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Die Erdmessung des Eratosthenes

von Klaus Kohl

"Eratosthenes maß mittags am 21. Juni den Schatten von Obelisken in Syene (dem heutigen Assuan) und in Alexandria. In Syene warf der Obelisk keinen Schatten, in Alexandria betrug der Schattenwinkel 7° 12'. Da Eratosthenes annahm, dass die Erde eine Kugel sei und (fälschlicherweise) annahm, dass Syene 5000 Stadien südlich von Alexandria lag, berechnete er daraus einen Erdumfang von 250000 Stadien..."

Ruft man ins Internet: "Yahoo! Eratosthenes!" brüllt es zigtausendfach: "Hier!".
Selbst wenn man sich auf die deutschsprachige Auswahl "Eratosthenes und Erdumfang" beschränkt, kommen noch über 500 Antworten.
Und da soll ich noch etwas Neues bringen? So ein Amateur ohne richtige humanistische Bildung? - Mal sehen.

Wie komme ich überhaupt auf Eratosthenes?
Physikunterricht, MKS-System, Meter - so gerade 200 Jahre alt geworden - wie man zu lernen hat, ursprünglich der zehnmillionste Teil des Erdquadranten.
Meinetwegen in verständlicheren Worten: Der 40-millionste Teil des Erdumfangs über die Pole gemessen, quer durch Paris.

So etwas verkünde ich nun nicht als edle Stoff-Wahrheit sondern frage: Na ja, dann ist natürlich klar, dass ich darauf hinweise, dass so eine Messung - wenn auch nicht durch Paris - schon 2000 Jahre früher angestellt wurde. Die totale Überraschung der Schüler macht es nötig und erlaubt es mir auch, den Physik-Lehrplan sich selbst zu überlassen und statt dessen ein wenig Himmelskunde zu treiben, so ganz antike, ohne Teleskope und Satelliten.
Einfach das, was man selber sehen kann.
Antike Himmelskunde - eigentlich die noch ganz junge, sozusagen greifbare Sensationen entdeckende Himmelskunde!

Bekanntermaßen sind die Quellen über die Erdmessung des Eratosthenes etwas dürftig.
Kleomedes hat sie uns am ausführlichsten überliefert.
Aber über Kleomedes wissen wir noch weniger als von Eratosthenes selber.
Entsprechend gehen die Ansichten, was Eratosthenes nun eigentlich am 21. Juni des Jahres weißnichtwann (etwa 220 v.Chr.?) gemacht hat, weit auseinander.
In die Lehrbücher haben sich viele Spekulationen eingeschlichen, oft wird dabei zugegeben, dass es sich um Legenden handeln könnte.
Spekulieren ist ja wohl erlaubt, aber das Resultat muss sich einer kritischen Überprüfung stellen.
Dass oft behauptet wird, Eratosthenes habe mit seiner Messung - eventuell sogar als erster! - beweisen wollen, dass die Erde eine Kugel sei, das können wir allerdings getrost beiseite schieben.
Und wenn ich jetzt spekuliere, dann nicht nur, um der historischen Wahrheit vielleicht etwas näher zu kommen, sondern auch um zu zeigen, wie genial diese Erdmessung war.
In ihrer Genialität hat sie auch heute noch einen pädagogischen Wert, und wenn meine Spekulation nicht ganz verkehrt ist, zeigt sie vielleicht sogar die ursprüngliche Idee des Forschers.
Bei Kleomedes hat sie noch einen leisen Nachhall. Was spricht für den oder die Obelisken?
Die standen überall rum, wurden vielleicht zumindest nebenher als öffentliche Sonnenuhren benutzt.
"Jedes bessere Dorf hatte mindestens einen, so wie heutzutage ein Kriegerdenkmal und eine Fußgängerampel".
Aber reduzieren wir unser Bild vom antiken Ägypten nicht zu sehr auf Obelisken, Pyramiden und Mumien?

Was spricht dagegen?
In Syene: Wer wird gerade in der allergrößten Mittagshitze sich einen Obelisken anschauen und feststellen, dass er für einige Minuten keinen Schatten wirft?
Überhaupt: Wenn wir uns die Bauform eines üblichen Obelisken anschauen, stellen wir fest, dass es schwierig bis unmöglich ist, bei mehr als 85° Sonnenhöhe überhaupt einen Schattenwurf der Spitze auszumachen.
Meines Wissens haben typische ägyptische Obelisken die Form eines -allerdings sehr steilen- Pyramidenstumpfs mit aufgesetzter flacher Pyramidenspitze.
Ein Obelisk wirft also nur dann einen Schatten, wenn die Sonnenhöhe deutlich kleiner ist als 90° und seine Spitze wird erst ab einer Sonnenhöhe von weniger als 60° einen Schatten werfen.
Schließlich - und das ist entscheidend - muss man zur Auswertung der Schattenlänge dazu noch die genaue Höhe der Obeliskenspitze kennen.
Also ist ein Obeliskenschatten für die Messung des Eratosthenes völlig unbrauchbar, aber aus der Unterrichtsliteratur ist er nicht herauszuprügeln.

In vielen Publikationen wird denn auch an Stelle eines Obelisken ein Stock, ein "Gnomon" erwähnt, der mittags am 21. Juni in Syene keinen, in Alexandria einen messbaren Schatten wirft.
Auch Kleomedes beschreibt das so.
Aber... auch mit einem Stock der keinen Schatten wirft, lockt man im Winter keinen Hund hinterm Ofen vor und im Sommer keinen Fellachen aus seiner schattigen Unterkunft.
"Guck mal Achmed, sieh mal da! der Stock wirft keinen Schatten, das müssen wir dem Bürgermeister melden!"
Leider ist uns Achmeds Antwort nicht überliefert, sonst würden wir Götz von Berlichingen auf ägyptisch kennen.

Nun steht aber in vielen nachträglichen Zitaten etwas von einem senkrechten Stock, zumindest in Alexandria.
Auch in praktisch allen mittlerweile sehr beliebten Schulversuchen zu diesem Thema wird am 21. Juni mittags (hoffentlich Ortszeit!) ein Meterstock senkrecht auf den Boden gehalten und die Schattenlänge gemessen.


Gnomon

Via Internet wird dann eine Schule in einem Ort südlich oder nördlich kontaktiert: "Was habt Ihr herausgefunden?"
Die Entfernung hat man aus dem Atlas.
Der Rest ist Hausaufgabe: "Erdradius bis morgen!"
Eben - Internet macht's möglich, ist doch ein ganz wichtiger Grund für "Schulen ans Netz!" (bei Wagenschein musste noch die Post herhalten.)
Das ist doch ganz einfach, oder?
Es muss ja auch kein Meterstock sein, es kommt ja nur auf das Verhältnis von Schattenlänge zu Höhe an:
Tangens Alpha, ick hör dir trapsen...
Taschenrechner raus, das haben wir doch gleich!
HALT!
Natürlich hatte Eratosthenes keinen Taschenrechner, aber auch die Winkelfunktionen sind eine viel spätere Erfindung.
Also sollten sich die Schüler etwas anderes überlegen...
Maßstäblich zeichnen und dann den Winkel aus der Zeichnung messend nehmen wird wohl der vernünftigste Vorschlag sein - hoffentlich muss er nicht vom Lehrer kommen!
Ob Eratosthenes es vielleicht auch so gemacht hat?
Hatte er schon einen Winkelmesser?

Aber erst einmal wieder zum Wendekreis, nach Syene.
Liegt übrigens nicht ganz genau auf dem Wendekreis, aber hinreichend genau, jedenfalls so genau, dass man, sollte man um den 21. Juni mittags zum Wasserholen an den Brunnen gehen, aus dem Brunnenschacht geblendet werden konnte.
Wir können sicher sein, dass die Brunnen in Syene damals nicht ausgetrocknet waren!
Auch dass es dort Schachtbrunnen gab, denn das Nilwasser dürfte zumindest zur sommerlichen Hochwasserzeit schon damals ziemlich ungenießbar gewesen sein.

Na, das ist ja nun doch etwas anderes als ein Stock oder ein Obelisk, der keinen Schatten wirft.
Das lässt sich doch vermarkten!
Denken wir doch nur einmal an den Rummel bei der letzten "großen" Sonnenfinsternis!
Ich bin sicher, jedes Jahr um den 21. Juni unseres Kalenders war in Syene großer Markt mit Brunnen-Fête!
"Herbeispaziert! - In den Brunnen gucken! - Nur ein Groschen!"
Das funktionierte sogar einige Tage lang jeden Mittag (heute nicht mehr, die Brunnen sind inzwischen tatsächlich ausgetrocknet, und die heutige Wasserversorgung dort arbeitet nicht mehr so spektakulär).
Da braucht es keinen Obelisken und keinen in die Erde gerammten Stock, die Sonne bringt es von unten zutage, dass sie im Zenit steht!
(Vielleicht ist jetzt der "Gaul mit mir durchgegangen": Ob es in Syene damals überhaupt Schachtbrunen, wie sie uns heute selbstverständlich erscheinen, gegeben hat? Vielleicht hatte man damals nur "Wasserlöcher" gegraben, Gruben bis zum Grundwasserspiegel hinunter, in die man hineinkletterte umd unten das Wasser zu schöpfen. Aber die Tatsache, dass die Sonne am "Sommeranfang" senkrecht über dem Wendekreis steht, und Syene am Wendekreis liegt, das wusste er.)
Dass Kleomedes/Eratosthenes dennoch schreibt, dass der Gnomon unter diesen Umständen keinen Schatten wirft, dient nur zur Erläuterung des folgenden Textes.
Die Durchführung dieser Messung war unnötig.

Und Eratosthenes wusste das natürlich.
Vielleicht hatte er sich früher diese Sehenswürdigkeit selber einmal angeschaut und wenn nicht, dann hockte er etwas griesgrämig in Alexandria, wo solches nun eben nie zu sehen ist.
Zu weit nördlich, dort wirft der Gnomon zwar seinen kürzestmöglichen Schatten, aber er wirft ihn.
Und wohin? Nun ja, in dem Eratosthenes seine Sonnenuhr.


Skaphe (nach Dannemann)

Und die ist kein Brett sondern - Eratosthenes konnte sich das leisten oder ausleihen - und so steht es ausdrücklich bei Kleomedes:
Diese Sonnenuhr ist eine Skaphe, eine Schüssel, eine halbe Hohlkugel, die in ihrer Form das Himmelsgewölbe widerspiegeln soll, als Zentralprojektion über die Spitze des Gnomons mit seiner Mitte im Hohlkugel-Mittelpunkt.

Und dieser Schatten, den die Sonne in die Schüssel wirft, ist so kurz oder lang, dass er sich mit dem Zirkel fünfzigmal auf dem Schüsselrand abtragen lässt.

Und plötzlich die Idee!
Und das ist meine Spekulation zur Ehre des Eratosthenes:
Ich vermute, bis jetzt war es bei ihm reine Routine, eine Messung der größten Sonnenhöhe in Alexandria.
Aber dann ein plötzliches Umklappen - eines M.C.Escher würdig:
Die Hohlkugel Skaphe, in die bisher immer das ebenfalls hohlkugelig gedachte Himmelsgewölbe hineinprojiziert wurde, wird zum konvexen Erdball.
Für beide müssen ja dieselben geometrischen Gesetze gelten!
Dieses Neudenken ist die eigentliche Sensation:
Heureka!
Was für diese hohle Skaphe gilt, gilt genau so für den Erdball mit seiner Wölbung!
So wie sich der Schatten in der Skaphe fünfzig Mal auf dem Umfang abtragen lässt, so lässt sich der Abstand Alexandria-Wendekreis fünfzig Mal auf dem "Erdkreis", dem Meridian durch Alexandria abtragen.

Und das stimmt so einigermaßen:
Messen wir den Abstand Alexandria-Wendekreis im Atlas nach, so kommen wir auf 860 Kilometer,
d.h. der Messfehler des Eratosthenes liegt bei knapp 8%, 47 oder 46 mal im Kreis herum wäre richtiger gewesen.
Oder: Die geographische Breite von Alexandria ist laut Lexikon 31°13', der Wendekreis 23°27',
das gibt eine Differenz von 7¾°, passt also 46½ mal auf den Kreis.
Was soll's?

Wichtig ist jetzt in meinem Unterricht, dass bei dieser Messung und ihrer Beschreibung weder Dreiecksseiten noch Winkelmaße auftreten sondern ausschließlich Bogenlängen.


Beide Bögen - in der Skaphe und auf dem Erdkreis -
sind ein Fünfzigstel des vollen Kreises.

Dies macht die Messung und ihre Auswertung viel durchsichtiger
Kleomedes beschreibt Winkelgesetze um die Richtigkeit der Überlegungen von Eratosthenes zu beweisen, und wir können annehmen, dass auch Eratosthenes in seiner Originalarbeit dies getan hat.
Vielleicht lag sie Kleomedes noch vor?
Die Messung selbst dagegen hatte mit Winkeln in unserem überkommenen Sinn nichts zu tun.
Die immer wieder angeführten 7.2° oder gar 7°12' wären Eratosthenes nie in den Sinn gekommen.
Ich habe übrigens den Eindruck gewonnen, dass die ganze lange umständliche und ermüdende Beschreibung der Grundlagen dieser Messung nur einen Zweck hat:
Diese geniale Idee euklidisch beweisend einem akademisch-kritischen Kollegium gegenüber abzusichern.
Voraussetzung - Behauptung - Beweis.

Auch Kleomedes schreibt am Schluss der weitschweifigen Erklärung als Ergebnis:
"Der Bogen in der Halbkugel der Sonnenuhr wurde als 1/50 seines Kreises gefunden.
Also muss der Abstand von Syene nach Alexandria notwendiger Weise 1/50 des größten Kreises des Erdumfanges betragen.
Diese genannte Entfernung beträgt 5000 Stadien; also misst der größte Kreis 250 000 Stadien.
Dies ist die Methode des Eratosthenes."

Punkt! - 7,2° kommen da nicht vor!

Das Fazit seiner Messung sollte also auch heute noch lauten:
Rund um die Erde ist es 50 mal so weit wie von hier in Alexandria zum Wendekreis, also - und das nur zur Verdeutlichung - nach Syene.
Und erst sekundär ist die Aussage: "Und weil dies 5000 Stadien sind, ist es rund um die Erde 250 000 Stadien."
Und der Streit, wieviele Meter und Zentimeter nun das von ihm gemeinte Stadion hatte, ist eigentlich ein Streit um des Kaisers Bart und damit auch die immer wieder damit verknüpfte Frage, wie genau nun die Messung des Eratosthenes war.
Wenn nicht die irrtümliche oder geschickte Auslegung dieser Angaben, die durch Umdeutungen und Maßverwandlungen während 1½ Jahrtausenden auf 180 000 Stadien (was für welche denn jetzt?) geschrumpft waren, dem Kolumbus die Überzeugungskraft verliehen hätte, links herum nach Ostasien zu kommen, sei kaum weiter von den Azoren weg als der Libanon.

Eigentlich wollte ich an dieser Stelle aufhören, aber dann kam ich nach der Ausarbeitung doch noch einmal ins Grübeln.
Ich hatte doch gesagt, dass das "so einigermaßen" stimmt, die Strecke Alexandria-Wendekreis eigentlich nur 46½ mal auf den Erdkreis passt und ließ das mit einem "Was soll's?" unter den Tisch fallen.



Doch falsch gemessen?

Ja, wieso unterlief dem Eratosthenes dieser eigentlich doch beachtliche Messfehler?
Anscheinend galt Eratosthenes bei seinen Zeitgenossen eher als "Tüpfelischießer" (hochdeutsch: Korinthenkacker).
Er wäre kaum bereit gewesen, nach 46 oder 47 Zirkelschlägen auf 50 "aufzurunden" oder zumindest auf 48, was zahlenmäßig und gedanklich wegen besserer Teilbarkeit sowieso näher gelegen hätte.
Wir können schon davon ausgehen, dass sein abgezirkelter Schatten wirklich fast genau 50 mal auf den Kreisumfang passte, also zu kurz war.
Wenn uns in den Sinn kommt, dass er vielleicht den falschen Tag oder die falsche Uhrzeit (die Sommersonnenwende muss ja nicht um mittags Ortszeit stattfinden!)... - nein, dann hätte der Schatten ja auf jeden Fall noch länger sein müssen.
Stimmen die Breitenangaben im Lexikon nicht mit dem Arbeitsort von Eratosthenes überein?
Na, 60 km südlich vom heutigen Zentrum von Alexandria wird Eratosthenes kaum seine Sonnenuhr aufgestellt haben um sich anschließend mit gutem Gewissen auf Alexandria zu beziehen.
Es scheint doch eher ein systematischer Fehler zu sein, der den meisten heutigen Kommentatoren entgeht.

Fehlermöglichkeit Nr. 0: - Es ist der banale Fehler -
Der Schattenstab stand schief.
Konnte Eratosthenes den Stab auf ein halbes Grad, also 1 Hundertstel Radian genau ausrichten?
Wenn er es konnte, wird er es wohl getan haben.
Wie er es tun konnte, wissen wir nicht.
Vielleicht war auch sonst irgend etwas an der Skaphe krumm?

Fehlermöglichkeit Nr. 1: - Es ist der dumme Fehler -
Eratosthenes hat vom Fußpunkt des Schattenstabs aus gemessen und nicht auf dessen Mittelachse extrapoliert, d.h. die halbe Stabdicke fehlt an seiner Schattenlänge.
Wie gesagt, ein dummer Fehler, meiner Meinung nach zu dumm für Eratosthenes.

Fehlermöglichkeit Nr. 2: Es ist der interessante Fehler -
Denn wenn wir uns fragen: Wie sieht so ein Schatten denn aus? müssen wir zuerst fragen: Wie sah denn der Schattenstab aus?
Wie könnte er ausgesehen haben?
Wie müsste ein idealer Schattenstab für eine Skaphe aussehen?
Ob Eratosthenes das gewusst hat?
Wir sehen gleich: Er wusste es!
(Ein Stab, dessen Durchmesser ein Hundertstel des Radius der Skaphe beträgt, und oben halbkugelig abgerundet ist - Krümmungsmittelpunkt im Mittelpunkt der Skaphenkugel - liefert unter allen Einfallswinkeln einen genauen Kernschattenzeiger, denn der scheinbare Durchmesser der Sonne beträgt ein Hundertstel Radian.)

Möglichkeit Nr. 3: Eben - keine Fehlermöglichkeit, jedenfalls nicht für Eratosthenes:
Er hat wohl richtig gemessen, wir haben aber falsch gedacht!
Wie das nun?
Wenn die Sonne tatsächlich so hoch am Himmel stand, wie Eratosthenes gemessen hat, dann lag damals wohl Alexandria um einen halben Breitengrad näher am Wendekreis als heutzutage.
Na, umgedreht klingt's besser:
Der Wendekreis lag vor über 2000 Jahren näher an Alexandria als heute.

Tatsächlich weiß man heute das damals noch nicht Gedachte:
Die kosmischen Verhältnisse sind längst nicht so unveränderlich stabil.
Nur das langsame Kreiseln der Erdachse im Verlauf eines "platonischen Jahres" (ca. 25800 Jahre) war schon entdeckt worden.
(Dass wir heute einen "Polarstern" haben, ist eine nette Konzession an unser Zeitalter.)
Dass die Erdachse gegenüber der Umlaufebene auch eine periodische "Nickbewegung" ausführt, ist auch heute noch wenig bekannt.
Die Periode beträgt ca. 41000 Jahre und ihre Ausschläge liegen bei 21.9° und 24.3°, Tendenz zur Zeit abnehmend.
(Eine dritte periodische Änderung sei noch erwähnt, in einem Rhythmus von ca. 100 000 Jahren streckt und rundet sich die Erdbahn, was zur Erklärung der Eiszeiten dienen kann. Für unsere Überlegungen ist dies allerdings ohne Belang.)
Dieses Nicken der Erdachse führt nun zu einer periodischen Verschiebung der Wendekreise, also ihres Abstandes voneinander.(Die Lage des Äquators ist von diesen Schwankungen nicht betroffen.)
Aufgrund heutiger Präzisionsmessungen lässt sich die Lage der Wendekreise zur Zeit des Eratosthenes zurückrechnen:
Sie lagen etwa einen halben Breitengrad weiter vom Äquator entfernt!
Aber wir müssen gar nicht so schlaue Präzisionstechnik anwenden denn:
Eratosthenes selber wird die Angabe zugeschrieben:[1]
Der Abstand der Wendekreise voneinander beträgt 11/83 des Erdkreises.
Das wären in gewohnten Maßen 47 3/4°, heute sind es 46°54'.
Wenn wir diese Angabe des Eratosthenes durch 2 teilen, kommt der nördliche Wendekreis bei ihm auf 23 7/8° (23°53') zu liegen, 7¼° südlich von Alexandria, und gerade 20 km - 12 Winkelminuten südlich von Syene (24°05').
Dass der Wendekreis in heutigen Atlanten deutlich abseits von Assuan liegt, die Sonne also dort gar nicht mehr richtig in den Zenit kommt und ganz steil in den Brunnen guckt, dafür kann Eratosthenes wirklich nichts!

Wie Eratosthenes das gemessen hat?
Sicher analog zu den anderen Messungen, indem er die Mittagshöhe der Sonne im Winter gemessen hat und den Unterschied zwischen Sommer und Winter auszählte, mühsam, ohne Winkelmesser, aber präzise!



Doch richtig gemessen!
Die Erdmessung des Eratosthenes stimmt!

Dass es rund um die Erde fünfzigmal so weit ist wie von Alexandria bis zum Wendekreis, das stimmte auf ein halbes Hundertstel.
Und nichts anderes hat Eratosthenes wirklich gemessen und gefolgert.
Der Rest - 5000 Stadien bis Syene - ist offensichtlich geschätzt, ebenso war die Annahme, dass Syene südlich von Alexandria liegt "über den Daumen gepeilt".
Eratosthenes wusste als Geograph, wie schwierig und unsicher solche Angaben zu seiner Zeit noch waren.
Darauf beckmesserisch herumzureiten und zu überlegen, wie falsch er doch lag oder nach dem "richtigen" Stadion zu wühlen, damit es möglichst genau mit unseren GPS-Kilometern übereinstimmt - lassen wir das doch!

Die Messung von Eratosthenes war die erste zuverlässige Absolutbestimmung eines kosmischen Maßstabs.
Wichtig besonders, weil er vom Erdumfang auf den Erddurchmesser schließen konnte und damit die Grundlage zu einer ersten absoluten Größen- und Entfernungsbestimmung für Sonne, Mond und Erde gegeben war.
Bis dahin hatten die griechischen Wissenschaftler nur relative Verhältnisse erkennen können.
Sie war also ein enormer Fortschritt, und die Angabe des Eratosthenes blieb auf 1900 Jahre die beste.
Erst 1671 wurde durch Jean Picard eine genauere Messung durchgeführt.

Die geniale Idee machte die Auswertung einfach - aber diese Genialität kommt in jeder Unterrichtsliteratur zu kurz, und das nur deswegen, weil man nicht den authentischsten Quelltext kennt und kritisch auswertet.

Sondern, wie der bissige Kommentar eines Kenners der Szene lautet:

"Die Lehrbuchautoren schreiben doch nur voneinander ab!"

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Dies ist der Text eines Vortrags bei der Tagung der Fachsektion Geschichte der Mathematik der Deutschen Mathematiker-Vereinigung in Attendorn/Neu-Listernohl vom 28. Mai bis 1.Juni 2003

Er ist zudem abgedruckt in "Astronomie+Raumfahrt in der Schule", Nr.4/05, S. 27-30. ( (Friedrich Verlag, Seelze)
Der Kleomedes-Text ist hier zugänglich unter Balss.htm




[1] Diese Zuordnung wird verschiedentlich angezweifelt. Berichtet wird sie von Ptolemaios, und oft wird sie so interpretiert, als sei Ptolemaios auch für die Durchführung der Messung selber verantwortlich.
Ich vermute dagegen, dass Ptolemaios, wäre sie seine eigene Messung, das ihm längst vertraute Winkelmaß angegeben hätte und nicht diesen verzwickten Bruch.
Sollte allerdings diese genaue Messung erst zu Ptolemaios Zeiten möglich gewesen sein, wäre die eigentliche Angabe des Eratosthenes (1/50 des Kreisbogens) noch treffender ausgefallen, denn seitdem hatte sich ja der Wendekreis noch ein wenig weiter nach Norden verschoben!
Dass andererseits Eratosthenes noch den eher mythisch-kabbalistisch begründeten Abstand des Wendekreises vom Äquator zu 1/15 des Kreisbogens unkritisch übernommen hätte, glaube ich wiederum nicht. Übrigens werden die 5000 Stadien für den Abstand Alexandria-Syene auch gelegentlich als ein solches Zahlenpostulat interpretiert.
Es gibt viele weitere Ungereimtheiten, z.B. dass Strabo angibt, Eratosthenes habe den Erdumfang auf 252000 Stadien bestimmt, womit sich ein Breitengrad zu genau 700 Stadien ergeben würde - andererseits war die Gradeinteilung des Kreises dem Eratosthenes wahrscheinlich noch gar nicht geläufig... Schließlich stritten sich die Philologen auch um Differenzen verschiedener Abschriften und Interpretationen des Kleomedes-Textes.
Ich möchte hier nur festhalten, welche Interpretation ich für den Physikunterricht und auch darüber hinaus für sinnvoll halte. Dass es so möglich war, und viele andere Darstellungen einfach unmöglich und auch unnötig sind, heißt aber nicht, dass ich meine, es müsse so und könne nicht irgendwie doch ganz anders stattgefunden haben!
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