich zum Beispiel so eine Landkarte ausgebe und sage: "Also die wissenschaftliche Forschung hat sich in diesen und diesen Schritten abgespielt, die Menschen haben sich gewundert und dann haben sie sich die und die Gedanken gemacht". All diese Dinge könnte ich so darstellen, aber ich würde trotzdem nicht diese unmittelbare Betroffenheit erzielen, ich glaube, die ich erzielen sollte, um in mir selber etwas zu verändern.
- Aber ich möchte doch mehr die Physik in den Mittelpunkt stellen und nicht mich und meine Veränderung. Denn dann muss ich wieder auf jeden einzelnen Schüler eingehen, aber wenn ich von der Physik ausgehe, gehe ich doch von einer festen Sache aus.

# Sie müssen aber auf jeden Einzelnen eingehen!

* Ja, aber ich gehe von der Sache her auf jeden Einzelnen ein und nicht von der Veränderung, die ich in jedem Einzelnen vielleicht hervorrufen könnte.
- Ich glaube, dass dies in jedem Punkt dieser physikalischen Lehrweise, dass dies im Einzelnen geschieht, es ist nicht so, dass ich dies jetzt im Einzelnen anstrebe, eine Veränderung zu bewirken, durch einen persönlichen Prozess zu durchschleusen, damit etwas an ihm geschieht, sondern um der physikalischen Sache willen, aber indem ich diesen Weg wähle, der ihn persönlich beteiligt, geschieht etwas mit ihm selbst auch, glaube ich. Das ist der eigentliche Sinn dieser Lehrmethode.
- Ich sehe das etwas anders. Methode ist für mich nicht irgend etwas, was man jetzt lernen kann und dann hundertmal wieder anwenden kann. Das weiß man ja auch in der Physik, dass es so einen Satz von Methoden gibt, so eine Art Handwerkszeug, dass aber ganz entscheidend neue Erkenntnisse eben mit ganz anderen neuen Wegen, auf neuen Wegen gefunden werden, Wegen, die außerhalb liegen. Für mich ist wichtig, dass derjenige, der etwas gelernt hat, also etwas lernt, sich innerhalb dieses Prozesses überzeugt, selbst überzeugt, dass das, was er da in sich aufnimmt, stimmt. Dass das richtig ist. Und dieser Überzeugungsprozess ist ja eigentlich das, was die Wissenschaft vorwärtsbringt. Es ist naturwissenschaftliche Bildung, dass man nicht irgend etwas hinnimmt, sondern sich von der Richtigkeit irgend einer Sache, auch außerhalb der Physik überzeugen sollte.
- Ich finde das ganz genau so und für mich ist ein schlichter Vergleich. Sie haben hier ja auch drei Stockwerke, und wenn man sich nun verabredet, man wird sich im dritten Stock im Raum 312 treffen, dann kann man sagen, es ist ganz egal, ob ich mit dem Fahrstuhl hochfahre oder ob ich zu Fuß die Treppe hoch gehe, 3.Stock 312 ist der Raum, wo wir uns treffen. Aber wenn man immer bloß mit dem Fahrstuhl gefahren ist, dann ist man zwar immer oben, aber man hat überhaupt nicht das Gefühl gekriegt: Wo ist das nun eigentlich? Und ich empfinde die genetisch-sokratisch-exemplarische Lehrweise insgesamt als eine Anregung, gelegentlich einmal die Treppe selbst hochzugehen, dass man auch daran glaubt, dass man im 3.Stock ist, dass man es auch weiß, denn mit dem Fahrstuhl können die einen ja auch beschummeln, dann stimmen die Zimmer zwar untereinander, aber vielleicht haben die einen in den 5.Stock gekarrt oder in den Keller. Nein, das merkt man. Insofern finde ich, trifft sich das schon, das eigene Durchlaufen des Weges an einigen Fällen, dass man sich selbst wirklich überzeugen kann, wohin haben die mich eigentlich gebracht, bis zu welchen Produkten, bis zu welchen Formen?
- Und darauf das eigene Spüren, dass man jetzt zum Beispiel weiß, im 30.Stock habe ich ein anderes Körpergefühl von einem Hochhaus als wenn ich jetzt hier im 2.Stock oder Erdgeschoss sitze.
- Das heißt nicht, dass man jedesmal zu Fuß bis zum 30.Stock oder bis zum dritten hochgehen muss, aber ein paarmal, sonst ist man völlig desorientiert.

# Hält man es für möglich, dass folgende zwei Vorgänge verschieden sind? Einmal bekommt man den Entdeckungsgang beschrieben, und zwar so, dass ich alles verstehe, jeden Schritt wirklich verstehe, und das Ergebnis auch. Damit vergleiche ich das andere, dass ich selbst diesen Gang mache, ohne Hilfe. Die Frage ist, ist das wirklich besser? Man sollte meinen, das ist ein anderes Transportmittel. Warum nicht das schnellere wählen? -
Ist man dann sicherer oder was ist los? Habe ich mich deutlich ausgedrückt?

* Vielleicht kann man es vergleichen mit einer Wanderung und einer Zugfahrt. Wenn ich mit einem Zug fahre, dann sehe ich im Prinzip die ganze Landschaft, sehe alle Ortschaften an mir vorbeifahren. Trotzdem ist die Art und Weise meines Bezuges zu diesen Dingen nicht so unmittelbar, wie wenn ich selber über Steine gestolpert bin und da lang gewandert bin. Und ich denke von daher natürlich kann ich alleine referieren, jeden physikalischen Aspekt der Entwicklung auch darstellen, aber das geht dann eben nicht in der gleichen Weise an mich, als wenn ich selber eben auch einmal gestolpert bin, auf diesen Wegen marschiert bin...

# Es geht an mich!

* ...Es ist eine andere Art des Kontaktes zu dem Gegenstand in viel unbeteiligterer Form, wenn ich jemandem referiere darüber, was andere gedacht haben, als wenn ich selber denke, drinstecke, mich da festbeiße und dann so eine Stelle überwinde und dann vorstoße in neue Erkenntnisse.

# Kann man das noch anders sagen? Dasselbe, mit anderen Worten nun. Das Beste schien mir, Sie sagten: "Es geht in mich" in einem anderen Fall würde es an mich gehen, Litfasssäule, beklebt. Kann man das beschreiben, was man für ein Gefühl hat, wenn man etwas entdeckt hat? - Ich weiß es nicht. -

* Ich weiß nicht genau, ob das auf der Linie liegt, aber ich denke, wenn man gerade als Kind die Erfahrung gemacht hat, dass die eigenen Gedanken, die eigene Auseinandersetzung, auch die eigene Formulierung nachher etwas wert ist, und nicht nur die, die man übergestülpt bekommt, dann schafft es eine ganz neue Dimension, dann passiert eben etwas, eine Aufwertung, die Mut macht, weiter zu gehen. Wie geseagt, es muss nicht überall sein, aber ich kann dann zum Beispiel in diesem Treppenhaus-Beispiel, wenn ich den Erfolg habe, eine Treppe hochzusteigen, dann wird, um einen neuen Ausblick zu haben, dann ist das etwas anderes als wenn ich...

# Es erinnert mich an ein Beispiel, das der Psychologe Wertheimer beschreibt. Die Kinder kriegten den Auftrag, aus einem Parallelogramm, also einem überhängenden Rechteck, zu entdecken, wie man den Inhalt kriegt. Wie macht man das? Die Entdeckung geht so, dass man ein Stück abschneidet und an die andere Seite anhängt. Er beschreibt nun ein Kind, das es auf die Weise entdeckt, dass es sich dieses Parallelogramm als Halsband umlegt, wobei dann die beiden Schrägen in der richtigen Weise zusammenkamen. Und das Entscheidende: Er sagt, dass das Kind lächelte, als es das rauskriegte. Es scheint ein angenehmes Gefühl zu sein, einen Gedanken zu haben. Also das tun sie gerne. Wenn ich von Sachen ausgehe, dann ist das nicht nur etwas ganz anderes und auch im Grunde viel Nützlicheres für meine ganze Bildung, sondern das ist es, was Kinder wollen. Die Schule tut das Gegenteil, sie weiß nicht, was Kinder wollen. Das ist eine andere Frage. Ich meine, dass das Problem ein Anreiz zum Lernen ist, und zwar das einzig Legitime, weil auch die Forschung nur davon ausgeht. Ich meine jetzt nicht die moderne Forschung, die hat andere Probleme, sondern ich bezeichne die so, die in der Mitte des vorigen Jahrhunderts aufhört. Man wollte etwas herausbekommen, und deswegen saß man an dem Problem fest, man wollte nicht davon. Man fühlte sich zwar unsicher, aber man war man selbst, man war nicht der Zuhörer, man gehörte zu dem Problem. Deswegen hat also diese Methode das Hauptargument, dass man Kinder auf diese Weise lehrt, so wie sie es auf natürliche Weise wollen. Oder sind Sie nicht der Meinung? -
Stimmt das? -
Ein Satz von Fichte fällt mir ein, den sagte immer Paul Geheeb an der Ecke. An der Ecke, das heißt, an der Ecke des Speisesaals vor dem Essen wurde ein Spruch angesagt und jeder konnte ihn sagen, kreative Einsichten. Es waren manchmal ganz kleine Burschen, die etwas sagten, die Älteren zitierten dann. Manche Sprüche von Paul Geheeb, wir nannten sie Sprüche durch den Bart, weil er leise sprach, undeutlich, in seinen Bart. Es gibt eine Sammlung davon, Sprüche durch den Bart. Einige davon sind unvergesslich und darunter der von Fichte: "Bildung geschieht durch Selbsttätigkeit und zielt auf Selbsttätigkeit ab". Gebildet wird man nur, wenn man selbst etwas tut, draufkommt. Der Sinn der Bildung ist, dass die Tätigkeit, die man entwickelt, gestärkt wird. Ich wüsste nicht, was da zu widersprechen wäre.
(Lange Pause)
Was war das jetzt, genetisch oder ...exemplarisch?

* Aber wenn diese Lehrart genetisch-exemplarisch, warum dann sokratisch? Wo doch die Philosophie-Geschichte viel weiter gegangen ist von Sokrates aus. Warum soll man an dem alten Sokrates immer noch festhalten?

# Damit sind wir beim dritten Punkt. Warum sokratisch? Ja wie denn sonst? Wie wollen Sie denn das machen? Sie müssen dem Kind, dem Sie das Rechteck um den Hals legen, natürlich erst einmal die Aufgabe nahebringen, und dann macht es das selbst, vielleicht. Also kurz gesagt, ist diese Methode möglich, zwischen einem fiktiven Lehrer und einem fiktiven Schüler oder einem fiktiven Lehrer und einer fiktiven Klasse? Wenn die Klasse als Ganzes gemeint ist, wer soll da "er selbst" sein? Wer soll sich angeredet fühlen, wen soll er anreden, der Lehrer, wenn er beides will? Natürlich, im Falle der Prinzenerziehung ist die Sache einfach. Unsere großen klassischen Dichter sind ja alle einmal Hauslehrer gewesen beim Fürsten. Wir sagen doch: Selber finden. Aber jeder ist ein anderer. Also der eine lernt vor einem anderen Hintergrund seiner Einfälle als ein anderer. Wie soll ich denn das berücksichtigen? Wir haben es ja vorhin schon berührt, meine ich.

* Das war auch so bei Sokrates, da war immer eine Gruppe. Und dann hat er einen von denen herausgegriffen und hat den ausgefragt.

# Das wäre schon nicht mehr sokratisch. (Gelächter) Er hat es überhaupt nicht gekonnt, was wir in seinem Namen predigen. Die Sache mit dem Menon ist geradezu komisch. Er fragt ihn: "Ist es nicht so?" und er sagt: "Ja, es ist so". Aber das mindert seinen Ruhm nicht. Ein Anfänger ist halt ein Anfänger. Also, wie soll man es denn machen? Ich kann doch nicht nur mit einem sprechen und die anderen zuhören lassen. Ich kann nicht jeden einbringen, dass er dabei ist, selbst dabei ist, innerlich dabei ist, dass er nicht nur Fragen beantwortet, sondern auch selbst fragt, nicht den Lehrer, auch andere. Was bleibt denn da übrig als ein Gespräch?

* Ich erlebe Jugendliche oft sehr verschüttet, mit wenig Möglichkeiten, auf andere zuzugehen, auch zuzuhören, sehr schwer, muss man lernen. Und die Frage wäre, ob sozusagen eine Vorstufe ein Selbstgespräch wäre, wegen mir auch in schriflicher Form, um dann, wenn es ein Stück weit fester ist, eine Ansicht hat, auszutauschen.

# Ich hab Sie akustisch nicht verstanden.

* Ja, noch einmal. Bevor man in ein Gespräch kommt, in der Gruppe, ein Selbstgespräch zu initiieren oder anzuregen, bevor man... ja, welche Fragen habe ich zu diesem, was treibt mich um, oder was ist es, was ich wissen will, bevor ich in die Auseinandersetzung komme mit anderen? Das wäre eine offene Frage.

# Könnte es ein anderer noch einmal mit seinen Worten sagen? Was hat er gesagt?

* Er fragt, ob es nicht sinnvoller ist, da Schüler oft Schwierigkeiten haben in einem Gespräch sich einzubringen, ob es da nicht sinnvoller ist, dass sie vorher zunächst einmal für sich selbst das Problem durchgehen und dann sozusagen bereits wissen, was sie sagen möchten, ob das nicht einfacher wird?

# Ja, was sagen Sie dazu? - Sie haben das offenbar probiert?

* Ja.

# Also ich finde es ausgezeichnet. Ja. Da man doch innerhalb eines Gesprächs sehr leicht überrascht ist und sein Kurs allzusehr schwankt, kann das ja nichts schaden. Das ist ja eine Einzelheit. Aber das Gespräch nachher...

* Zwischenfrage: Das sind dann aber etwas weiter denkende, klügere Schüler, die sich zumindest ihren nächsten Schritt schon überlegen können oder vielleicht sogar bereit sind, etwas aufzuschreiben. Oder schaffen Sie das auch mit solchen, die nur von jetzt bis gleich denken?
- Ich denke, es ist sehr schwierig, Kinder, die gewohnt sind, im Fernseh-Takt, wo also keine Sequenz länger als dreißig Sekunden oder so etwas dauert, diese Fernsehspots, die wir sehr oft haben, die erst mal zu kriegen, über eine längere Dauer die irgendwo an etwas festzuhalten. Und da denke ich, ist so ein Selbstgespräch oder die Form der Auseinandersetzung, es auch schriftlich niederzulegen, zu beobachten erst einmal, bevor sie irgendetwas sagen, eine wichtige Vorstufe.
- Es erinnert mich auch so, dass sich das immer abwechseln wird, man wird ein Gespräch haben, dann auseinandergehen, dazwischen ja auch weiterdenken, wenn das Gespräch irgend ein Problem berührt hat und aufgewirbelt hat, wird ja in der Pause auch etwas nachwirken und wird versucht, vielleicht eine Lösung zu finden. Und dass das auch immer so Hand in Hand geht, denn anschließend wird das wieder ins neue Gespräch, ins nächste Gespräch eingebracht, was die Einzelnen dann noch selber dazu bewegt hat und dann wird sich das weitertreiben. Also so, was das Erste ist, weiß ich gar nicht, ich kann mir auch vorstellen, dass man es erst einmal direkt aus dem Gespäch versucht. Aber wenn dann nichts kommt, und wenn da, was weiß ich, gar keine Beunruhigung da ist, wie man das am besten findet, ob es da hilfreich ist, am Anfang erst einmal zu sagen, er soll sich hinsetzen und selber seine Gedanken klären. Das kommt wahrscheinlich auf die Einzelnen an, die beteiligt sind.

# Ja, ich kann das nur bestätigen. Übrigens ist die Pause sehr wichtig, auch die Pause von mehreren Tagen, falls natürlich die Fesselung, die Beziehung da ist. Es ist nicht so leicht da zu haben, wenn zwischendurch noch fünf andere Fächer eigentlich nur störend dazwischen kommen.

* Ich hätte noch eine Zwischenfrage. In welchem Alter sind denn die Schüler, die Sie da so verschüttet, die sich gar nicht so gerne äußern, in welchem Alter erleben Sie die?
- Pubertierende Kinder, Jugendliche, in der achten, neunten Klasse.
- Dann würde ich aber eher sagen, dass dies auf den Einfluß der Jahre zuvor in der Schule zurückzuführen ist, dass die da keine Lust haben, sich mit irgend etwas auseinanderzusetzen oder etwas zu äußern. Und dass man eigentlich in den frühen Schulklassen anfangen müsste, die zum Wundern, auf eigene Ideen zu bringen, denn da werden sie ja normalerweise, was ich beobachtet habe, abgewürgt, gleichgeschaltet.
- Nicht bloß verschüttet, sondern abgewürgt.
- Dazu müsste man wissen, ob die verschüttet sind in allem Unterricht, zum Beispiel in Deutsch oder ob das spezifisch im naturwissenschaftlichen Unterricht sein wird, wo auch andere spezielle Probleme die Schüler berühren, oder ob das in allen zu beobachten ist, dass die Schwierigkeiten haben.
- Die haben überall Schwierigkeiten, ich denke mir, an der Schule, an der ich bin, haben wir Schüler, wie wir sie morgen haben werden, nämlich dass jedes zweite Kind aus einem nicht mehr intakten Familienhaus kommt, da hat die Schule nur noch dazu beigetragen, dass sie so schlecht sind.

# Ich wollte sagen: Wir haben ja nun das Buch 'Kinder auf dem Wege zur Physik' wo die Dokumentation von Thiel vorliegt. Die halte ich für sehr wertvoll. Die zeigen doch, dass Kinder im Alter von neun Jahren ein geordnetes Gespräch führen können, wobei der Lehrer fast nichts sagt und trotzdem etwas herauskommt. Die sind wirklich großartig. Natürlich kann man immer hören: "Das ist ein Einzelfall, wie kann man das denn übertragen?" Man muss es eben versuchen. Nun sind diese Kinder von Anfang an, vom ersten Schuljahr an, in dieser Form unterrichtet worden. Das ist wesentlich. Sie unterbrechen sich niemals. Die Stimmung, ich habe das selbst erlebt, ist sehr gut. Die wissen gar nichts. Es kommt auch etwas heraus. Natürlich muss der Lehrer etwas tun. Was denn? Man könnte ja sagen: "Er kann nach Hause gehen". Das sagen die Opponenten meistens. Wenn ich in Kollegenkreisen das propagiert habe, dann meinen sie: "Dann können Sie ja ganz wegbleiben, Sie meinen ja, die finden alles von selbst." Das habe ich aber nicht gemeint, nicht so ganz von selbst. Was tut er denn nun? Sokrates hat da noch nichts gesagt, aber Leonard Nelson hat das gesagt. Es war in den Zwanzigerjahren. Was der Lehrer dann noch tut? Eigentlich tut er sehr wenig. Er sagt: "Wovon reden wir eigentlich?" - "Was haben Sie denn gesagt?" - "Haben Sie selbst verstanden, was Sie eben gesagt haben?" - oder zu einem anderen: "Sagen Sie doch mal, was er eben gesagt hat, mit anderen Worten, oder mit eigenen Worten". Sie sehen, dass ich das teilweise imitiere, ich kann es bloß nicht so gut wie er es konnte. Er trieb es äußerst weit, nichts zu tun, er war ja Philosoph. Aber er hat besonders empfohlen, Mathematik so zu unterrichten, denn er fand den Skandal, wie er sich ausdrückte, des Mathematikunterrichts unerträglich.
Ich versuche, die drei Vokabeln unter einen Hut zu bringen: Genetisch-Exemplarisch-Sokratisch. Kann man da nicht eine Logik reinbringen?

* Ich habe den Eindruck, dass man das Sokratische vielleicht dadurch näher bestimmen kann, dass man das Prinzip des genetischen Lehrens nicht kaputtmacht durch die Art und Weise, wie man als Lehrer im Unterricht dann interpretiert, wie man eingreift. Das heißt, wenn ich zum Beispiel als Lehrer bestimmte Resultate vorwegnehme und sie nicht ganz vorsichtig nur befördere in ihrer Entstehung beim Schüler, dann habe ich ja mein Ziel des Genetischen zunichtegemacht. Also muss ich mit meiner Art und Weise des Eingreifens im Unterricht so zurückhaltend sein, dass tatsächlich diese Genese auch der Unterrichtsgegenstände in den Schülern dann auch erfolgen kann, und ich glaube, dadurch ist ziemlich weitgehend schon diese Zurückhaltung auferlegt, die man dann beim Sokratischen üben muss.

# Zu den schlimmsten Hindernissen gehören die Vorkenntnisse, Vorauskenntnisse, dass man in einer gewissen Altersstufe Dinge paukt, für die keinerlei Interesse besteht, keinerlei Wunsch, etwas Problematisches zu klären, sondern bloß, weil es da drin steht im Lehrbuch, das dann kommt mit der faden Begründung: "wir werden es später brauchen" oder "wir müssen das machen", und der Sinn der ganzen Geschichte ist der, dass das nur ein Material ist, was für die wenigen, die Abitur machen, ein Material ist, mit dem sie dann arbeiten können, während die, zu denen man spricht, dazu keine Beziehung haben, eine Art Kinderarbeit, die man für Erwachsene, Ältere, durchführen muss. Also sinnlose Kinderarbeit, etwas, das man 'pauken' nennt. Ist das richtig, Herr Rebstock?

* Ja.
- Aber es gibt Zwänge. Es gibt Zwänge in der Schule, und die Kinder kommen zu uns, um Abitur zu haben.

# Ja.

* Ich möchte einmal etwas erzählen. Ich besuche im Moment die Experimentalphysikvorlesung, so aus Spaß, ich kann mir so etwas leisten, ich bin am Abendgymnasium, ich unterrichte abends und gehe jetzt jeden Dienstag und Donnerstag in die Experimentalphysik, um mir das einmal anzuhören, wie das gemacht wird, man vergißt das ja. Und da habe ich also festgestellt, dass es da offensichtlich überhaupt nicht darauf ankommt, dass die Studenten während der Vorlesung noch etwas verstehen, das ist gar nicht der Sinn dieser Veranstaltung. Das merkt man auch an den Aufmunterungen des Professors, dass der immer sagt: "das müssen Sie sich mal zu Hause genau angucken, damit Sie das verstehen" oder "das müssen Sie gut lernen, das werden Sie später brauchen". Mir ist also aufgefallen, dass man also offensichtlich, wenn man überhaupt irgendwo im Leben etwas verstehen kann, dass es dann die Schule ist. Oder wenn man nachher fertig ist als Physiker und man hat Muße, über das nachzudenken, zum Beispiel als Lehrer, was man da eigentlich gelernt hat, dann hat man auch eine Chance, noch etwas zu verstehen. Jedenfalls so in dieser Schnelligkeit, wie das vonstatten geht, habe ich also nicht den Eindruck. Ich bewundere die Studenten, dass die da alles so aushalten und aufnehmen, die meisten haben solche Skripte vor sich liegen, wo sie einfach nur nachlesen. Die können das auch gar nicht alles aufnehmen, was da gleichzeitig alles passiert. Das muss man sich einmal vorstellen: Der erzählt da ein Experiment, aber das macht er nicht selbst. Um Zeit zu sparen, wird das von Assistenten ausgeführt, während er gleichzeitig erklärt, um was es da geht. Soll man also dahin gucken und dorthin gucken, man soll mitschreiben und man soll noch verstehen, was da jetzt abläuft? - Das halte ich für ganz unmöglich.
- Ich habe das auch so erlebt, gerade in der Experimentalphysik, wenn ich da drin gesessen habe, dann drehte sich da was ab, und dann wurde nicht erklärt, was sich da drehte, das hatte einen Namen, das hieß Corioliskraft oder weiß ich was und dann galt dafür eine Formel, und dann stand ein Integral am Overhead-Projektor. Das war es dann aber auch.
- Es herrscht aber allgemein die Vorstellung, ich habe das jetzt gehört über jemanden, der die Experimentalphysikvorlesung in Frankfurt hält, dass es gar nicht darum ginge, dass die Studenten die Sache verstehen, sondern es geht darum, dass die, so wie ich es verstanden habe, überwiegend um deren Motivation. Und es geht darum, die ganze Bandbreite der Erscheinungen, in die man sich tiefer hineinknien könnte, vorzustellen.
- Also die Motivation wird so nicht gefördert. Ich befand mich in meinem dritten, vierten Semester in einem Zustand mittlerer Depression, das ist jetzt übertrieben, aber...
- Das wird mehr als Schau aufgezogen.
- Ja, das führt aber zu gar nichts. Nach dem vierten, fünften Semester, da hatte ich ja mein Vordiplom, da hatte ich immer die schreckliche Befürchtung, es fragt mich jemand etwas ganz einfaches, was man doch jeden Tag sieht und ich soll ihm das erklären. Ich meine Studium Physik, hat Vordiplom bestanden, jetzt wollen wir doch einmal forschen, warum ist das so? Und ich habe das selber ausprobiert dann, ich meine nach dem fünften Semester hatte ich dann ein bisschen mehr Luft, und dann habe ich mich halt selber um die Sachen gekümmert, die mich interessiert haben. Das habe ich nicht an der Uni gelernt. Und dann habe ich das selber ausprobiert mit Leuten in meinem Semester. Es war erschreckend.
- Welche Fragen haben Sie da gestellt?
- Ich habe zum Beispiel einmal die Frage gestellt, wie Ebbe und Flut entsteht und vor allem den Mond. Das ist doch das mit dem Mond. Da habe ich gesagt: "Nun gut, aber es gibt doch immer zwei Flutberge. Auf der anderen Seite, wo der Mond gar nicht ist, da ist doch auch einer" - "Oh, oh Gott, stimmt, hast recht, habe ich noch nie nachgedacht, das kann ich dir nicht sagen. Das ist bestimmt schrecklich kompliziert!" Wussten sie nicht. Ich meine, man kann in der Physik ja auch nicht alles wissen, aber das ist wirklich erschreckend. Und ich konnte die ja auch nur Sachen fragen, die ich selber schon wusste. Das war sehr beschränkt. Trotzdem. Und ich finde, die Motivation wird durch solche Vorlesungen nicht gefördert.
- Nein, aber das ist ja Selbstverständnis teilweise, dass man meint, durch sehr viel apparativen Aufwand und ein Vorführen möglichst vieler Effekte eine Faszination erzeugen zu können bei den Studenten, und die Faszination durch Verstehen spielt keine Rolle dabei.

# Es ist eigentlich wie im Zirkus. Selber kann man so etwas nicht.

* Wie beim Zauberkünstler, wo man gar nicht weiß, welchen Trick er gerade benutzt.
- Ich gehe gerne in den Zirkus, aber nach eurer Beschreibung hätte ich jetzt Bange, in den Zirkus zu gehen.
- Och, das war schön. Wir nannten es immer 'Zirkus Soundso'. Ja, aber der Assistent, der hat einen ganz tollen Job, was der immer alles machen kann, das war sehr spannend, wir haben immer nur dem zugeguckt.
- In Marburg gibt es aber drei Assistenten.
- Da gab es nur einen, und wie der auf den Drehstuhl hopste und lauter so Zeug machte...
- Das hängt auch davon ab, wie gut die Vorlesung ist.
- Oder wie gut der Assistent ist.
- Es kommt auch auf die Experimente an, wie anschaulich die sind, wie gut man den Effekt überhaupt erkennen kann, aber im Prinzip ist das ja alles zweitrangig. Also ich bin auch in vier Experimentalphysikvorlesungen gewesen, wobei in den letzten überhaupt kein Experiment mehr vorkam. Aber in den ersten beiden kommen die Experimente. Ich bin immer brav hingegangen.
- Es war spannend?
- Ja, ein bisschen spannend war es auch, und es war auch irgendwie eine gewisse Angst vorhanden, der Professor hat bei jedem Experiment gesagt, bei jeder Formel: "Das dürfen Sie nie mehr vergessen, das ist außerordentlich wichtig." Das hat er in jeder Vorlesungen mindestens viermal gesagt, so dass man doch ziemlich frustriert war, was man alles nie mehr in seinem Leben vergessen dürfte.
- Aber ich kann das nur bestätigen. Ich habe mich immer gewundert, wieso diese Vorlesung so völlig ohne Effekt an einem vorbeistreift. Es hängt damit zusammen, dass man keine Zeit hat, ein Phänomen einmal in Ruhe auf sich wirken zu lassen. Man hat im Grunde nie das Phänomen selbst, sondern es wird immer begleitet von einer Formel an der Tafel, es wird immer gleichzeitig begleitet von einer Art Erklärungen, wenn die zu den komplizierten Apparten, die da aufgebaut sind, überhaupt kommen, wenn man irgendwann einmal darüber nachdenkt.
- Dass da vorne alles so wesentlich wichtig ist, das verhindert auch eine Strukturierung, wie man sie später doch noch vornimmt, in wesentliche Sachen und weniger wesentliche Sachen.
- Ich finde es auch, dass man überhaupt keinen Wert auf eine Didaktik legt, bei fortgeschritteneren Studiengängen, Diplomphysik oder so. Da ist Didaktik völlig unwichtig, da macht jeder Professor seine eigene und der würde sich da auch nie etwas hereinreden lassen, sich nie bei einem Pädagogen Rat holen, wie man das am besten macht.

# Was denken denn die Akteure, die Professoren, eigentlich selber?

* Wir haben in Marburg einen ganz jungen Physikprofessor erlebt, der ist immer zu uns gekommen: "Wie soll ich es denn machen?" Und er hat sich wirklich verzehrt danach, uns etwas beizubringen.

# Also die Leute scheinen doch auch darunter zu leiden.

* Der hat wirklich darunter gelitten. Da saßen beim ersten Mal zweihundert Studenten da, zweite Vorlesung fünfzig und dann wurden es immer weniger, die gingen gar nicht mehr hin.
- Jetzt in Frankfurt, da läuft der Grundkurs 'Einführung in die Physik für Lehramtskandidaten' für Haupt- und Realschulen. Man darf gar nicht laut sagen, wieviele da drin sind -einer neulich- falls das irgendwelchen Planungskommissionen einmal... Es ist haarsträubend, und bei den Diplomphysikern, da sitzen sie sich auf den Füßen und die Probleme, die die Leute da drüben haben, sind exakt genau die gleichen, falls sie überhaupt einmal ein bisschen anfangen, über Physik nachzudenken. Nur dass man dort überhaupt kein Interesse daran hat, denen didaktisch sinnvoll etwas beizubringen. Es geht darum, dass die später ihr Fach beherrschen, ein begrenztes Gebiet, auf dem sie später gebraucht werden. Dass es da notwendig sein könnte, ihnen da auch ganz elementare Dinge beizubringen, in einer anderen Weise, als dass man die Dinge einfach da abzieht, das muss jeder selbst machen, das ist das akademische Studium.
- Ich weiß nicht, ob es stimmt, ich will einmal einen Ausspruch wiedergeben von einem Wiener theoretischen Physiker, den Namen habe ich leider vergessen -nicht Sexl-, das war eine Veranstaltung der Deutschen Physikalischen Gesellschaft in Gießen. Und der hat also hauptsächlich vor Lehrern gesprochen. Und der hat also den für mich bemerkenswerten Satz geäußert, dass zwar ein Physiker, der in der Wirtschaft arbeitet, sein Handwerk kennen muss, dass wir aber als Lehrer, als Physiklehrer, wissen müssten, was Physik ist. Das würde das bestätigen. Denn die brauchen gar nicht darüber nachzudenken, um was es da eigentlich geht, wenn sie nur das Richtige tun; während wir, wenn wir das vermitteln wollen, schon wissen müssen, womit wir uns überhaupt abgeben.
- Das ist aber ein armes Bild von einem Wissenschaftler.
- Ich gebe es nur so wieder.
- Also da, wenn ich an den Sokrates denke, da hat der sich nicht immer bloß als Hebamme aufgeführt, sondern im Gegenteil als Stechfliege. Der kam dann bei solchen Leuten -es sind drei Hauptsätze- erstens: Ich weiß, dass ich nichts weiß. Das ist der erste Hauptsatz und: Leider habe ich lernen müssen, dass die wenigsten Leute auch etwas wissen, allerdings drittens: Die meisten glauben, sie wüssten etwas. Und wenn ich das so richtig verstehe, hätte ja doch der Sokrates, würde in solchen Vorlesungen als Stechfliege sich benehmen. Nicht als Hebamme, um das aus den Köpfen herauszuheben, was an Wissen da liegt, sondern erst einmal die Professoren fragen: "Haben Sie eigentlich verstanden, was Sie gerade gesagt haben?" Ist das richtig gesehen?
- Ich denke schon.
- Welcher Student traut sich das zu sagen? Zumal, solche Stechfliegen verscheucht er aus der Vorlesung, die werden auf die Übung geschoben.
- Der Sokrates ist ja damals auch abgeschoben worden, eben tödlicherweise. Aber das Interessante ist ja doch, wenn ich richtig verstehe, dass Sie (Herr Wagenschein) vorschlagen, der Lehrer selbst sollte ein Sokrates sein.
- Die meisten Professoren leiden aber nicht darunter, und selbst wenn er die Studenten fragt, woher sollen die denn wissen, wie man didaktisch eine Vorlesung aufbaut, das ist so, wie wenn man als Lehrer seine Schüler fragt: "Ach, erzählt mir mal, was ich jetzt mit euch durchnehmen soll."
- Doch, das ist so, wie der Koch den Gast fragt: "Hat es geschmeckt oder war es versalzen?"
- Ja, aber im Nachhinein. Da hat er schon gegessen.
- Im nächsten Restaurant nimmt er weniger.
- Ich glaube, dass im Studium auch ganz stark das Ziel vorherrscht, und das Ziel besteht darin, bestimmte Dinge zu wissen, und da hat man keine Zeit, den Weg in einer Weise zu absolvieren, dass man etwas davon hat. Das ist in den Praktika genauso. Da geht es nicht darum, dass man lange Zeit hat, sich mit einem Versuch zu beschäftigen, sondern da geht es eigentlich nur darum, dass man ein Protokoll abliefert, bei dem die Messwerte möglichst stimmen und der Assistent nichts daran zu bekritteln hat. Das sind alles fertig aufgebaute Experimente, und dann ist das Praktikum auch nur zu einem Schnellkurs im Umgang mit Geräten geworden.
- Darf ich nochmals zurückkommen auf die Ausgangsfrage? Genetisch-Exemplarisch-Sokratisch. In Ihrem Buch (Herr Wagenschein) das den Titel hat `Verstehen lehren' das war für mich immer eine große Herausforderung. Wenn da gestanden hätte `Wege zum Verstehen' zumindest im Titel, aber hier lernt man, wie man Kinder oder Jugendliche generell verstehen kann. Und da die Frage: Was heißt eigentlich Verstehen? Was heißt denn das? Kann man das nun so sagen, Verstehen Lehren... ich habe das pointiert nochmal formuliert mit diesem Titel, natürlich steht im Buch sehr viel Interessierteres, der Prozesscharakter kommt hier deutlich zum Ausdruck. Was heißt Verstehen noch einmal? Oder wo können wir Erfolg sehen? Wo können wir sagen: "Verstanden" oder "Ich habe verstanden"?

# Können Sie mir nochmal sagen, was er gesagt hat? Meine Hörfähigkeit nimmt ab. Ich habe es nicht ganz verstanden.

* Er hat an Ihren Buchtitel 'Verstehen lehren' angeknüpft und fragt nun, was heißt `Verstehen', wenn man es lehren kann. Dieses Verstehen, das möchte er erklärt haben.

# Ach so, wie man nicht lehrt.

* Ja, überhaupt.

# Ja, das ist, wie man nicht lehrt, nicht belehrt jedenfalls.

* Ja, aber wann habe ich eine Sache verstanden? Kann ich das irgendwie, ich will nicht sagen definieren, aber formulieren?

# Ja, das ist kaum zu machen. Ich habe gar nicht von Physik gesprochen, nicht einmal von galileischer Kausalität. Der Gedanke von Galilei ist ja Kausalität. Und eine Sache ist verstanden, wenn sie reduziert wird oder geradezu dasselbe ist wie eine andere. Die Brechung ist verstanden, wenn man sie als Bremsung verstanden hat. Die Sache mit dem Wasser, das nicht aus dem Glas fließt, ist verstanden, wenn man begriffen hat, dass die Atmosphäre ein Gewicht hat. Dass die Winkelhalbierenden in einem Punkt sich schneiden, das folgt aus: Wenn A gleich B und B gleich C ist, dann ist A gleich C.
Ja, das sind Beispiele. Wenn eine Sache, die unverständlich, rätselhaft, beunruhigend ist, als gleichlautend, als gleichwertig erkannt wird wie eine andere Sache, die ganz vertraut ist. Bertrand Russel sagt: "Ich kam allmählich dahinter, dass die Mathematik die Kunst ist, eine Sache auf zwei Arten zu sagen, weiter nichts. Einmal die Behauptung und ein anderes Mal der sogenannte Beweis, die Voraussetzung. Das ist dasselbe, ein allgemeiner Kurzschluss." Ich weiß nicht, ist das verständlich? Meinten Sie das? Nein, so nicht.

* Es gibt auch noch eine andere Seite, die sogenannte subjektive Seite, ob man selber das Gefühl hat. Jetzt ist der Groschen gefallen, sagt man oder: jetzt hat es geklickt. Es gibt eine Menge Ausdrücke dafür, dass man ein Erlebnis hat von einer Gewißheit: Jetzt ist es klar.

# Also psychologisch schon.

* Ja, aber das wäre eine andere Seite, zu umschreiben, was heißt `verstehen' für den Einzelnen?

# Stehen. Stehen auf den Phänomenen habe ich gesagt. Wenn ich da fest stehe, dann ist es klar. Aber wenn ich nicht so weit bin, dann schwebe ich in der Luft und angele nach dem Grund, der Causa.

* Ich denke, dass es wichtig ist, dass Kinder, also der Jugendliche, das in ihrer Sprache, in ihrer Weise noch einmal ausdrücken. Da merke ich erst: Hat er es für sich verstanden? wenn es nochmal neu gebildet wird, durch die eigene Sprache, und wenn es nur ein Gestammel ist.
- Ja, aber es ist etwas Eigenes geworden.

# Können Sie es noch einmal sagen?

* Können Sie nicht etwas lauter reden, ich muss übersetzen.
- Rede ich so leise?
- Offensichtlich. Also er meint, dass die Schüler mit eigenen Worten wiedergeben, was sie da verstanden haben.

# Ich meine, dass sie zuerst sagen, was sie verstanden haben, nicht das, was er gesagt hat. Er sagt ja gar nichts. Sie stammeln etwas oder auch nicht, sie reden ein unglaublich reiches, gar nicht akademisches Deutsch. Und der Lehrer hat die Aufgabe, das zu verstehen, weil er ja selbst etwas verstehen will. Wenn der Lehrer verstanden hat, was die Schüler verstehen, dann haben sie verstanden.
War es das? -
Der Lehrer muss natürlich viel sagen, ich meine nicht, die ganze Stunde reden. Aber er darf nicht die Lösung sagen, sondern er muss... die Schwierigkeiten vergrößern, damit die Aufgabe gesehen wird.

* Ich glaube, wichtig ist auch, dass die Schüler dem Lehrer abnehmen, dass die Sache, von der er spricht, für ihn selbst ein Problem darstellt. Dass sie also nicht glauben, er veranstaltet ein Quiz und erwartet von den Schülern, dass sie selbst darauf kommen. Weil sie dann doch ganz stark das Gefühl haben, genau wie beim Quiz, es kommt ja nur auf das Resultat an, es kommt ja nur darauf an, dass der Satz da vorne an der Tafel steht, um etwas anderes geht es ja eigentlich nicht. Wenn sie das so auffassen, dann haben sie natürlich recht, sich zu verweigern und zu sagen: "Wir wollen das nicht mitmachen, dieses Quiz". Daher, glaube ich, ist das auch ganz stark eine Frage der Glaubwürdigkeit des Lehrers. Das kann man, glaube ich, nur dann sein, so glaubwürdig, wenn man sich selbst einmal diese Fragen ganz grundlegend gestellt hat. Das merken die Schüler sehr schnell, wenn man nur so tut, als hätte man bestimmte Probleme.

# Die merken alles, die merken das sofort. Und die merken auch, wenn dem Lehrer die Sache selbst problematisch ist, obwohl er die Lösung kennt. Es ist weniger problematisch, dass er die Lösung kennt, sondern dass er sich immer wieder darüber wundert, dass es so ist. Dass man sich über eine Sache wundern kann, obwohl man die Erklärung hat, das ist das Entscheidende. Wir sind keine Aufklärungskommission. Die Sache wird gar nicht einfacher durch die Erklärung, die wir geben. Sie wird nur verschoben, dass sie bemerkenswert unheimlich ist, ja, dass man überhaupt etwas erklären kann, und wie und mit welchen Grenzen. Wenn man das dann erklärend weiß, besonders die Grenzen auch weiß, dann ist das Erklären nur ein Verschieben des Staunens auf eine höhere Schicht. Mir fällt gerade kein Beispiel ein.
Ja, wollen wir aufhören? Es sind doch einige von meinen Leuten da, jetzt am Schluss. (Gelächter rundum). Ja, auf Wiedersehen.

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